Shortseller und Leerverkäuferinnen, Hedgefonds, die auf fallende Kurse von Aktiengesellschaften spekulieren, womöglich die Reputation des betreffenden Unternehmens schädigen und so den fallenden Aktienkurs selbst herbeiführen – sie alle müssen sich auf harte Zeiten einstellen. Womöglich ist das Ende dieser Form des Finanzkapitalismus angebrochen. Dieses fragwürdige und moralisch bedenkliche Geschäftsmodell des Firmenfledderns ist nicht länger tragfähig und aussichtsreich.

Was ist passiert? Kleinanlegerinnen und -anleger haben mit digitalen Mitteln – angeregt über Social-Media-Kanäle wie Twitter und Reddit – eine Gegenwehr organisiert, die eine bislang ungekannte Schlagkraft erreicht hat. So geschehen im Fall des von dem Fonds Melvin Capital und anderen angegriffenen Unternehmens Gamestop Corporation, einem US-Einzelhändler für Spielesoftware. Heerscharen von Privatanlegern kamen über die Handelsplattform Robinhood dem Opfer des Hedgefonds-Angriffs zur Hilfe und kauften im großen Stil Anteile von Gamestop. Und kauften und kauften. So viel, dass der Kurs in den letzten beiden Wochen durch die Decke ging; von anfänglich 20 US-Dollar (am 12. Januar 2021) bis auf über 480 US-Dollar am 28. Januar.

Die Fonds, die als Shortseller auf abstürzende Kurse gewettet hatten, schauten dumm aus der Wäsche und mussten ihre Positionen abschreiben: Sie mussten kaufen, egal zu welchem Kurs, um den Verpflichtungen zum Leerverkauf nachzukommen. Der Verlust ging in die Milliarden. Vom 1. bis 28. Januar hatte Melvin Capital gut ein Drittel an Wert verloren und drohte, Bankrott zu gehen. Andere Investmentfonds eilten zu Hilfe, so auch Citadel LLC, die zwei Milliarden US-Dollar aufwandten, um den Fonds zu retten. Das Phänomen des „Short Squeeze“ war zu beobachten, der Aktienrückkauf in Bedrängnis geratener Shortseller.

Der Vorgang war ein Sieg für die Kleinanlegerinnen und -anleger, die als Aktivisten das „gierige Verhalten“ der Hedgefonds sanktionieren wollten – und dabei eigene Gewinne einstrichen, da ja der Gamestop-Kurs explodierte. Und zwar so stark, dass die Plattform Robinhood sich um ihre Liquidität sorgte und fürchtete, die hohen Kursgewinne ihrer Kunden (der Anleger, die über die Plattform wie mit Schwarmintelligenz Gamestop-Aktien gekauft hatten) nicht mehr bewältigen (sprich: im Zweifel auch auszahlen) zu können. Der Handel für die Kleinanleger wurde kurzerhand eingestellt. Und das nicht nur in den fernen Vereinigten Staaten, sondern auch ganz nah bei Trade Republic, dem deutschen Onlinebroker.

Wie auch immer die Geschichte nun weitergeht, in den USA wird die Wall Street selbst und auch die neue Biden-Administration ein großes Interesse an der Aufklärung der Hintergründe dieser Anlageaffäre haben.

Warum dies? Weil die Handelsplattformen die Nachfrage finanziell nicht mehr bewältigen konnten? Weil, wie sie ihren Kundinnen und Kunden selbst mitteilten, die Marktvolatilität zu hoch sei? Weil sie zu der Armada der Melvin Capital zu Hilfe eilenden Hedgefonds gehören? Womöglich im Wortsinne ihnen gehören? Von ihnen abhängig sind? – Citadel unterstützte Melvin mit zwei Milliarden US-Dollar, um deren Verluste abzufangen. Und siehe da: Der Finanznachrichtendienst Bloomberg berichtete (hier zitiert in einem Artikel aus dem britischen Independent), dass 40 Prozent der Einkünfte von Robinhood dadurch entstehen, dass sie Kundenaufträge an sogenannte Market Makers wie zum Beispiel Citadel Securities verkaufen. Citadel Securities ist Teil von Citadel LLC. Dieses Unternehmen aber hatte – siehe oben – großes Interesse an fallenden Kursen von Gamestop. Kleinanlegerinnen stören da nur. Honi soit qui mal y pense. – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Der Handel für die Kleinen ausgesetzt, der dramatische Kursanstieg gestoppt, buchstäblich „game stop“ also. Wer gewinnt? Der Kurs sinkt, die Shortseller minimieren ihre Verluste: Die alte Welt des Turbofinanzkapitalismus war kurz in den Grundfesten angegriffen und wurde – aus Sicht des Finanzkapitals – verwegen verteidigt?

Die Moral von der Geschicht’: Trau deiner Plattform nicht, auch wenn sie sich Robin Hood nennt? Mach keine Leerverkäufe nicht und schade insbesondere gesunden Unternehmen nicht, indem du gegen sie „short“ gehst? Schreib das üble Geschäftsmodell ab, die Privatanleger sind eine Macht, die gegen – unmoralische, gierige, ungerechtfertigte – Börsenstrategien vorgehen können – und dies auch tun! Endlich herrscht – der Crowd und den digitalen Plattformen sei Dank – Waffengleichheit an der Börse. Kleinanleger aller Länder vereinigt euch, um die Hedgefonds das Fürchten zu lehren?!

Die Kommentatoren der New York Times, die ich an dieser Stelle als halbwegs unverdächtige neutrale Quelle zwischen Finanzkapital- und Kleinanlegerinteressen heranziehen möchte, sprechen von „Aktivismus des Börsenvolkes“ (populist activism). Es ließe sich die Metaphorik der Wenigen und der Vielen, der 99 Prozent und der anderen, bemühen. In der Tat gehören zu den Kleinanlegern auch Studierende, Angestellte, ganz normale Menschen, die in den USA wie bei uns ihr Erspartes in ein digitales, direkt verwaltetes Depot eingebracht haben und ganz unterschiedliche Anlagestrategien verfolgen, durchaus auch mit kleinen und kleinsten Beträgen. Ist ein wenig Kapital vorhanden, sind die Markteintrittsschranken niedrig; das erforderliche Wissen um die Marktabläufe und -risiken stellt die maßgebliche Hürde da.

Wie auch immer die Geschichte nun weitergeht, in den USA wird die Wall Street selbst und auch die neue Biden-Administration ein großes Interesse an der Aufklärung der Hintergründe dieser Anlageaffäre haben. War es gerechtfertigt, den Handel für die Kleinanlegerinnen plötzlich auszusetzen? Ist das ein vorsorgliches Vorgehen zur Sicherung der eigenen Liquidität oder eiskalte Interessenpolitik der Handelsplattformen? Warum dann der romantische Name „Robin Hood“ gepaart mit dem Slogan „Investing for Everyone“? Die nächsten Wochen werden zeigen, wie die Politik reagiert, wer die Finanzwelt regiert. Die Vorzeichen dürften sich am 20. Januar 2021 gründlich geändert haben. Erste Klagen wegen Marktmanipulation wurden gegen Robinhood eingereicht. Die Securities and Exchange Commission (US-Börsenaufsicht) und die mit Bankwesen und Finanzdiensten befassten Kongressausschüsse treten auf den Plan und leiten eigene Untersuchungen ein. Es bleibt spannend!

Was tun? Die innovativen Trading-Plattformen verbieten? – Nein, das würde vielen die Teilhabemöglichkeit nehmen, niederschwellig und kostengünstig an der Börse zu investieren.

Zum Abschluss ein Kommentar aus dem „Tech“-Blog der New York Times vom 29. Januar 2021 von Shira Ovide, der zu denken geben sollte: „Achten Sie darauf, wie Robinhood Geld verdient: Es ist ein guter Moment, um den Artikel meines Kollegen Nathaniel Popper noch einmal zu lesen. Er schrieb über die Menschen, die durch den Hochfrequenzhandel zu Schaden kamen, und darüber, wie Robinhood junge Amerikaner zu riskanten Finanztransaktionen verleitet. Und diese kostenlosen Aktienhandel-Apps sind möglicherweise weniger demokratisch als Sie denken. Robinhood und seine Konkurrenten werden von Wall Street-Firmen bezahlt, welche die eigentlichen Aktiengeschäfte abwickeln und versuchen, ein paar Cent aus den Transaktionen herauszuholen, die Robinhood-Kunden bezahlen. Dies ist eine langjährige Branchenpraxis und nicht von Natur aus schlecht. Aber von Wall Street-Giganten bezahlt zu werden, entspricht nicht Robinhoods Image: die Massen zu befähigen, die Reichen zu schlagen."

Was tun? Die innovativen Trading-Plattformen verbieten? – Nein, das würde vielen die Teilhabemöglichkeit nehmen, niederschwellig und kostengünstig an der Börse zu investieren. Es lassen sich auch ganz gewöhnliche Exchange Traded Funds oder Anteile an Einzelunternehmen dort erwerben. Der Unterschied zwischen Robinhood und zum Beispiel Trade Republic liegt in „gar kein“ versus „ein geringer Preis“ pro Trade, das heißt pro Kauf- oder Verkaufsauftrag. Das „deutsche Modell“ scheint hier vorzugswürdig. Es gibt Wege, sich gegen ausgesetzte Handelsmöglichkeiten zu wehren. Die Verbraucherzentralen haben schon reagiert und bieten Tipps.

Außerdem sollten Verbraucherinnen als Wirtschaftsbürger, die sie immer auch sind, die Kenntnisse erwerben können, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit Trading-Plattformen erforderlich sind. Das lässt sich beispielsweise dadurch erreichen, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur den Umgang mit Taschengeld oder Handyverträgen lernen, sondern auch etwas über Geldanlagestrategien, Risiken und Chancen von Börseninvestitionen erfahren. Wenn wir nicht wollen, dass die soziale Schere weiter auseinandergeht, müssen wir für Empowerment sorgen, die Befähigung, das eigene Ersparte, so klein die Beträge auch sein mögen, verantwortungsvoll zu investieren. Was bleibt Kleinsparern in Zeiten niedriger oder negativer Zinsen anderes übrig? „Financial Empowerment“ ist eine Aufgabe für sozialdemokratische Politik: Teilhabe ermöglichen, den Finanzriesen und Hedgefonds die Stirn bieten mit der Macht der Masse!