Im Stadtviertel Campiña von Caracas befindet sich in einem in die Jahre gekommenen, grün angestrichenen Haus die Pa­­­­rteizentrale der Christdemokraten (COPEI). Einst war COPEI eine der beiden großen Parteien in Venezuela. Der 1958 nach dem Ende der Diktatur geschlossene Pakt von Punto Fijo mit der sozialdemokratischen Accion Democrática (AD) etablierte im Erdölstaat ein Zwei-Parteien-System, das für Abwechslung, gegenseitige Kontrolle und politische Stabilität sorgte. Das Modell war ein Vorbild für viele lateinamerikanische Länder in der Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie.

Doch noch einmal wird COPEI diese Rolle nicht spielen. Diese Tage erlebte Venezuela zwar einen epischen Wahlkampf, in den die bürgerliche Opposition so stark und geeint ging wie nie zuvor. Aber COPEI war nicht mit von der Partie. 2019 intervenierte die sozialistische Justiz und legte die Führung der Partei in die Hände von Politikern, die Machthaber Nicolás Maduro nahestehen. Dasselbe passierte mit den Sozialdemokraten. Beide Traditionsparteien sind ins Regime zwangseingegliedert worden und schickten Marionettenkandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft – damit es so aussehe, als herrsche Pluralismus und Demokratie in Venezuela.

Machthaber Nicolás Maduro fuhr noch eine ganze Menge anderer Tricks auf, um sich seine Wiederwahl zu sichern. Geplant hatte er die Wahl, um sich einen demokratischen Anstrich zu geben und das sanktionierte Land international wieder salonfähig zu machen. Auf internationalen Druck hin ließ er einen einzigen wirklichen Oppositionskandidaten zu – den er für schwach genug hielt, um ihn zu besiegen. Das Kalkül ging gründlich schief. Letztlich blieb dem unpopulären Sozialisten, unter dem die Korruption blüht und die Wirtschaft um 75 Prozent geschrumpft ist, nur noch die Flucht nach vorne. Von seinem Wahlrat ließ er sich überstürzt und ohne überprüfbare Zahlen zum Sieger erklären. Laut Wahlakten der Opposition kam er nur auf 30 Prozent der Stimmen, sein bürgerlicher Herausforderer Edmundo González Urrutia auf 67 Prozent.

Seither klammert sich Maduro mit brachialer Gewalt an die Macht. Er hat eine Welle der Repression gegen seine Gegner sowie friedliche Demonstranten vom Zaun getreten. Dafür nimmt er die internationale Isolation in Kauf – als neuen Präsidenten anerkannt haben ihn bislang nur Nicaragua, Kuba, Honduras, Bolivien, China, Iran und Russland – und einen Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof, der schon länger wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt.

Die Nachbarländer unter Führung von Brasilien und Kolumbien, mit Unterstützung der USA, der EU, der katholischen Kirche und der Vereinten Nationen, versuchen derzeit fieberhaft, Dialog- und Verhandlungskanäle zu öffnen. Ob die Führungsclique das Angebot annimmt, ist unklar. Doch wie ist es der Opposition überhaupt gelungen, eine autoritäre Führung so in die Enge zu treiben? Ein genauer Blick auf ihre strategischen Fehler und Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte lohnt sich. Denn Venezuela war regionaler Vorreiter auf dem Pfad des Populismus des 21. Jahrhunderts, der über die Jahre hinweg immer autoritärer wurde. Mittlerweile gibt es in Lateinamerika zahlreiche hybride Regime unterschiedlichster ideologischer Couleur. Und der Rückhalt für die Demokratie schwindet laut dem Institut Latinobarometro von Jahr zu Jahr. Die noch verbleibenden Demokraten können aus der Erfahrung Venezuelas fünf wichtige Lehren über den Umgang mit Populisten lernen.

Erstens: Wahlboykotte gehen nach hinten los. Schon Maduros sozialistischer Vorgänger Hugo Chávez setzte massiv staatliche Gelder für seinen Wahlkampf und den Stimmenkauf ein. Die Opposition protestierte gegen diese Verletzung des Fairplays, 2005 zogen sich die wichtigsten Parteien aus Protest vom Parlaments-Wahlkampf zurück. Der Schuss ging nach hinten los: Der Weg war frei für Chávez, um ganz legal seine Macht auszubauen. In fünf Jahren winkte der Kongress 150 Gesetze durch, darunter ein Ermächtigungsgesetz, das es der Regierung eineinhalb Jahre lang erlaubte, per Dekret zu regieren. Zu den besonders kritisierten Gesetzen gehörten die Verstaatlichung der Erdölindustrie, die Beschränkung der Autonomie der Zentralbank und die Entmachtung der Regionen und Kommunen. Außerdem ernannte der sozialistisch dominierte Kongress die Mitglieder des Wahlrats, den Generalstaatsanwalt und das Oberste Gericht. Damit war die Gleichschaltung „demokratisch“ vollzogen. Dennoch wiederholte die Opposition diese gescheiterte Strategie mehrfach, unter anderem bei der umstrittenen Wiederwahl von Maduro 2018.

Zweitens: Mehrere Male gab es Versuche, einen Machtwechsel gewaltsam herbeizuführen. 2002 scheiterte die Opposition zweimal: Erst mit Massenprotesten, die in einem Massaker und einem improvisierten und nur kurz währenden zivil-militärischen Staatsstreich gipfelten. Und dann mit einem Erdölstreik, der die wichtigste Industrie des Landes wochenlang lahmlegte. Aus beiden Feuerproben ging der damals populäre Chávez gestärkt hervor. Er nutzte die Gelegenheit, die Streitkräfte und den staatlichen Erdölkonzern PDVSA von Kritikern zu „säubern“ und die beiden Schlüsselinstitutionen in seinen Herrschaftsbereich einzugliedern. Außerdem konnte er daraus sein Narrativ des sozialistischen Underdogs, der gegen die finsteren Mächte des Imperialismus kämpft, glaubhaft nähren. Zumal die USA in einige dieser gewaltsamen Episoden indirekt verwickelt waren – etwa die Trump-Regierung in den Versuch, mit Parlamentsführer Juan Guaidó 2019 eine Gegenregierung zu etablieren. Weitere derartige Versuche umfassen ein gescheitertes Attentat per Drohne auf Maduro 2018 und eine gescheiterte Invasion 2020. Jedes Mal reagierte das Regime mit internen Säuberungen, mit Repression und einer Verengung der demokratischen Spielräume. Die Führungsclique wurde so zusammengeschweißt und letztlich gestärkt.

Drittens: Lange betrieb die Opposition „business as usual“. Interne Machtspielchen waren gang und gäbe. Ihre Anführer legten sich gegenseitig Steine in den Weg und konnten sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen. Hardliner, Gemäßigte und Aussöhner lagen im Clinch. Zu den strategischen Differenzen kamen persönliche Ambitionen. Das erleichterte Chávez und Maduro die Aufsplitterung der Opposition. Einige Politiker ließen sich von der Regierung kooptieren, andere wurden unter Druck gesetzt und gingen ins Exil oder zogen sich aus der Politik zurück. So existierte die Opposition zwar weiter, ohne aber den Machterhalt der Sozialisten zu gefährden.

Viertens: Der massiven Propaganda konnte die Opposition lange kein eigenes, überzeugendes Narrativ entgegensetzen. Sie ließ sich von der Agenda der Regierung treiben und wurde so in der Öffentlichkeit lediglich als „Anti-Chávez“ wahrgenommen. Viele Jahre lang blieb die Diskussion um den Abbau der Demokratie ein Thema der politischen Eliten und des Bildungsbürgertums. In den Armenvierteln ging es prioritär um soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Anerkennung – Themen, die die elitenfixierte Opposition nicht bediente. Da unter Chávez der Erdölpreis Rekordhöhen erreichte, hatte der Staat zudem genügend Geld zu verteilen, um seine Klientel bei Laune zu halten – mit Dutzenden von Sozialprogrammen, die als Gegenleistung Loyalität zum Führer verlangten.

Fünftens: Einheit und Erneuerung von unten waren für die Opposition unverzichtbar. 2008 begann sie, ihre Strategie zu ändern. In dem Jahr schloss sie sich zum Tisch für Demokratische Einheit (MUD) zusammen. Das zahlte sich aus: Sie gewann bei Bürgermeister- und Regionalwahlen einige wichtige Positionen, zum Beispiel siegte der noch junge Oppositionspolitiker Carlos Ocariz im Osten von Caracas, einer einstigen Hochburg der Sozialisten, und Antonio Ledesma gewann in der Hauptstadt. Eine neue, sozial diversere Generation von Studentenführern stieg in den Oppositionsparteien auf und begann, in den Armenvierteln soziale und politische Basisarbeit zu machen. 2015 gewann dann die Opposition bei den Parlamentswahlen eine klare Mehrheit. Doch sie konnte kein Kapital aus dem Sieg schlagen. Es war die letzte freie Wahl. Die oppositionellen Bürgermeister wurden entmachtet, indem ihnen ein vom Präsidenten ernannter Präfekt vorgesetzt wurde, der die Kontrolle über die Haushaltsmittel bekam. Das oppositionelle Parlament wurde nicht anerkannt, stattdessen ließ das Regime ein neues wählen. Es war bitter: Als die Opposition die Spielregeln des Populismus verstanden hatte, änderte das Regime sie kurzerhand und zwang ihre Gegner dazu, sich wieder neu aufzustellen, diesmal im Autoritarismus mit einem noch ungleicheren Spielfeld.

Naturgemäß ist es schwer, die Propaganda- und Machtschemata charismatischer populistischer Führer zu durchbrechen. Rezepte des demokratischen Alltags funktionieren nur bedingt. Hinzu kommt, dass populistische Herrscher in der Regel nicht vom Himmel fallen, sondern an konkrete Repräsentationsdefizite der traditionellen demokratischen Systeme andocken. Sie regieren mit Emotionen, nicht mit messbaren Programmen. Dämmert ihren Wählern der Schwindel, ist es oft zu spät, und demokratische Gegengewichte und Instanzen sind demontiert. Venezuelas Führerduo Chávez und Maduro hatte zudem das historische Glück, ein Jahrzehnt lang seine Klientel mit sprudelnden Erdölmilliarden bei Laune halten zu können. Die Opposition brauchte lange, um sich personell, inhaltlich und strategisch an die neue Herausforderung anzupassen. Aber sie hat nie aufgegeben. Am 28. Juli hat sie ihren größten Erfolg der letzten 25 Jahre eingefahren. Der Erdölsozialismus ist wirtschaftlich und ideologisch bankrott und hat den Rückhalt in der Bevölkerung verloren – Maduro will es nur noch nicht wahrhaben.