Wenn Kubas Präsident Miguel Diaz-Canel eine Rede an die Nation ankündigt, bereitet sich die Bevölkerung resigniert auf die nächste Katastrophenmeldung vor. So war es auch am 17. Oktober. Nachdem auf der halben Insel der Strom ausgefallen war, besuchte Diaz-Canel am Abend den staatlichen Stromversorger und verkündete dort den Energienotstand. Schulen würden geschlossen, kulturelle und sportliche Veranstaltungen gestrichen, um den wenigen noch verfügbaren Strom zu sparen für Krankenhäuser und Betriebe, die mit der Herstellung von Nahrungsmitteln befasst sind. Schuld an der Misere sei das US-Embargo, bemühte Diaz-Canel das alte Argument.

Wenige Stunden später lag dann aufgrund einer Panne im größten Heizkraftwerk die ganze Insel in Finsternis – auch vier Tage später hatte erst ein Drittel des Landes wieder Strom. Der Kollaps der Energieversorgung ist symptomatisch für die tiefe Krise des Landes. Ein veraltetes Stromnetz und fehlende Investitionen sowie die Abhängigkeit von importiertem Öl haben Kuba in einen Teufelskreis manövriert, der die Führung nun auf eine harte Probe stellt. 

Denn ohne Strom wird weniger produziert, was zum einen die Versorgungslage auf der Insel verschärft und zum anderen die Devisengenerierung für Importe schmälert. Stromausfälle schrecken Urlauber ab und bremsen die touristische Erholung. Anders als Nachbarländer wie die Dominikanische Republik hat sich der Tourismus bis dato nicht von der Pandemie erholt – obwohl der Sektor, der vom kubanischen Militär dominiert wird, die meisten staatlichen Investitionen erhält. 2023 besuchten nur 2,4 Millionen Urlauber das Land – 2018 waren es noch 4,7 Millionen gewesen.

Politisch haben Stromausfälle destabilisierendes Potenzial. Im Sommer 2021 lösten sie eine große Protestwelle aus, die von der Staatssicherheit niedergeschlagen wurde; über 1 000 Demonstrantinnen und Demonstranten wurden zur Abschreckung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Für die Bevölkerung sind Blackouts ein Horrorszenario: Denn ohne Strom gibt es auch kein Wasser, da die Pumpen ausfallen. Und die wenigen Lebensmittel in den Kühlschränken verrotten in der tropischen Hitze, wenn sie nicht schnell gekocht und verzehrt werden.

Immer wieder wurde in kritischen Momenten das Internet unterbrochen.

Auch beim neusten nationalen Stromausfall blieben die Reaktionen der leidgeplagten Bevölkerung nicht aus: Auf sozialen Netzwerken wurden immer wieder Videos gepostet, die Anwohner zeigen, die im Schutze der Dunkelheit aus Protest auf ihre Kochtöpfe schlagen und regimekritische Parolen brüllen oder ihrer Wut anonym mit Hasstiraden Luft machen. Neu ist das nicht: Die kubanische Konfliktbeobachtungsstelle (OCC) hatte bis August fast 700 Proteste im ganzen Land registriert, meist im Zusammenhang mit Unzufriedenheit über staatliche Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, Abwasser oder den öffentlichen Transport.

Diaz-Canel reagierte erwartungsgemäß: In Militäruniform warnte er seine Landsleute vor Vandalismus und schickte die Polizei auf die Straßen. Immer wieder wurde in kritischen Momenten das Internet unterbrochen. Die Frage ist, wie lange diese Strategie noch funktioniert. Das kubanische Führerduo – Präsident Diaz-Canel und Ministerpräsident Manuel Marrero – haben weder die Legitimität der historischen Revolutionsführer noch ihr Charisma. Ihre Reformspielräume sind aufgrund eines allmächtigen bürokratischen Apparats minimal, und die Umstände spielen gegen sie.

2019 übernahm der damals 59-jährige Diaz-Canel die Präsidentschaft vom greisen Revolutionsführer Raúl Castro. Einige Kubaner schürten Hoffnung, mit der Verjüngung der Staatsspitze werde ein neuer Wind wehen und wirtschaftliche Reformen würden Fahrt aufnehmen. Doch dafür passte schon das Timing nicht: Zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme waren das politische Tauwetter und der wirtschaftliche Aufschwung im Kielwasser des historischen Besuchs von US-Präsident  Barack Obama 2016 schon am Abflauen. US-Präsident  Donald Trump hatte die Sanktionen wieder verschärft und unter anderem dem Kreuzfahrttourismus einen Riegel vorgeschoben, europäischen Touristen das ESTA-Visum gestrichen, wenn sie nach Kuba flogen und die Devisen-Rücküberweisungen des Exils verteuert. Das Bruderland Venezuela schlitterte zudem in eine Wirtschaftskrise und drosselte die großzügigen Erdöllieferungen – die Kuba eine Zeitlang sogar einen Re-Export der Überschüsse ermöglicht hatten. Und 2020 brachte dann auch noch die Pandemie den Tourismus zum Stillstand, der bis dahin jährlich knapp eine Milliarde US-Dollar ins Land gespült hatte.  

Das Ergebnis ist eine katastrophale Krise: 2019 und 2020 schrumpfte die kubanische Wirtschaft um insgesamt elf Prozent, seither wächst sie nur zwischen ein und zwei Prozent pro Jahr. Die Inflation liegt bei rund 30 Prozent. Knapp eine Million Kubanerinnen und Kubaner haben seit der Pandemie ihre Heimat verlassen; zurück bleiben vor allem die älteren Menschen. 89 Prozent der kubanischen Bevölkerung gelten einer neueren Studie von Exilkubanern zufolge als arm, andere Experten schätzen sie auf mindestens 30 Prozent. Es ist der schlimmste wirtschaftliche Einbruch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre; eine Phase der Entbehrung, die in Kuba als „Sonderperiode“ in die Geschichte einging.

Trotz schlechterer Ausgangsbedingungen haben China und Vietnam Kuba weit überholt.

Diaz-Canel versuchte, den wirtschaftlichen Niedergang mit einer missglückten Währungsreform zu stoppen, mit Gehaltserhöhungen im Staatsdienst sowie mit Lockerungen der Auflagen für private Kleinunternehmer. Er suchte neue Kreditgeber und Handelspartner in Iran, China und Russland. Diese schicken immer mal wieder humanitäre Hilfe, eine Ladung Reis, ein paar Touristenflieger, einen Öltanker oder installieren Solarparks (China). Von der türkischen Holding Karadeniz leaste das Regime sieben schwimmende Kraftwerke. Mexiko nahm 3 750 kubanische Ärzte unter Vertrag – ein Großteil des Lohns geht direkt an den kubanischen Staat – und liefert täglich 30 000 Fass Öl.

Doch das alles ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Allzu viel Lust, Kubas Mangelwirtschaft zu subventionieren, scheint nicht einmal das kommunistische China zu haben, wenn man Presseberichten Glauben schenken kann. Demnach ist China verärgert über hunderte Millionen US-Dollar ausstehende Schulden. Mangels ausreichender Zuckerproduktion auf Kuba stornierte Peking zudem einen Liefervertrag über 400 000 Tonnen jährlich und forderte von der Führung endlich strukturelle Reformen der Wirtschaft.

Wie mögliche Alternativen aussehen könnten, hat der Ökonom Carmelo Mesa-Lago in einer vergleichenden Studie skizziert: Trotz schlechterer Ausgangsbedingungen haben China und Vietnam Kuba weit überholt. Wirtschaftlich betrachtet wuchs das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt Chinas von 2009 bis 2020 fast achtmal so schnell wie das Kubas, das Vietnams fünfmal so schnell. Auch sozial schneiden die Länder besser ab: Im Jahr 2021 lag die Müttersterblichkeitsrate pro 100 000 Lebendgeburten bei 23 in China, bei 46 in Vietnam und bei 39 in Kuba. Mesa-Lago stellte fest, dass Kubas Modell von Planwirtschaft und großen Staatsunternehmen dominiert wird, während im chinesisch-vietnamesischen Marktsozialismus kleine und mittlere Unternehmen eine zentrale Rolle spielen. Der Anteil des Staatssektors am Bruttoinlandsprodukt lag 2019 in Vietnam bei 27 Prozent, in China bei 31 Prozent und in Kuba bei 91 Prozent.

Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand, doch die marktwirtschaftliche Öffnung scheiterte immer wieder. Zum einen am Widerstand der kommunistischen Bürokratie, die um ihre politische Kontrolle fürchtet, und zum anderen am Militär, das Tourismus, Finanzen und Telekommunikation kontrolliert und bei einer Öffnung wirtschaftliche Privilegien verlieren würde. Doch so groß wie jetzt war der Reformdruck seit 1990 nicht mehr.

So groß wie jetzt war der Reformdruck seit 1990 nicht mehr.

Eine Option sind Reformen nach chinesischem Modell: eine marktwirtschaftliche Öffnung für kleine und mittlere Unternehmen bei gleichzeitiger Beibehaltung der politischen Kontrolle durch die Kommunistische Partei (Einparteienstaat). Dieses Modell hatte Raúl Castro eine Zeitlang favorisiert. Nicht einmal ihm gelang es jedoch, es in letzter Konsequenz gegen den Widerstand der Partei und seines Bruders Fidel durchzusetzen. Er wurde immer wieder ausgebremst. Es ist daher unwahrscheinlich, dass dies Diaz-Canel gelingen könnte.

Die zweite Option ist der osteuropäische Weg des Übergangs zu einer offenen, kompetitiven Marktwirtschaft. Davon träumt die US-Regierung, doch dafür wäre eine Massenmobilisierung der Bevölkerung unter einer starken oppositionellen Führung nötig, um die kommunistische Partei und das Militär zu Zugeständnissen zu zwingen. Dies würde mit dem Verlust der Privilegien der Elite einhergehen. Die kontrolliert jedoch einen sehr effizienten Repressionsapparat, der bislang keine Schwächen an den Tag gelegt hat. Daher ist auch dieses Szenario unwahrscheinlich.

Die dritte Option ist das russische Modell, bei dem aus dem alten Staatsapparat und dem Militär eine neue Oligarchie entsteht, die sich privatisierte Staatsunternehmen sichert und über ihre alten Netzwerke Staat und Wirtschaft maßgeblich kontrolliert. Das würde der aktuellen Elite den Machterhalt bei gleichzeitiger Marktöffnung garantieren. Es gibt einige Anzeichen – unter anderem die Anwesenheit russischer Berater –, dass dies die favorisierte Variante der aktuellen Führung sein könnte.

Das vierte Szenario – in der Vergangenheit schon mehrfach durchexerziert – ist eine politische und ideologische Verhärtung der Führung zur Verteidigung des Status quo. Der Bevölkerung drohen dann noch mehr Repression und Entbehrungen, was voraussichtlich die Emigration weiter anheizt. Sollte Hardliner Donald Trump die US-Wahlen gewinnen, wäre dies das wahrscheinlichste Szenario.

Noch sind die Würfel in der Luft. Wie sie letztendlich fallen, hängt von vielen Faktoren im In- und Ausland ab. Aber zumindest drei der vier Varianten implizieren einen mehr oder weniger großen Wandel. Das ist derzeit der einzige Strohhalm, an den sich die rund neun Millionen Kubaner, die noch auf der Insel leben, klammern können.