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Türkei

Auch in der Türkei wurde die Corona-Krise viel zu lange ignoriert. Wie in vielen autoritär regierten Ländern gab es keine transparente Reaktion der politisch Verantwortlichen auf den Ausbruch. Im Gegenteil: Kritische Berichte in den sozialen Medien wurden gelöscht und die Autoren verhaftet – sie würden Unruhe in der Bevölkerung stiften. Zunächst wurde argumentiert, jeder solle für seine eigene Quarantäne sorgen, der Staat sei nicht verantwortlich. Somit gerieten vor allem abhängig Beschäftigte in ein Dilemma: Erscheinen sie nicht zur Arbeit, verlieren sie ihren Job. Gehen sie zur Arbeit, riskieren sie ihre Gesundheit.

Mit steigenden Fallzahlen aber änderte sich die Haltung der türkischen Regierung. Inzwischen wurden massive Maßnahmen ergriffen, um das Virus einzudämmen. Auch in der Türkei ist dementsprechend das öffentliche Leben inzwischen weitgehend zum Stillstand gekommen. Zunächst wurden Ausgangssperren für Menschen über 65 Jahre verhängt. Am Wochenende kündigte Präsident Erdogan an, dass ab sofort auch junge Menschen unter 20 Jahren eine Ausgangssperre einzuhalten haben. Zugverbindungen wurden eingestellt, es gilt ein international wie national weitgehendes Flugverbot und auch Fernbusse dürfen nicht mehr fahren. In 31 größere Städte darf man inzwischen zudem auch im Privatfahrzeug nicht hinein- oder herausfahren. Das Tragen eines Mundschutzes ist in allen Geschäften und auf Märkten verpflichtend.

Die Zahl der Infizierten betrug am Sonntag 27 069, die Zahl der Toten lag bei 574. Mit Abstand am stärksten betroffen ist mit knapp 9 000 Infizierten Istanbul. Inzwischen werden täglich die aktuellen offiziellen Zahlen vom Gesundheitsminister via Twitter veröffentlicht. Allerdings wurden bislang erst 181 445 Tests durchgeführt. Daher gibt es eine große Anzahl nicht erfasster Fälle von Infizierten wie auch Toten. Zunächst wurden nur wenige staatliche Krankenhäuser damit betraut, sich um Corona-Patienten zu kümmern. Schnell waren diese völlig überlastet. Ärztinnen und Ärzte in diesen Krankenhäusern sprechen von einer sehr viel höheren Infektionsrate und chaotischen Zuständen. Sie warnen vor einer drohenden Katastrophe im Gesundheitswesen

Große Sorge bereiten die völlig überfüllten Gefängnisse. Sollte sich das Virus dort ausbreiten, hätte dies furchtbare Folgen. Deshalb hat die Regierung eine Amnestie für einzelne Straftäter beschlossen. Die Opposition und die Zivilgesellschaft kritisierten, dass ausgerechnet politische Häftlinge und auch Journalisten von dieser Amnestie ausgenommen wurden.

Was weder der Westen noch andere im Syrien-Konflikt beteiligte Kräfte bislang vermochten, hat das Virus geschafft: Das türkische Militär will sich aus Angst vor einer Ansteckung seiner Soldaten weitgehend aus Syrien wie auch Libyen zurückziehen. Die Bewegungen der Soldaten im Nachbarland sollen auf ein Minimum reduziert und Patrouillen nur noch in den allernotwendigsten Fällen durchgeführt werden.

Die Wirtschaft in der Türkei dürfte noch weitaus stärker von den Auswirkungen des Virus getroffen werden als in anderen Ländern. Der Tourismus, der nach den Terroranschlägen, dem Putschversuch und den politischen Spannungen mit dem Westen gerade erst wieder aufgeblüht war, ist vollständig zum Erliegen gekommen. Die Arbeitslosigkeit explodiert, und dem Staat fehlen Ressourcen um gegenzusteuern. Der Appell des Staatspräsidenten an die Bevölkerung, mit privaten Spenden die gravierenden sozialen Auswirkungen der Krise zu bekämpfen, erntete vor allem Spott. Es entsteht der Eindruck, dass nicht wie in anderen Ländern der Staat für die Bürgerinnen und Bürger sorgen will und soll, sondern dass in der Türkei das Volk nun auch noch den Staat retten müsse.

Tschechien

In Tschechien hat die von Ministerpräsident Andrej Babiš geführte Regierungskoalition unter Beteiligung der Sozialdemokraten sehr früh auf die drohende Gefahr der Verbreitung des Covid-19 reagiert: Bereits Anfang Februar wurde der Flugverkehr zwischen China und Tschechien eingestellt und Ende Februar eine Reisewarnung für die vom Corona-Virus stark betroffenen Gebiete in Norditalien gegeben, die kurz darauf in eine Quarantänepflicht für Rückreisende aus diesen Gebieten mündete. Am 12. März wurde ein 30-tägiger Notstand ausgerufen. Die meisten Schulen und Kindergärten waren da schon geschlossen.

Danach ging alles Schlag auf Schlag: Schließung aller Restaurants sowie aller nicht für die Grundversorgung nötigen Geschäfte, Verordnung einer landesweiten Ausgangssperre, die nur noch Wege zur Arbeit, Apotheke und Lebensmittelgeschäften sowie zu Älteren und anderen Hilfsbedürftigen (mit Ausnahme von Krankenhäusern, Pflege- und Altersheimen) erlaubt, Pflicht Mundschutz außerhalb der eigenen Wohnung zu tragen, Einführung spezieller Einkaufszeiten für ältere Menschen. Derzeit ist das Pilotprojekt „smarte Quarantäne“ zur Nutzung von Handydaten angelaufen. Über Funkzellenabfragen und Daten von Bezahlkarten sollen all jene Menschen ermittelt werden, die in Kontakt mit Covid-19-Erkrankten standen und innerhalb weniger Stunden von einem Testteam auf das Virus untersucht werden. Sollte das Pilotprojekt in Südmähren erfolgreich sein, könnte es nach Ostern auf das ganze Land ausgedehnt werden.

Auch bei der Schließung der Grenzen war Tschechien vorneweg. Tschechische Staatsbürger und Ausländer mit Daueraufenthalt dürfen ihr Land bis auf weiteres nicht mehr verlassen. Tschechische Pendler können ausreisen, wenn sie mindestens drei Wochen im Ausland bleiben und müssen bei Rückkehr in die Heimat in eine 14-tägige Quarantäne. Ausnahmeregelungen bestehen für medizinisches Personal.

Diese frühen restriktiven Maßnahmen könnten gewirkt haben: Laut Johns Hopkins University sind von den 10,6 Millionen Einwohnern bis zum 6. April insgesamt 4 591 erkrankt, 72 gestorben und 96 wieder gesund. Auf die Bevölkerungszahl bezogen sind dies signifikant weniger Erkrankte als in Deutschland, wobei zu berücksichtigen ist, dass in Tschechien vermutlich deutlich weniger Tests durchgeführt werden. Die weiter steigenden Fallzahlen sind eine große Herausforderung für das unterversorgte Gesundheitssystem. Nur 7,5 Prozent des BIPs fließen in den Gesundheitssektor. Wegen niedriger Gehälter suchen viele Mediziner und Pfleger eine Beschäftigung im europäischen Ausland.

Doch der Shut-down wird das exportorientierte Land in eine tiefe wirtschaftliche Krise stürzen. Fachleute rechnen mit einem wirtschaftlichen Einbruch von vier bis zehn Prozent.

Die wirtschaftliche Lage in Tschechien war bislang gut: Die Wachstumsraten haben sich in den vergangenen Jahren zwischen zwei und drei Prozent bewegt, die Verschuldungsrate ist mit 32 Prozent die viertniedrigste und die Arbeitslosigkeit mit 2 Prozent die niedrigste in der EU. Doch der Shut-down wird das exportorientierte Land in eine tiefe wirtschaftliche Krise stürzen. Fachleute rechnen mit einem wirtschaftlichen Einbruch von vier bis zehn Prozent. Die tschechische Krone hat bereits um 8 Prozent gegenüber dem Euro nachgegeben.

Die sozialdemokratische Arbeitsministerin hat ein „Antivirus“-Paket vorgelegt. Danach erhalten die Arbeitnehmer ein Kurzarbeitergeld, die Arbeitgeber einen maximalen staatlichen Zuschuss von 80 Prozent. Da Tschechien nach wie vor zu den Niedriglohnländern zählt und die überwiegende Anzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits vor der Krise ein Einkommen bezogen haben, mit dem sie nur knapp ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnten, wird dieses Kurzarbeitergeld viele in ernsthafte Existenzprobleme stürzen. Die Arbeitslosigkeit könnte auf acht Prozent steigen. Für Unternehmen wurde das „COVID-Programm“ verabschiedet und damit kleinen und mittleren Unternehmen zinslose Kredite zur Verfügung gestellt sowie Gewerbetreibenden ohne Einnahmen eine geringfügige einmalige Unterstützung zugesprochen.

Die Gewerkschaften sind in den Debatten um geeignete Maßnahmen zur Krisenbekämpfung relativ stark vernehmbar. Auch bei dem neu einberufenen wirtschaftspolitischen Expertengremium, das die Regierung beraten soll, ist der Dachverband ČMKOS vertreten. Er legt Wert auf möglichst großzügige Ausgestaltung der Kurzarbeit und allgemeine Aufrechterhaltung der Kaufkraft der Bevölkerung, spricht sich für das Aussetzen von Kreditrückzahlungen aus und plädiert für die Verhinderung von üblichen hohen Kapitalabflüssen ins Ausland zur Deckung der zusätzlichen Kosten.

Ministerpräsident Andrej Babiš geriert sich als europäischer Vorreiter bei der Corona-Bekämpfung. Grundsätzlich hat die Bevölkerung alle eingeführten Maßnahmen ohne große Kritik hingenommen, aber seine Kritikerinnen und Kritiker bemängeln ein fehlerhaftes Krisenmanagement. Viele trauen ihm nicht zu, diese Krise in den Griff zu bekommen. Seit Anfang April ist Innenminister Jan Hamáček Chef des Krisenstabs. Er ist Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei. Ob die Sozialdemokraten daraus politisches Kapital schlagen können oder in Mithaftung für teils missglücktes Krisenmanagement des ohnehin sehr polarisierenden Babiš gezogen werden, bleibt abzuwarten. Bekommt Tschechien die Krise nicht in den Griff, hätte Ministerpräsident Babiš einen Buhmann.

Den Ruf nach europäischer Solidarität zwischen Nord und Südeuropa hat Tschechien nicht weiter kommentiert. Auch wenn das Land derzeit kein Musterknabe in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist: Solidarität für die Betroffenen muss es auch zwischen West und Ost geben, gerade weil die Wertschöpfungsketten hier besonders stark miteinander verknüpft sind.

Tansania

Mit der offizellen Bestätigung der ersten Corona-Infizierten am 16. März rief die tansanische Regierung unter Präsident John Magufuli zu „Social distancing“ auf und erließ mehrere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus: Verbot öffentlicher Veranstaltungen und Schließung von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten für 30 Tage; Begrenzung der Höchstzahl an Passagieren in den „Daladalas“, dem primären Fortbewegungsmittel in der Stadt und auf dem Land; verschärfte Hygienevorschriften und Handwaschpflicht allerorten. Auch das Uhuru Torch Race, ein öffentlich zelebrierter landesweiter Fackellauf und nationales Symbol der Unabhängigkeit, wird zum ersten Mal seit 1961 ausgesetzt.

Aber: Märkte und religiöse Einrichtungen bleiben von derlei Beschränkungen gänzlich ausgenommen. Magufuli räumt dem Glauben gar eine zentrale Rolle in der Virusbekämpfung ein und ermuntert dazu, weiterhin zahlreich in Sonntagsmessen und Freitagsgebete zu strömen, um göttliche Unterstützung zu erbitten. Wohlgemerkt kurz vor den Ostermessen und völlig ungeachtet der Tatsache, wie sehr dies zur Ausbreitung  in anderen Ländern wie Südkorea beigetragen hat. Jenes Gottvertrauen steht sinnbildlich für eine zwiespältige Politik, die bestimmte Gefahrendherde zu schließen versucht, andere aber wissentlich zulässt.

Präsident Magufuli räumt dem Glauben eine zentrale Rolle in der Virusbekämpfung ein und ermuntert dazu, weiterhin zahlreich in Sonntagsmessen und Freitagsgebete zu strömen.

Mit derzeit 22 Fällen auf dem tansanischen Festland und den zugehörigen teilautonomen sansibarischen Inseln findet sich das Land am unteren Ende der weltweiten und im Mittelfeld der afrikanischen Infizierungsskala wieder. Die Regierung setzt darauf, die Situation als kontrolliert darzustellen und stützt sich dabei auf die niedrigen offiziellen Fallzahlen. Wie auch in anderen Ländern werden diese allerdings durch die geringe Zahl der durchgeführten Tests relativiert. Diese liegen gerade einmal im mittleren dreistelligen Bereich – in einem Land mit der Bevölkerungszahl Italiens. Im Rahmen einer afrikaweiten Spende der Stiftung des chinesischen Unternehmers Jack Ma erreichten Tansania 100 000 Schutzmasken, 1 000 Schutzanzüge sowie 20 000 Testkits – gleichsam Indikator für unzureichende Schutz- und Testausstattung im Land wie auch für chinesische Soft Power auf dem Kontinent.

Während einige der ostafrikanischen Nachbarstaaten wahlweise Kontaktbeschränkungen und strikte Ausgangssperren verhängten, wählt Tansania einen deutlich milderen Ansatz. Ganz augenscheinlich wiegt die Sorge vor den negativen wirtschaftlichen Konsequenzen weitreichender Beschränkungen schwerer als vor der Pandemie selbst. Nicht zufällig verkündete Magufuli öffentlich, man werde sich durch das Virus nicht vom Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung abbringen lassen, alle müssten dafür nun weiter hart arbeiten. Der Tourismus, einer der zentalen Wirtschafts- und Beschäftigungssektoren und obendrein primäre Devisenquelle, ist eingebrochen und wird sich ob der globalen Lage zumindest in diesem Jahr kaum erholen. Härtere politische Maßnahmen würden die wirtschaftliche Situation zusätzlich verschärfen und unter anderem auch den Bausektor treffen, der ganz erheblich zu den hohen wirtschaftlichen jährlichen Wachstumszahlen von durchschnittlich 6-7 Prozent des BIP beiträgt. Die wirtschaftliche Industrialisierung bleibt das Kernelement und politsche Versprechen der Präsidentschaft Magufulis, der sich im Oktober der Wiederwahl stellt – dahinter muss eine so weit- und potenziell folgenreiche Pandemie wie das Coronavirus (vorerst noch) zurückstecken.

Ohnehin ist der gesellschaftliche Blick auf das Virus fatalistischer als in den Ländern des globalen Nordens. Das mag in einem Land, in dem laut WHO jährlich nach wie vor schätzungsweise rund 20 000 Menschen allein an Malaria sterben, kaum verwundern. Überdies ist die Bevölkerung außerordentlich jung – die Hälfte ist unter  18 – was wesentlich in die Risikobewertung durch die Regierung und deren Abwägung weiterer  Maßnahmen einfließt.

Über akute Krisenvorsorge und -management der Regierung hinaus sind die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu bedenken. Rund 85 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Tansania verdient den Lebensunterhalt ihres Haushalts in informeller und prekärer Beschäftigung – als Tagelöhner und Kleinsthändler ohne jegliche Rücklagen und soziale Absicherung. In ihrer äußerst vulnerablen sozioökomischen Lage sind sie mit zwei Übeln konfroniert: Beschließt die Regierung Kontakt- und Ausgangssperren und setzt diese rigoros durch, werden sie von einem auf den anderen Tag ihrer Überlebensgrundlage beraubt und müssen den Hungertod fürchten. Bleiben derlei Maßnahmen aus, sind sie durch unzureichende Fließwasserversorgung in dicht besiedelten  Siedlungen, fehlende oder unerschwingliche Schutzbekleidung sowie auf überfüllten Märkten und in Bussen in höherem Maß einer Infizierung ausgesetzt.

Der externe Schock des Coronavirus führt die Anfälligkeit eines Entwicklungsmodells vor Augen, in dem weitreichende soziale Sicherung und Unterstützung für die ärmsten Bevölkerungsschichten nicht als elementarer Bestandteil wirtschaftlicher Förderung und Nivellierung sozialer Ungleichheit vorgesehen ist. Es besteht die ganz akute und reelle Gefahr, dass die Erfolge der letzten Dekade in der Reduzierung relativer Armut durch die Pandemie und eine darauffolgende langfristige globale Rezession ausgebremst, möglicherweise gar rückgängig gemacht werden. Der Trend wachsender sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten droht sich durch das Coronavirus weiter zu verschärfen.