Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.
Rumänien
Während man in Deutschland Anfang März noch über die Möglichkeit von Bundesliga-Fußballspielen diskutierte, wurde das Leben in Rumänien bereits ab dem 10. März massiv eingeschränkt – da waren gerade einmal 29 Fälle von Covid-19 nachgewiesen. Norditalien hatte gezeigt, wie schnell das Virus das Gesundheitssystem selbst eines wohlhabenderen Landes zum Kollaps bringen kann – und in Rumänien weiß man um den desolaten Zustand des eigenen Gesundheitssystems. Das Land gibt EU-weit am wenigsten für das Gesundheitswesen aus, gerade einmal fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (EU-Durchschnitt: zehn Prozent). Auch bei der Verfügbarkeit medizinischen Personals hält Rumänien in der EU den Negativrekord, denn Ärzte und Pfleger haben das Land seit dem EU-Beitritt 2007 in Scharen verlassen: Schätzungen zufolge 15 000 bis 20 000 Ärztinnen und Ärzte hat Rumänien an reichere Länder verloren.
Und damit wären wir schon bei der zweiten großen Sorge der rumänischen Regierung: Die riesige Diaspora. Von den circa 20 Millionen Rumänen lebt ein Fünftel im EU-Ausland: ungefähr 1,3 Millionen in Italien, 700 000 in Deutschland, 600 000 in Spanien – allesamt von der Corona-Krise besonders betroffene Länder. Diese Mitbürger wollte man nun von der Rückkehr abhalten, indem sehr strenge Quarantänemaßnahmen beschlossen wurden und der Flugverkehr mit diesen Ländern eingestellt wurde. Dennoch sind in den letzten Wochen zigtausende Rumäninnen und Rumänen in ihre Heimat zurückgekehrt, haben sie doch ihre Verdienstmöglichkeiten in den Gastländern verloren.
Gleichzeitig sind viele Rumänen bereit, das Risiko einer Infektion sowie enorm schlechte Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen, wie das Beispiel der Erntehelfer für Deutschland zeigt: Anfang April einigten sich der deutsche Innenminister und seine für die Landwirtschaft zuständige Kollegin, in den kommenden zwei Monaten 80 000 Erntehelfer ins Land zu lassen. Ein Großteil davon kommt aus Rumänien. Aufsehen erregten die Bilder vom Flughafen im rumänischen Cluj: Fast 2 000 Personen warteten über Stunden dicht gedrängt auf die Abflüge nach Deutschland. Die Aufnahmen sorgten für Empörung in Rumänien, und in Deutschland wurde Kritik laut, dass so das Virus importiert werde. Zwar wurden strenge Auflagen beschlossen: Bei der Einreise wird die Temperatur gemessen, die Erntehelfer müssen vom Flughafen direkt zu den Betrieben gefahren werden und sollen diese dann nicht mehr verlassen. Aber diese Quarantänemaßnahmen sollen wohl vor allem eine Ansteckung der deutschen Bevölkerung verhindern – die Erntehelfer machen sie noch abhängiger von ihren Arbeitgebern. Auch ist es äußerst fraglich, ob Abstandsregelungen und Hygienestandards auf dem Feld und in den sehr einfachen Unterkünften eingehalten werden. Bereits am 11. April starb der erste rumänische Erntehelfer in Baden-Württemberg an den Folgen von Covid-19.
Nach dem Debakel am Flughafen in Cluj geloben die Verwaltungen der rumänischen Flughäfen, für ausreichend Abstand zu sorgen. Davon, dass Deutschland seine 80 000 Erntehelfer zusammenbekommen wird, ist auszugehen, denn Corona trifft die rumänische Wirtschaft hart. Das arme und schon vor der Pandemie hochverschuldete Land hat dem weitaus weniger entgegenzusetzen als die westeuropäischen Länder: Ein Drittel der circa 800 000 rumänischen Kleinunternehmen ist vom Bankrott bedroht, eine Million Arbeitsverträge ruhen. Die betroffenen Arbeitnehmer können zwar für die Zeit des Ausnahmezustands von Kurzarbeitsregeln profitieren, aber mittelfristig könnten ihre Jobs gänzlich verschwinden, und die Arbeitslosenunterstützung ist in Rumänien äußerst dürftig. Die vielen Rumäninnen und Rumänen ohne regulären Arbeitsvertrag bleiben weitgehend ohne staatliche Unterstützung.
Angesichts der drastisch hohen Zahlen der Infizierten und Toten in Spanien und Italien ist es nachvollziehbar, dass diese beiden Länder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wenn es um EU-Programme zur Bewältigung der Krise geht. Die Nöte östlicher Mitgliedsländer wie Rumänien sollten darüber jedoch nicht vergessen werden. Rumäniens Ärzte werden wohl auch nach der Krise im Westen gebraucht werden, ebenso die Spargelstecher. Aber vielen der vier Millionen Rumäninnen und Rumänen, die vor der Krise im EU-Ausland arbeiteten, wird diese Einkommensquelle wohl verlorengehen, wenn infolge der sich abzeichnenden Rezession in Westeuropa Stellen abgebaut werden. Auf einen Ersatz in Rumänien können sie nicht hoffen. Die Diskussion um den wirtschaftlichen „Wiederaufbau“ nach Corona muss daher auch die östlichen Mitgliedstaaten berücksichtigen und ihren besonderen Bedürfnissen gerecht werden.
Juliane Schulte, FES Rumänien
Pakistan
Die Zahlen für Corona-Infektionen oder damit verbundene Sterbefälle liegen in Pakistan – im internationalen Vergleich – immer noch auf sehr niedrigem Niveau. Bis zum 21. April 2020 wurden weniger als 10 000 Infektionen und etwas mehr als 200 Tote registriert, dazu mehr als 2000 Genesene. Bei einer Bevölkerung von mehr als 210 Millionen Menschen sind diese Zahlen eigentlich winzig, gerade auch im Vergleich zu denen aus Europa oder den USA. Allerdings ist dies kein Grund zur Freude oder zu Erleichterung: Wo kaum auf das Virus getestet wird, lassen sich auch kaum Infektionen feststellen. Über Wochen wurden täglich nur 400-500 Tests durchgeführt, inzwischen soll die Zahl bei 2500-3000 liegen – kaum der Rede wert. Wenn schon in Europa nicht klar ist, wie viele Menschen denn tatsächlich an Covid-19 erkrankt sind, dann lassen sich in Pakistan dazu nicht einmal halbwegs seriöse Schätzungen anstellen, die Datenlage ist zu dünn. Seit allerdings auch Ministerpräsident Imran Khan aufgrund eines Kontaktes mit einem Infizierten auf Corona getestet wurde (das Ergebnis war negativ), dürfte zumindest in der Mittelschicht das Bewusstsein für die Gefahr noch einmal gewachsen sein.
Bis Mitte März zeichnete sich die pakistanische Gesellschaft durch eine erstaunliche Sorglosigkeit im Umgang mit der Pandemie aus. Der Trubel der Basare war so hektisch wie immer. Zwar hatten einige Medien von der Notwendigkeit von Abstandsregeln berichtet, beeindruckt davon zeigte sich aber kaum jemand. Wenige Tage, nachdem die WHO dann das Virus offiziell zur Pandemie erklärte, kam es zu einem abrupten Kurswechsel der Regierung. Vieles deutet darauf hin, dass das Militär den Ministerpräsidenten zwang, einen Lockdown zu erklären, trotz seiner wirtschaftspolitisch bedingten Einwände. So sinnvoll diese Maßnahmen seuchenpolitisch auch waren, so schwer sind sie durchzuhalten. Nicht allein der unbefangene Umgang der meisten Pakistaner mit Regeln und Vorschriften spielt eine Rolle, sondern auch die wirtschaftliche Not. Millionen Tagelöhner wussten bereits vor der Krise nicht, wovon sie zwei oder drei Tage später leben sollten – nun zu erwarten, dass sie wochenlang zuhause bleiben und ganz ohne Einkommen leben, ist ziemlich viel verlangt. Den Millionen von Beschäftigten im informellen Sektor, die ohne jede soziale Sicherheit existieren, geht es im Lockdown nicht besser.
Der Lockdown ist inzwischen eine Art Leopardenfell. In ausgewählten, meist wohlhabenden Stadtteilen mancher Städte – gerade in der Hauptstadt – wird er in erstaunlich hohem Maße beachtet, aber anderswo, etwa in ärmeren Basaren oder in vielen Moscheen spürt man davon nichts. Gerade dort ist der Lockdown schwierig. Bei vielen Gläubigen und erst recht bei Predigern, religiösen Funktionären und Vertretern religiöser Parteien besteht ein beträchtlicher Widerwille, gemeinsame Gebete in den Moscheen ausfallen zu lassen. Zwar versuchte die Regierung, entsprechend auf die Ulama einzuwirken, sah sich dann aber zu einem „Kompromiss“ gezwungen, der extrem fragwürdig ist: Massengebete dürfen stattfinden, allerdings werden die Teppiche aus den Moscheen entfernt, die Räumlichkeiten desinfiziert, und die Gläubigen sollen einen Mindestabstand von 90 cm einhalten – letzteres offensichtlich viel zu gering, aber ohnehin während der Gebete nicht durchzusetzen. Viele Prediger haben öffentlich erklärt, sich an irgendwelche Vorgaben nicht halten zu wollen. Die Regierung erwies sich als hilflos, weil die Vorstellung, massenhaft Gläubige in Pakistan durch Polizeigewalt vom Gebet fernhalten zu wollen, politisch kaum durchsetzbar wäre.
Jochen Hippler, FES Pakistan
Bolivien
Ende 2019 kam es in Bolivien zu heftigen sozialen Protesten. Der Verdacht des Wahlbetrugs trieb tausende Bolivianerinnen und Bolivianer auf die Straßen, um gegen den langjährigen Präsidenten Evo Morales zu demonstrieren. Dies mündete in landesweite Gewaltszenen und letztlich in Morales‘ Flucht ins Exil; die konservative Senatorin Jeanine Áñez wurde zur Übergangspräsidentin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich ihre Amtszeit, die ursprünglich nur zur Organisation von Neuwahlen vorgesehen war, sicherlich anders vorgestellt. Stattdessen muss sie nun eines der ärmsten und verwundbarsten Länder Lateinamerikas durch die aktuelle Covid-19-Pandemie steuern.
Dies bringt zahlreiche Probleme mit sich: Die Bevölkerung unterstützt zwar weitgehend die strikten Maßnahmen der Regierung, inklusive totaler Quarantäne mit landesweiter Ausgangssperre. Den meisten ist klar, dass die Alternativen angesichts des desolaten Gesundheitssystems des Landes noch unattraktiver sind. Dennoch wäre für die Bekämpfung der aktuellen Krise eine Abstimmung der Übergangsregierung mit den anderen politischen Kräften wichtig. Würden zumindest in einer Ausnahmesituation wie dieser beispiellosen Gesundheitskrise die verschiedenen politischen Kräfte zum Wohle aller an einem Strang ziehen, könnten das Krisenmanagement der Regierung und die Reaktion der Bevölkerung deutlich bessere Ergebnisse erzielen. Anhänger und Gegner der Übergangsregierung aber stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die einen sehen die Entmachtung von Evo Morales als Staatsstreich, für die anderen war sie Ergebnis einer Bürgerbewegung zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung. Angesichts solch verhärteter Fronten ist eine Annäherung selbst in Zeiten einer derartigen Pandemie schwierig.
Die Übergangspräsidentin regiert hauptsächlich per Dekret, während die Parlamentsfraktion der MAS des entmachteten Morales mit ihrer weiterhin bestehenden Zweidrittelmehrheit aufgrund interner Streitigkeiten weitgehend untätig ist. Die Regierung ist wenig transparent in ihrem Umgang mit der Krise. Sie veröffentlicht nur wenige Informationen, etwa hinsichtlich der Beschaffung von Beatmungsmaschinen, Testkits oder Schutzmaterialien. Der plötzliche Rücktritt des Gesundheitsministers „aus persönlichen Gründen“ bleibt unkommentiert, es gibt Abstimmungsprobleme und Kompetenzgerangel mit den Regionalregierungen, und eine offene gesellschaftliche Debatte ist schwierig. Die Regierung nutzt die Sondervollmachten zur Eindämmung der Krise für politische Zwecke: Ein Dekret erklärt „Falschinformationen oder das Erzeugen von Verunsicherung“ zum „Verbrechen gegen die öffentliche Gesundheit“. Das ist zwar prinzipiell sinnvoll, allerdings wird diese Befugnis selektiv zur Verfolgung politischer Gegner eingesetzt. Von der Regierung als „digitale Krieger“ bezeichnete Personen werden verhaftet, aber die Öffentlichkeit erfährt wenig bis nichts über die Hintergründe.
Die ursprünglich für Mai 2020 vorgesehenen Neuwahlen wurden nach dem Ausbruch der Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben. Aus politischen Erwägungen möchten nun einige die Wahlen möglichst schnell abhalten, während anderen ein möglichst später Termin entgegenkommt. Auch hier ist eine Einigung nicht in Sicht. Eins ist jedoch klar: Die Bewältigung der tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise, die nach der Pandemie angegangen werden muss, bedarf einer soliden demokratischen Legitimation der Regierung durch die Stimmen der Bevölkerung.
Die strikten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben zwar dessen Ausbreitung verlangsamt, allerdings zu hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten. Zusammen mit dem Verfall der internationalen Erdöl- und anderer Rohstoffpreise und der schon vor der Pandemie trüben wirtschaftlichen Situation wird die kommende Wirtschaftskrise das Land vor große Herausforderungen stellen. Die sozialen Konflikte und die Bruchlinien in der Gesellschaft dürften sich noch verstärken, wenn die nächste Regierung über die Verwendung noch weiter verknappter Ressourcen entscheiden muss und verschiedene gesellschaftliche Gruppen dabei Nachteile erleiden. Zudem ist davon auszugehen, dass der Fokus der Politik auf Wachstum um jeden Preis liegen wird und Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit hintenanstehen werden.
Die politische Polarisierung, die gesellschaftlichen Zerwürfnisse und die Wirtschaftskrise bilden gemeinsam ein kompliziertes Szenario für die Phase nach der Pandemie in Bolivien, das die aktuelle und die nächste Regierung vor enorme Herausforderungen stellen wird.
Jan Souverein, FES Bolivien