In seinem Buch Antifragilität führt Nassim Taleb einen wichtigen neuen Begriff ein, den des „Antifragilen“: „Einige Dinge profitieren von Erschütterungen“. Das „Fragile“ ist das Gegenteil, denn es gedeiht unter stabilen Bedingungen, leidet jedoch wegen seiner Brüchigkeit – zuweilen recht heftig – unter Unbeständigkeit. Zwischen diesen Polen liegt das „Robuste“, das eine Resilienz gegen Unsicherheit und Aufruhr aufweist, jedoch nicht davon profitieren kann.
Die Unterscheidung zwischen dem Antifragilen und den beiden anderen Kategorien lässt sich übertragen auf das Verhältnis zwischen zentralisierten, von oben nach unten strukturierten Gebilden (wie Zentralstaaten) und dezentralen, von unten nach oben organisierten flexibleren föderalen Strukturen. Als Beispiel für Letztere nennt Taleb die Schweiz mit ihrem dezentralen Kantonssystem und ihrer Basisdemokratie.
Doch die Schweiz ist auch in anderer Hinsicht antifragil. Historisch ist es ein Land, das von Aufruhr und Unordnung jenseits der Grenzen profitiert: von Kriegen, Nationalismen, unsicheren Eigentumsrechten und offenen Plünderungen. Sei es, dass Juden versuchten, ihren Besitz vor der „Arisierung“ zu retten, chinesische Millionäre eine Revolution fürchteten oder afrikanische Potentaten einen sicheren Ort für ihre Beute brauchten: In all diesen Fällen bot die Schweiz den Komfort der Sicherheit. Sie war (und ist) der ultimative antifragile Staat: Sie profitiert von Unordnung.
Globalisierung und weltweite Unruhen haben es vielen kleinen Volkswirtschaften ermöglicht, sich auf Dienstleistungen zu spezialisieren, die von Vermögenssicherung und Geldwäsche bis zu Steuervermeidung und Steuerflucht reichen.
Die Schweiz wurde sozusagen zum Sinnbild für einen sicheren Rückzugsort, doch damit ist sie heute durchaus nicht allein. Globalisierung und weltweite Unruhen haben es, verbunden mit offenen Kapitalbilanzen, vielen kleinen Volkswirtschaften ermöglicht, sich auf Dienstleistungen zu spezialisieren, die von Vermögenssicherung und Geldwäsche bis zu Steuervermeidung und Steuerflucht reichen. In den meisten Fällen ist die Rechtmäßigkeit solcher Transaktionen fragwürdig; viele fallen in eine Grauzone, die weder völlig legal noch völlig illegal ist.
In Westeuropa haben Liechtenstein, Luxemburg und Irland aktiv die Steuerflucht auch aus Nachbarländern gefördert. In seinem Buch Steueroasen: Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird dokumentiert Gabriel Zucman die großen Abflüsse aus der Schweiz und die großen Zuflüsse in das Bankensystem Luxemburgs im Gefolge der (erzwungenen) Entscheidung der Schweizer Behörden, eine Abgeltungssteuer für Ausländerkonten einzuführen.
Dass Irland vielen multinationalen Konzernen als Steueroase dient, erregte einige Aufmerksamkeit, als die Europäische Kommission das Land verpflichtete, die Steuersätze, besonders für Apple, über Null anzusetzen. In einem historisch wohl einmaligen Fall beschwerte sich die irische Regierung darüber, Milliarden mehr an Steuern einzunehmen!
Andernorts, etwa in der Karibik, haben sich kleine Staaten darauf spezialisiert, den rechtlichen Rahmen für Briefkastenfirmen bereitzustellen. In Capital Without Borders: Wealth Managers and the One Percent schildert Brooke Harrington, dass in einem einzigen Gebäude auf den Cayman-Inseln die Zentralen mehrerer Hundert Unternehmen angesiedelt sind. Briefkastenfirmen spielen eine wichtige Rolle für die Geldwäsche im Nachgang der in vielen osteuropäischen Ländern nach 1989 erfolgten Privatisierungen, bieten aber auch Schutz für illegale Unternehmungen wie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel.
Zypern profitierte enorm von den Bürgerkriegen im Libanon und in Jugoslawien sowie von den chaotischen Eigentumsrechten in Russland und der Ukraine. Montenegro, der kleinsten der früheren jugoslawischen Republiken, gelang nicht zuletzt dank des massiven Zigarettenschmuggels die wirtschaftlich erfolgreichste Wende.
Die alte Vorstellung von der „Überlebensfähigkeit“ von Nationalstaaten, basierend auf einer bestimmten Mindestgröße, ist heutzutage schlichtweg falsch. Diese Staaten werden antifragil. Der Erfolg solcher Staaten wird auf subnationaler Ebene reproduziert.
All diese Staaten sind im Sinne Talebs antifragil. Doch ihr Erfolg lehrt uns auch etwas über die Auswirkungen der Globalisierung. Er belegt, dass die alte Vorstellung von der „Überlebensfähigkeit“ von Nationalstaaten, basierend auf einer bestimmten Mindestgröße, heutzutage schlichtweg falsch ist.
Unter der Globalisierung können kleine Staaten gedeihen, indem sie sich auf Nischenaktivitäten spezialisieren. Sie müssen keine Autos oder Mobiltelefone produzieren, um reich zu werden. Sie brauchen nicht einmal einen Inlandsmarkt. Es reicht völlig aus, ein Geschäftsmodell aufzutun, das relativ wenige andere Länder anbieten und für das es weltweit eine wachsende Nachfrage gibt, weil die Welt volatiler wird, rechtloser oder korrupter. Diese Staaten werden antifragil.
Der Erfolg solcher Staaten wird auf subnationaler Ebene reproduziert. Große Städte wie London, New York, Miami und Barcelona bieten Dienstleistungen und Einrichtungen an, die wir auch in kleinen Nationalstaaten finden (Vermögenssicherung, professionelle Geldwäsche), können zusätzlich aber mit Agglomerationseffekten (wachsende Skalenerträge dank der physischen Anwesenheit zahlreicher Firmen an einem Ort) und einem florierenden Immobilienmarkt aufwarten. Auch sie sind antifragil.
Das wirkt sich auf die politischen Gegebenheiten in den Nationalstaaten aus, in denen solche Städte angesiedelt sind. Eine globale Stadt ist zunehmend mit anderen globalen Städten und anderen Ländern verbunden und immer weniger mit ihrem eigenen Umland. Fernand Braudel spricht in diesem Zusammenhang von einer Weltstadt, ville-monde.
Während Nationalstaaten politisch und wirtschaftlich fragmentieren und von Fall zu Fall (etwa beim Klimawandel) nachgewiesenermaßen nicht der richtige Ort für die Lösung von Problemen sind, florieren die Weltstädte.
Eine solche ville-monde erinnert an mittelalterliche Städte, die oft mächtiger waren als viel größere Staaten. Städte wie Venedig und Genua büßten ihre Macht mit dem Aufkommen der Nationalstaaten ein, die sich zu politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kolossen entwickelten und die Stadtstaaten schluckten oder in die Bedeutungslosigkeit abdrängten.
Doch mit der Globalisierung kehren sie zurück. Während Nationalstaaten politisch und wirtschaftlich fragmentieren und von Fall zu Fall (etwa beim Klimawandel) nachgewiesenermaßen nicht der richtige Ort für die Lösung von Problemen sind, florieren die Weltstädte. In vielen wird bereits völlig anders gewählt als im Umland: London hat eine solide Mehrheit gegen den Brexit (60 Prozent), Budapest, Istanbul und Moskau wählten gegen die autoritären Staatschefs ihrer Länder, und New York steht an der Spitze einer „Rebellion“ gegen ihren eigenen Bürger, der aktuell Präsident der Vereinigten Staaten ist.
Die zentrale politische Frage des 21. Jahrhunderts wird lauten, wie ein Modus vivendi zwischen den globalisierten großen Städten mit den dort lebenden Eliten und dem Rest der jeweiligen Nation aussehen kann. Wird es eine Umverteilung politischer Macht innerhalb der Länder geben, endlose Spannungen zwischen „Globalisten“ und „Nativisten“ oder in extremis gar eine Abspaltung der antifragilen Weltstädte?
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.