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Die Corona-Pandemie verändert weltweit gesellschaftliche Machtverhältnisse. Auch die organisierte Kriminalität ist davon betroffen. Die Schließung nationaler Grenzen, die Einschränkungen der Reisemöglichkeiten und des Flugverkehrs bedrohen organisierte kriminelle Gruppen und Syndikate durch die Unterbrechung ihrer internationalen Lieferketten in ihrer Existenz. Drogenkartelle erfahren Einbußen auf dem Absatzmarkt. Sie haben Schwierigkeiten, chemische Bestandteile aus China zu importieren, die für die Drogenherstellung notwendig sind. Auch etablierte Praktiken wie Schmuggel auf bisherigen Drogenrouten und die Korrumpierung von Schlüsselpersonen für den Handel von Drogen und Menschen sind durch die Corona-Maßnahmen gestört.

Seit Ausgangssperren verhängt wurden, verzeichnen einige Länder in Lateinamerika und der Karibik einen deutlichen Rückgang der Mordraten. Das ist eine erfreuliche Nachricht für die betroffenen Länder. Doch da dieser Rückgang auf die temporären Ausgangssperren zurückzuführen ist, dürfte er nicht von Dauer sein. In Kolumbien dagegen nutzen bewaffnete Gruppen die eingeschränkte Mobilität der Bewohner sogar aus: Seit Beginn der Krise gab es 28 Attentate auf Menschenrechtsaktivisten. Die Verfolgung und Ermordung von Aktivisten ist in Kolumbien nicht neu, doch Attentäter nutzen nun die Ausgangsbeschränkungen – man weiß, wo die Opfer anzutreffen sind: zuhause.

Andererseits aber haben kriminelle Akteure, Gruppen und Kartelle durch Innovationen, eine hohe Anpassungsfähigkeit und unternehmerischen Überlebensdrang schnell neue Möglichkeiten aufgetan. Sie nutzen die Krisenzeit gar geschickt, um sich als altruistische Wohltäter zu inszenieren und ihre lokalen Machtstrukturen zu festigen. Es ist zu erwarten, dass die organisierte Kriminalität auf längere Sicht von der Krise profitiert.

Kriminelle Banden haben im Zuge der Corona-Krise die Zusammenarbeit mit der verunsicherten und wirtschaftlich bedrohten Bevölkerung intensiviert. Die langfristigen Auswirkungen dürften gravierend sein.

Die Fähigkeit, sich schnell und effektiv anzupassen, ist ein darwinistisches Credo krimineller Banden. Der Unternehmergeist krimineller Organisationen zeichnet sich in der Corona-Krise beispielsweise durch den Diebstahl und Handel von medizinischem Material wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Covid- 19-Tests ab. Auch die Herstellung von Desinfektionsmittel mit wirkungslosen Inhalten und der Handel mit Medikamenten, die angeblich gegen das Coronavirus eingesetzt werden können, zeugen davon. Um den Handel mit Drogen weiterzuführen, entstanden innovative Angebote wie ein Lieferservice nach Hause. Neue Schmuggelrouten wurden schnell identifiziert oder wiederbelebt, so im nördlichen Kolumbien durch indigene Dschungelgebiete nach Panama.

 

Kriminelle Banden haben im Zuge der Corona-Krise zudem die Zusammenarbeit mit der verunsicherten und wirtschaftlich bedrohten Bevölkerung intensiviert. Die langfristigen Auswirkungen dürften gravierend sein. So haben in mehreren Ländern Lateinamerikas Gangs und Drogenkartelle informelle Hilfsprogramme ins Leben gerufen, um durch die Pandemie vor dem wirtschaftlichen Ruin stehenden Menschen zu helfen, die von den Behörden wenig oder gar keine Hilfe erhalten haben. In Mexiko, Brasilien und El Salvador verhängten Drogenkartelle und Banden Ausgangssperren und setzten diese unter Androhung von Gewalt auch um. Über soziale Medien verschicken sie Informationen zu Verhaltensregeln.

Im Internet kursieren Fotos von Kartons mit Lebensmitteln und Alltagsgegenständen, die mexikanische Drogenkartelle an die Bevölkerung verteilten. In Teilen Italiens bietet die Mafia Unternehmen und Restaurants, die vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen, finanzielle Unterstützung an. In Neapel und Palermo liefert die Mafia Lebensmittel an Bewohner direkt nach Hause. So gewinnen sie die Gunst derjenigen, die von Corona-Maßnahmen eingeschränkt sind und sich selbst nicht versorgen können. Clanmitglieder nutzen die Beschaffung von Lebensmitteln als Alibi, um in ihren Vierteln Präsenz zu zeigen und den Drogenhandel weiterzuführen. Gleichzeitig bieten sie Personen und Läden finanzielle Unterstützung an, deren Existenz bedroht ist und die staatliche Hilfen nicht rechtzeitig erreichten. In Japan nutzen kriminelle Organisationen der Yakuza ebenfalls die Chance, ihr soziales Ansehen zu steigern, indem sie Masken, Desinfektionsmittel und Toilettenpapier an Apotheken und Kindergärten verschenken.

In vielen Fällen regieren kriminelle Banden, Mafiastrukturen und Kartelle keineswegs in Abwesenheit oder anstelle des Staates. Sie stehen vielmehr in einem ambivalenten, ineinander verwobenen Zusammenspiel mit ihm.

Diese Hilfsangebote organisierter Banden haben Auswirkungen auf mehreren Ebenen. Der Forschung zufolge können sich solche Banden etablieren, die fähig sind, sich wirtschaftlich anzupassen und in ihren Gemeinden eine soziale Rolle zu übernehmen. Sie verstehen sich als Beschützer der lokalen Bevölkerung ebenso wie als Arbeitgeber. Sie fungieren in informellen Rechtssystemen gleichermaßen als Strafverfolger und Richter. Ergreifen kriminelle Banden die Möglichkeit, sich um Gemeinden zu kümmern, wird dieses Phänomen oft mit der Schwäche eines Staates oder dem Versagen seiner Institutionen in Verbindung gebracht. Doch in vielen Fällen regieren kriminelle Banden, Mafiastrukturen und Kartelle nicht in Abwesenheit oder anstelle des Staates. Sie agieren vielmehr in einem ambivalenten, ineinander verwobenen Zusammenspiel mit ihm.

Kriminelle Banden stehen oft in einem Verhältnis der Komplizenschaft, wenn nicht gar in einer symbiotischen Beziehung zu den staatlichen Autoritäten und koexistieren und kooperieren mit ihnen in unterschiedlichen Formen. Zwar hat das Narrativ, sich gegen Staatsversagen zu wehren, einen mobilisierenden Charakter. Das zeigt der Fall von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, dessen Verharmlosung der Pandemie kriminellen Banden in die Hände spielte. Doch in anderen Fällen setzen die Banden auch die Anordnungen der Regierung um. Kriminelle Gruppen wie Banden und die Mafia können sich als altruistische Wohltäter inszenieren und in Not geratenen Menschen tatsächlich helfen.

Kriminelle Banden und Drogenkartelle könnten über die aktuelle Pandemie hinaus von der Krise profitieren. Erstens drängt ihr unternehmerischer Überlebensdrang sie derzeit zur Innovation, um neue Einkommensquellen zu erschließen – diese könnten sich langfristig etablieren. Die prophezeite Wirtschaftskrise wird ebenfalls der organisierten Kriminalität in die Hände spielen. Kriminelle Banden können von der allgemeinen Unzufriedenheit und Frustration profitieren, indem sie sich als Verbündete der lokalen Bevölkerung inszenieren und somit ihre Rolle als selbsternannte Vertreter eines Viertels oder Stadtteils legitimieren. Sie werden versuchen, Arbeitslose und sozial schwache Familien in ihr (Sozial-)System einzubinden. Dabei agieren sie in manchen Fällen auch als Arbeitgeber – ganz abgesehen von den vielseitigen Möglichkeiten einer kriminellen Karriere im Drogenhandel, Prostitution oder Schutzgelderpressung – und locken mit Jobs in legalen NGOs und (Bau-) Firmen, die beispielsweise Gebäude und Straßen errichten.

Zudem nutzen sie die Möglichkeit aus, die lokale Bevölkerung in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ziehen. Denn die Durchsetzung der Corona-Ausgangssperren zum Schutze der Bevölkerung und die Verteilung von Hilfsgütern, Lebensmitteln und Finanzspritzen sind nicht als altruistische Geschenke zu verstehen. Die Banden binden Familien und Betriebe in ihre Machenschaften ein. Später werden sie ihren Tribut einfordern – auch mit Gewalt. Gleichzeitig kann die Selbstinszenierung als fürsorgliche Robin Hoods ihr soziales Ansehen steigern. Sie hat Auswirkungen auf die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Bereitschaft der Bevölkerung, die Banden und ihre kriminellen Machenschaften zu decken. In dem so entstehenden Machtgefüge, das sowohl auf der Verbreitung von Angst und der Androhung von Gewalt als auch auf sozialem Engagement basiert, können Banden und Kartelle relativ ungehindert agieren. Sie weben ein Netzwerk von Beziehungen aus gegenseitigen Abhängigkeiten, Solidarität und Formen sozialen Einflusses. Normale Bürgerinnen und Bürger werden zu Komplizen. Denn auch wenn kriminelle Banden, die Mafia oder Drogenkartelle in Not geratenen Personen helfen: Sie sind und bleiben Wölfe im Schafspelz.