Ukraine, Kaukasus und Naher Osten. Das Aufflammen der Gewalt markiert das Ende der Pax Americana. Der Aufstieg neuer Mächte verschiebt die globalen Kräfteverhältnisse. Noch ist nicht absehbar, ob die Welt von morgen bipolar oder multipolar sein wird. Spitzt sich die amerikanisch-chinesische Systemrivalität zu einem Kalten Krieg zu, könnte erneut eine bipolare Ordnung konkurrierender Blöcke entstehen. Können die übrigen Machtzentren dagegen ihre strategische Autonomie erhalten, dürfte die Welt von Morgen multipolar bleiben.
Aus dieser globalen Entwicklung ergeben sich fundamentale Folgen für die Weltordnung. Folgt aus der Erosion der Hegemonie der liberalen Demokratien des Westens auch das Ende der liberalen Weltordnung? Können die von Amerika begründeten multilateralen Institutionen und ihre normativen Fundamente überleben, wenn der „Weltpolizist“ nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sie zu garantieren? Wird es auch morgen noch universelle Institutionen geben, die allen Staaten offenstehen und deren Normen für alle bindend sind? Zugespitzt, kann die Universalität der Menschenrechte in einer multipolaren Welt überleben, in der Zivilisationen mit unterschiedlichen Werten miteinander konkurrieren?
Werfen wir einen Blick auf die ideologische Dimension des Ringens um die Weltordnung von morgen. Die liberale Ordnung muss sich gegen konkurrierende Ordnungsvorstellungen im Inneren und Äußeren behaupten. Im Inneren des Westens kommt der liberale Universalismus unter Druck von illiberalen Partikularismen. Von ganz rechts wird der Rückbau des Rechtsstaates vorangetrieben und der Umbau von liberalen Republiken mit starken Minderheitenrechten in illiberale Mehrheitsdemokratien betrieben. Ziel ist es, die demokratische Mitsprache und die Segnungen des Wohlfahrtstaates auf eine völkisch definierte Mehrheit zu begrenzen. Völkerrechtliche Fesseln, die diesem illiberalen Umbau entgegenstehen, sollen abgestreift werden. America First und die Brexit-Kampagne sind Paradebeispiele für solche Entwicklungen.
Partikularistisches Stammesdenken ist jedoch auch der identitären Linken nicht fremd. Das Aufwiegeln von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Geschlechtsidentität gegeneinander untergräbt das egalitäre Ethos der Republik. Versuche, die Meinungsfreiheit Andersdenkender zu beschneiden, Rechtsbrüche kulturell zu relativieren oder den Parlamentarismus durch Politkommissare zu umgehen, entspringen einem illiberalen Geist. Schließlich spricht die selektive Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen dem universalistischen Ideal gleicher Rechte für alle Menschen Hohn.
Die liberale Ordnung muss sich gegen konkurrierende Ordnungsvorstellungen im Inneren und Äußeren behaupten.
Schlagen diese Partikularismen auf staatliche Politik durch, untergräbt der Westen sein Bekenntnis zu universellen Normen. Richtig, China und Russland instrumentalisieren die Kritik des Globalen Südens an den Doppelstandards des Westens für ihre Zwecke. Aber es war der Westen selbst, der seine moralische Autorität durch Völkerrechtsbrüche von Abu Ghraib bis Guantanamo beschädigt hat.
Dieser Legitimitäts- und relative Machtverlust schwächt die Durchsetzungskraft des Westens. Wo isolationistische beziehungsweise nationalistische Kräfte an die Macht gelangen, fehlt es zudem am politischen Willen, sich weltweit für Völkerrecht und Menschenrechte einzusetzen. Kein gutes Omen für die Zukunft der liberalen Weltordnung und ihr universalistisches Wertefundament.
Die Kritik des Globalen Südens an der neokonservativen Verbreitung der Demokratie mit Waffengewalt verweist darauf, dass es in Washington Befürworter eines amerikanischen Imperiums gab und gibt. Vor allem in Russland und China gewinnen defensive und offensive Spielarten neoimperialer Ordnungsvorstellungen an Gehör. Defensiv wird die Nichteinmischung des liberalen Westens in die inneren Angelegenheiten der eigenen Zivilisation gefordert; offensiv wird unter Rückgriff auf die eigene imperiale Geschichte Anspruch auf die Stellung als eigenständiges Zentrum in einer hierarchisch organisierten (Teil-)Weltordnung erhoben.
Russlands Versuch, mit Waffengewalt eine exklusive Einflusszone zu schaffen, wird von Moskau ideologisch durch die Abgrenzung einer vitalen eurasischen von der dekadenten westlichen Zivilisation verbrämt. Ironischerweise erfahren diese neoimperialen Fantasien besonders viel Zuspruch in nationalistischen Kreisen des „dekadenten Westens“. Vielleicht rührt die neuerliche Popularität der These Huntingtons vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ aus der partikularistischen Sehnsucht, eine Welt in Unordnung in „Die sind so wie wir“- und „Die sind nicht wie wir“-Stämme zu sortieren.
Zukünftig dürfte Washington weder den Willen noch die Kraft haben, die Verletzung universalistischer Normen zu sanktionieren.
China wirbt dagegen unter Verweis auf seine jahrtausendealte Hochkultur für die „friedliche Koexistenz der Zivilisationen“. Anstelle der Universalität spricht Peking von einer „gemeinsamen Vorstellung von den Menschenrechten“, die jede Kultur für den jeweils eigenen Kontext auslegen müsse. China wirbt im Rahmen der Vereinten Nationen für seine Lesart, die Rechte auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung über die politischen Bürgerrechte stellt. Der Philosoph Zhao Tingyang bringt das alte Tianxia-System („alles unter dem Himmel“) als normativen Überbau für eine Weltordnung mit chinesischen Charakteristika ins Gespräch. Kritiker befürchten, dass hinter all diesen Wiederentdeckungen von Konzepten aus der imperialen Geschichte Chinas der Versuch steht, die Hegemonie des alten und neuen Reichs der Mitte in Asien zu rechtfertigen.
Die imperialen Versuche, die Gleichheit, Souveränität und territoriale Integrität der Nachbarstaaten zu untergraben, lösen (nicht nur dort) ebenso viel Empörung aus wie die humanitären Interventionen des Westens, die universelle Rechte als Vorwand für die Einmischung in innere Angelegenheiten missbraucht haben. Gegen die Übergriffe der imperialen und liberalen Ordnungsvorstellungen werden im Globalen Süden die westfälischen Prinzipien in Stellung gebracht. Statt einer hierarchischen Ordnung, in der sich Vasallenstaaten um imperiale Pole gruppieren, wird die rechtliche Gleichheit souveräner Nationalstaaten betont. Das Prinzip der territorialen Integrität soll gewaltsamen Übergriffen der imperialen Zentren einen Riegel vorschieben. Andererseits wird gegen die humanitären Interventionen der liberalen Internationalisten und die Strukturanpassungsprogramme der Global Governance-Institutionen das Prinzip der Nichteinmischung hochgehalten. Dieser Unmut gegen äußere Einmischung ist der Grund, warum das westliche Narrativ von der Systemrivalität zwischen Demokratie und Autokratie im Globalen Süden so wenig Widerhall erfährt.
Das westfälische Staatensystem ist seit jeher ohne zentrale Autorität konzipiert. Die selektive Ausübung der Rolle des „Weltpolizisten“ durch den Hegemon USA nach dem Ende des Kalten Krieges war immer nur ein schwacher Ersatz. Zukünftig dürfte Washington aber weder den Willen noch die Kraft haben, die Verletzung universalistischer Normen zu sanktionieren. Die Gretchenfrage ist daher, ob sich in einer multipolaren und damit pluralistischen Welt, in der Zivilisationen mit unterschiedlichen Werten und Ordnungsvorstellungen koexistieren, ein universeller Minimalkonsens rein voluntaristisch herausbilden kann.
Der Preis für die relative Stabilität in den imperialen Zentren sind jedoch damals wie heute endlose Stellvertreterkriege an der Peripherie.
Welche Ordnungsvorstellung sich letzten Endes durchsetzt, wird von den Kräfteverhältnissen im Kampf um die Weltordnung von morgen abhängen. Will der Westen die liberale Ordnung erhalten, sollte er auf die als „imperialistisch“ empfundenen Übergrifflichkeiten des humanitären Interventionismus verzichten. Das bedeutet nicht, die Grundwerte Demokratie und Menschenrechte aufzugeben, wohl aber, auf ihre Verbreitung mit Gewalt und Zwang zu verzichten. Ob sich der Westen zu dieser Kurskorrektur durchringen kann, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie die inneren Auseinandersetzungen zwischen illiberalen Partikularisten und liberalen Universalisten ausgehen. Aus progressiver Sicht ist das universalistische Eintreten für gleiche Rechte für alle das wirksamste Gegengift zu den endlosen Nullsummenspielen zwischen identitären Stämmen, die gesamtgesellschaftlich zum Stillstand führen.
Und wie soll global ein Zusammenprall der Zivilisationen verhindert werden, wenn jede Kultur die Regeln des Miteinanders relativiert? Wenn das christlich-naturrechtlich konnotierte Normenfundament der Weltordnung nicht mehr für alle akzeptabel ist, müsste in einem gleichberechtigten Dialog zwischen den Zivilisationen herausgearbeitet werden, auf welche universellen Prinzipien man sich stattdessen einigen kann. Allerdings ist zu befürchten, dass im Getöse der moralisch aufgeladenen Kulturkämpfe eine nüchterne Debatte über das wohlverstandene Eigeninteresse des Westens am Erhalt einer regelbasierten Weltordnung mit universellem Wertefundament unterzugehen droht.
Befürworter eines Konzerts der Großmächte erinnern daran, dass die Respektierung der exklusiven Einflusszonen der Supermächte verhindert hat, dass der Kalte Krieg (beispielsweise in der Kubakrise) in einen Heißen eskalierte. Der Preis für die relative Stabilität in den imperialen Zentren sind jedoch damals wie heute endlose Stellvertreterkriege an der Peripherie. Die Ablehnung neoimperialer Ordnungsvorstellungen speist sich zudem aus dem Widerwillen der übergroßen Mehrheit der Staaten, sich auf Gedeih und Verderb der Dominanz eines Pols unterzuordnen.
Große Teile des Globalen Südens – inklusive wichtiger Stimmen in China und Osteuropa – setzen sich dagegen für die Renaissance einer westfälischen Ordnung gleicher und souveräner Staaten ein. Fehlt dem Westen der politische Wille und die Durchsetzungskraft für den Erhalt der liberalen Ordnung mit ihrem universalistischen Normenfundament, ist die Aufrechterhaltung einer globalen Ordnung basierend auf den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Prinzipien der Gleichheit, Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten die beste aller schlechteren Welten.