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Die Massenproteste nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis haben gezeigt, wie fragil der innergesellschaftliche Frieden selbst in westlichen Industriestaaten ist. Zugleich bergen sie das Potenzial, Politik zu verändern. Sie stehen zudem für einen großen Trend des letzten Jahrzehnts, der durch staatliche Restriktionen infolge der Corona-Pandemie nur zeitweise unterbrochen wurde: den weltweiten Anstieg von Massenprotestbewegungen. Das Jahr 2019 war nicht wie oft behauptet eine Ausnahme, sondern Teil einer längerfristigen Entwicklung.
Wir haben ein Jahrzehnt des Protests erlebt, mit äußerst vielfältigen Zielen: Es reicht von den Massenprotesten in der arabischen Welt, die das Jahr 2011 prägten, über (Anti-)Pegida-Proteste in Deutschland (seit 2014), die Gezi-Proteste in der Türkei (2013) bis hin zu transnationalen Phänomenen wie der Occupy-Bewegung (2011) oder den Klimaprotesten. Durch die drastischen Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, die Staaten rund um die Welt zur Eindämmung der Corona-Pandemie erlassen haben, ist diese Protestwelle temporär zum Erliegen gekommen. Aber die aktuellen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA und weiteren Ländern zeigen, dass ein Ende dieser Welle nicht zu erwarten ist. Dies legt auch der Blick auf die tieferliegenden Ursachen der Massenproteste nahe, die das Jahr 2019 kennzeichneten.
Eine Auswertung frei zugänglicher Presseberichte, die wir für das diesjährige Friedensgutachten der führenden Friedensforschungsinstitute in Deutschland durchgeführt haben, zeigt das weltweite Ausmaß im Jahr 2019: In 45 Ländern gab es 65 Proteste, bei denen mindestens 50 000 Menschen mobilisiert werden konnten. Knapp die Hälfte der Proteste hatte zumindest teilweise Erfolg. Für den Erfolg waren die Unterstützung der Proteste durch breite Bevölkerungsschichten und eine langanhaltende Mobilisierung von entscheidender Bedeutung. Beispielhaft hierfür steht der Fall Algerien. Als Reaktion auf eine erneute Kandidatur von Präsident Bouteflika, kam es Mitte Februar 2019 zu ersten Gegenprotesten, die schnell im ganzen Land Unterstützung fanden. Neben der großen Unterstützung dieser letztlich erfolgreichen Proteste, war auch ihr Durchhaltungsvermögen für ihren Erfolg wichtig. Andere Proteste konnten die Gesetzgebung in ihren Ländern nicht in ihrem Sinne beeinflussen (z.B. die Klimaproteste in Australien und die Urheberrechtsreform in Deutschland) oder wurden von der Regierung schlicht ignoriert (z.B. die Anti-Regierungs-Proteste in Serbien).
In einer ganzen Reihe autokratisch regierter Länder wie dem Sudan, Russland oder dem Iran gingen die Menschen 2019 in Massen auf die Straße – trotz der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben.
Die hohe Erfolgsaussicht ist bemerkenswert, da die Proteste politische Systeme jeglicher Couleur ergriffen. Mit 48 Protesten fand die überwiegende Mehrzahl der Protestbewegungen in Demokratien statt. Beispiele hierfür sind die Massenproteste in Chile, Indonesien und Tunesien, die Proteste im Rahmen des Brexits in Großbritannien und die Klimaproteste in zahlreichen Ländern. Aber auch in einer ganzen Reihe autokratisch regierter Länder wie dem Sudan, Russland oder dem Iran gingen die Menschen 2019 in Massen auf die Straße – trotz der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben.
Sozioökonomische Forderungen spielten eine prominente Rolle in den Protestbewegungen im letzten Jahr. In Chile löste die Erhöhung der Metropreise die Protestwelle aus, in Ecuador die Aufhebung von Treibstoffsubventionen, im Libanon eine Steuer auf WhatsApp-Telefonate und im Sudan die Streichung von Brotsubventionen. Dass zum Teil sehr spezifische Maßnahmen zum Auslöser breiter Mobilisierung werden konnten, verweist auf eine tieferliegende Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerungen mit der Leistungsbilanz „ihrer“ Regierungen. Entsprechend weiteten sich die Proteste schnell inhaltlich aus und dauerten nach Rücknahme der kritisierten Maßnahmen an. Dies gilt für politische Systeme aller Schattierungen: In Chile, lange als Musterland liberaler Demokratie gefeiert, rückte die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung ins Zentrum. In Sudan wurde der Sturz des Diktators Umar al-Bashir und der Übergang zu einer zivilen Regierung erstritten.
Die internationale Gemeinschaft sollte insbesondere in den seltenen Fällen von erfolgreichen anti-autoritären Protesten und dem Beginn eines Demokratisierungsprozesses politisch wie auch wirtschaftlich unterstützen. Die „Revolutionsdividende“ sollte schnell spürbar werden, um dem Transformationsprozess weitere Legitimität zu verleihen. Eine externe Einmischung sollte stets den Dialog mit der Regierung auf der einen Seite, oppositionellen und zivilgesellschaftlichen Kräften auf der anderen Seite verbinden.
Das Gros der Menschen protestierte 2019 friedfertig, mitunter kam es aber auch zu Gewaltausbrüchen, sei es in Form von staatlicher Repression, sei es ausgehend von Gruppen auf Seiten der Demonstranten. Insbesondere in autoritären Regimen versuchten Sicherheitskräfte, eine mögliche Massenmobilisierung bereits im Keim zu ersticken, wie etwa in Ägypten 2019. Aber auch in Demokratien – etwa in Chile und Kolumbien oder aktuell in den Protesten in den USA – kam es in Reaktion auf die Proteste zu unverhältnismäßiger staatlicher Gewaltanwendung, die von internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde.
Die „Revolutionsdividende“ sollte schnell spürbar werden, um dem Transformationsprozess weitere Legitimität zu verleihen.
Können externe Akteure dabei helfen, dass Proteste nicht in Gewalt eskalieren? Durchaus. So hat die Afrikanische Union 2019 im Sudan einerseits mit Sanktionen gedroht, andererseits aber auch auf Konfliktvermittlung und Dialog gesetzt – mit Erfolg. Davon können die EU und auch Deutschland lernen. Entsprechende Strategien sollten sich mithin nicht allein auf eine Verurteilung staatlicher Repression beschränken, sondern einen breiten Maßnahmenkatalog umfassen. Insbesondere die gezielte Unterstützung von Dialogprozessen, Trainingsprogramme für Gewaltfreiheit wie auch die rechtsstaatliche Kontrolle der Sicherheitskräfte könnten einen präventiven Beitrag für den Frieden leisten. Nicht zuletzt sollten demokratische Reformprozesse infolge von Protesten politisch und finanziell ohne große Konditionierung unterstützt werden.
Bei unverhältnismäßiger staatlicher Gewalt sind auch Sanktionsdrohungen legitim. Allerdings sollten Schritte vermieden werden, die staatliche Eliten völlig in die Enge zu treiben. Denn dann schließen sich die Reihen der Regime-Anhänger umso fester („Wagenburg-Effekt“) und eine friedliche Konfliktbeilegung wird erschwert. Die offen für die Oppositionspartei ergreifende Linie des Westens gegenüber dem Maduro-Regime in Venezuela ist hierfür ein Beispiel, die zum Schließen der Reihen des Regimes beigetragen haben. Die problematische Anerkennung vieler Staaten von Juan Guaidó als Präsident Venezuelas hat dem Narrativ der Regierung Vorschub geleistet, dass die Proteste „vom Westen/Ausland gesteuert“ wären. Letztlich wurde so die Möglichkeit zukünftiger internationaler Vermittlungen in der Auseinandersetzung zunichte gemacht.
Der Corona-bedingte Rückgang an Massenprotesten scheint nur ein vorübergehendes Phänomen zu sein, wie die jüngsten Proteste in den USA, Frankreich oder auch Brasilien zeigen. Es ist daher an der Zeit, dass die Bundesregierung dieser Herausforderung eine größere Bedeutung in den diplomatischen und entwicklungspolitischen Maßnahmen zumisst. Die Bundesregierung sollte auf dem diplomatischen Parkett eine proaktivere Rolle einnehmen, wie sie es beispielsweise bereits im Transformationsprozess im Sudan tut. Insbesondere die Einbeziehung aller Gesellschaftsgruppen sollte Bestandteil eines inklusiven Demokratisierungsprozesses nach Anti-Regierungs-Protesten sein. Aber auch in der Entwicklungshilfe kann die Bundesregierung ihre Bemühungen noch verstärken und gezielte, schnelle Unterstützungsmaßnahmen ergreifen, um den Transformationsprozess durch schnelle Erfolge für die Demokratisierungsbewegung abzusichern.
Der Text wurde gemeinsam mit Jannis Saalfeld (INEF) und Jonas Wolff (HSFK) verfasst.