Die Corona-Krise hat die Verletzlichkeit unseres weit überproportional auf Exporte setzenden Wirtschaftsmodells nachdrücklich demonstriert. Wir sollten diese Beobachtung zum Anlass nehmen, über eine graduelle Ausbalancierung unserer Ökonomie nachzudenken. Eine Stärkung der Binnennachfrage – neben den Exporten der zweite Treibstoff unserer Wirtschaft – wäre über höhere Löhne und Staatsausgaben mühelos zu organisieren. Sie würde nicht nur uns nutzen, sondern auch Solidarität gegenüber unseren Partnern zeigen.
Deutschlands Exporte sind im letzten Jahr um 9,3 Prozent gesunken – der größte Rückgang seit 2009 – und damit maßgeblich für den Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung um fünf Prozent verantwortlich. Selbst der in der Corona-Krise so hart gebeutelte Dienstleistungsbereich wies nicht solche Defizite auf, von der soliden Baukonjunktur und den entschlossen expandierenden Staatsausgaben ganz zu schweigen.
Unser Wirtschaftsmodell gerät in der Krise gleich von zwei Seiten unter Druck: auf der Angebotsseite durch kollabierende Lieferketten und auf der Nachfrageseite durch den massiven Rückgang der Bestellungen aus dem Ausland. Mit einer Exportquote von 43,5 Prozent im Jahr 2020 trifft Deutschland diese Problematik viel stärker als andere große Industrieländer wie China (18,4 Prozent), Japan (16,4 Prozent) oder die USA (12,9 Prozent).
Zwar werden die Exporte 2021 durch die aufgestaute Nachfrage wieder deutlich steigen, aber die Zukunftsperspektiven sind trotzdem düster. Die beiden wichtigsten deutschen Exportmärkte, China und die USA, steuern auf einen Systemkonflikt zu, in dem es Deutschland in Zukunft nicht mehr problemlos möglich sein wird, mit beiden Seiten im heutigen Umfang Handel zu treiben. In den anderen bedeutenden Exportmärkten sieht es nicht viel besser aus: Der Austausch mit Großbritannien bricht durch den Brexit ein, die seit zehn Jahren anhaltende wirtschaftliche Misere Südeuropas wird durch die Pandemie noch verstärkt.
Die beiden wichtigsten deutschen Exportmärkte, China und die USA, steuern auf einen Systemkonflikt zu.
Am fernen Horizont drohen noch weitere Gefahren. Wir sehen bereits seit einigen Jahren eine strukturelle Stagnation des Prozesses der Globalisierung. Insbesondere im für Deutschland überproportional bedeutsamen Güterhandel gibt es seit der globalen Finanzkrise sogar einen Rückgang in Relation zur Wirtschaftsleistung, so eine jüngst erschienene Studie des Prognos-Instituts und der BayernLB. Und innerhalb des Güterhandels behaupten sich vor allem die Konsumgüter – nicht die für Deutschlands Maschinenbau besonders wichtigen Investitionsgüter.
Nur im Dienstleistungshandel und bei Datenströmen – beides quantitativ bisher für Deutschland eher zu vernachlässigen – vertieft sich die Globalisierung noch weiter. Das Prognos-Institut und die BayernLB haben schon alleine daraus geschlossen, dass die viel zu stark exportorientierte deutsche Wirtschaft nun ein neues „Geschäftsmodell“ benötige – von der tiefen Strukturkrise der deutschen Automobilindustrie und deren Fokus auf Verbrennermotoren mal ganz abgesehen.
Die ausgeprägte Exportorientierung der deutschen Wirtschaft ist allerdings nicht nur in Zukunft wegen ihrer Abhängigkeit von internationalen Entwicklungen sehr riskant, sondern war auch in den letzten Jahren schon ziemlich ineffizient, trotz solider Wachstumsraten. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, helfen neue Ergebnisse der Forschung über Wachstumsmodelle, wie sie etwa von Lucio Baccaro, dem Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, vorgelegt wurden. Baccaro zeigt, dass es einen gravierenden Interessenkonflikt zwischen den exportorientierten Sektoren der Wirtschaft – in denen etwa ein Viertel der Beschäftigten tätig sind – und den binnenmarktorientierten Sektoren gibt, die immer noch den Großteil der Beschäftigung stellen.
Der Nachteil eines klar exportlastigen Wachstumsmodells für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung liegt darin, dass wegen der für den Export preissensibler Güter notwendigen Lohnmäßigung die Binnennachfrage relativ schwach ausfallen muss. Es gibt hier einen klaren Zielkonflikt zwischen Konsum und (preissensiblen) Exporten. Ein extremes Exportmodell ist daher notwendig mit Phänomenen wie Lohnmäßigung und fiskalischer Austerität verknüpft. Bei preissensiblen Exporten würde eine Stimulierung der Binnennachfrage – etwa über höhere Löhne oder über kreditfinanzierte Investitionen – ansonsten dafür sorgen, dass diese Ausfuhren einbrächen, da sie zu teuer werden.
Die ausgeprägte Exportorientierung der deutschen Wirtschaft ist nicht nur wegen ihrer Abhängigkeit von internationalen Entwicklungen sehr riskant.
Ganz besonders betroffen von der Lohnmäßigung in extremen Exportmodellen sind jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in einfachen Dienstleistungen (beispielsweise in der Logistik oder Gastronomie) arbeiten. Durch die Auskopplung solcher Dienstleistungen aus Industrieunternehmen und Tarifverträgen – und der damit einhergehenden Lohnreduktion – konnten die hochqualifizierten Arbeitnehmer in den deutschen Exportbranchen bisher überzeugt werden, sich mit mäßigen Lohnsteigerungen (in Relation zur Produktivitätsentwicklung) zufriedenzugeben, da ihre Kaufkraft trotzdem gleich blieb oder sogar stieg.
Ein balanciertes Wachstumsmodell vermeidet diese Probleme weitgehend. Es stimuliert die Wirtschaft sowohl über die Binnennachfrage als auch über die Exporte. Hier sind also neben starken Exporten auch durchgehend solide Löhne und hohe staatliche Ausgaben machbar. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Exporte vergleichsweise wenig preissensitiv sind, also in erster Linie auf einer sehr hohen Produktqualität beruhen, bei der Preisunterschiede vergleichsweise wenig ins Gewicht fallen.
Die OECD beobachtet allerdings eine deutlich wachsende Tendenz der deutschen Wirtschaft, ihre Exporterfolge nicht mehr dominant über Produktqualität, sondern zunehmend auch über Preiszurückhaltung zu erreichen – im Gegensatz zu früheren Perioden, wo eher Innovationen (gemessen etwa über die Zahl der Patentanmeldungen) für solche Erfolge gesorgt hatten.
Diese Befunde wurden von Sebastian Dullien, Heike Joebges und Gabriel Palazzo jüngst bestätigt. Auch diese betonen die zunehmende Bedeutung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit für die deutschen Exporte. Stark verbessert wurde diese Kostenwettbewerbsfähigkeit einerseits in den frühen 1980er-Jahren und andererseits zwischen 1995 und 2012, also jeweils nach größeren Krisen der deutschen Wirtschaft.
Es steht zu befürchten, dass die Corona-Rezession zu einer weiteren Vertiefung des deutschen Exportismus führen könnte.
Solche Beobachtungen lassen für die Zukunft der deutschen Wirtschaft nichts Gutes erwarten. Es steht zu befürchten, dass die Corona-Rezession zu einer weiteren Vertiefung des deutschen Exportismus führen könnte. Die ersten Appelle zum Maßhalten bei Lohnerhöhungen und Staatsausgaben sind schon zu hören. Doch das wäre der völlig falsche Weg. Er würde die zarte Erholung der Binnennachfrage abwürgen und langfristig die hochgefährliche Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft weiter vertiefen.
Notwendig ist hingegen eine Ausbalancierung der deutschen Wirtschaft. Ähnlich wie in anderen balancierten Wirtschaftsmodellen müssen Binnennachfrage und Exporte gleichberechtigt als Wachstumsquellen anerkannt werden. In Deutschland würde das vor allem höhere Löhne und höhere staatliche Ausgaben – etwa für Bildung, Klimaschutz und Infrastruktur – erfordern. Gleichzeitig müsste der Staat weitaus mehr in die Förderung von Forschung und Technologie investieren, damit der verhängnisvolle Abstieg Deutschlands hin zu immer mehr Billigexporten revidiert wird.
Eine derartige Mission mag utopisch klingen, unmöglich ist sie aber nicht. Das zeigt das Beispiel Chinas, das in den letzten Jahrzehnten von der einseitigen Exportorientierung der Periode um das Millennium – die Exportquote lag 2005 dort noch bei 33,8 Prozent – schnell und nachhaltig umgeschwenkt ist. Durch eine massive Stimulierung der Binnennachfrage und hohe Investitionen in Forschung und Technologie ist inzwischen eine Ausbalancierung der chinesischen Ökonomie gelungen, ohne dass China an Exportvolumen verloren hat, im Gegenteil.
Eine Ausbalancierung der deutschen Wirtschaft ist daher nicht nur unilateral – also ohne langwierige internationale Abstimmungsprozesse – möglich, sondern sie würde Deutschland gleichzeitig auch viel internationale Anerkennung verschaffen. Eine erhöhte Nachfrage durch höhere Löhne und Staatsausgaben würde nämlich auch zur Reduktion der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber unseren europäischen Nachbarn und den USA führen, ein wichtiger Akt der Solidarität bei der Überwindung der Corona-Rezession.