In vielerlei Hinsicht ist der Wahlsieg von Luis Inácio Lula da Silva bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag historisch. Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens hat es ein amtierender Präsident nicht geschafft, die Wiederwahl zu gewinnen. Jair Bolsonaro hatte in den Monaten vor der Wahl die öffentlichen Ausgaben nochmal massiv erhöht und Benzin subventioniert, um kurzfristig seine Zustimmungswerte zu verbessern. Allein während des Wahlkampfs gab die Regierung zusätzlich 68 Milliarden Real (mehr als 13 Milliarden Euro) aus, um den kurzzeitigen Eindruck zu erwecken, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert habe.

Eine großangelegte Fake-News-Kampagne von Verbündeten des Präsidenten versuchte zudem die Wählerinnen und Wähler davon zu überzeugen, dass Lula ein gottloser Kommunist sei, der Kirchen verbieten und Kinder zwingen würde, in Schulen Unisex-Toiletten zu nutzen. Beinahe hat es geklappt. Trotz einer Anti-Amtsinhaber Stimmung in ganz Lateinamerika, die zuvor zu 14 Siegen der Opposition in Folge führte, erhielt Präsident Bolsonaro 49,1 Prozent aller Stimmen – lediglich 2 Millionen weniger als Lula da Silva.

Entscheidend für den Sieg Lulas war eine beispiellose Strategie der Opposition, ein sehr breites pro-demokratisches Bündnis aufzubauen. Sehr bald nach der Wahl von Jair Bolsonaro im Jahr 2018 wiesen immer mehr Stimmen in der Opposition, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft im In- und Ausland darauf hin, dass Bolsonaro die größte Bedrohung für Brasiliens Demokratie seit der Demokratisierung Ende der 1980er Jahre darstellt. Nach seiner Wahl zum Präsidenten knüpfte Bolsonaro weitgehend an seine anti-demokratische Rhetorik an – die auf der Strategie autoritärer Populisten in Ungarn, Venezuela, der Türkei, Nicaragua sowie dem ehemaligen US-Präsidenten Trump beruhte –, und versuchte, das Wahlsystem Brasiliens zu diskreditieren.

Bolsonaro bestand darauf, er hätte 2018 in der ersten Runde statt in der Stichwahl gewonnen und griff Medien, Universitäten sowie die Justiz an. Zudem verbreitete er immer wieder „globalistische“ Verschwörungstheorien. Genau wie Trump, den Bolsonaro offen bewundert, trat der brasilianische Präsident als führender Covid-Leugner auf und griff Peking während der Pandemie systematisch an, weil es das „China-Virus“ in einem Akt der „chemischen Kriegsführung“ produziert habe. Genau wie sein populistischer Amtskollege in Venezuela, Hugo Chávez, militarisierte Brasiliens Präsident seine Regierung mit mehr als 6 000 Armeeangehörigen, die in die Ministerien einrückten, viele davon in Schlüsselpositionen.

Angetrieben von dem Szenario, dass populistische Kandidaten mit autoritären Ambitionen in der Regel ermutigt aus einer Wiederwahl hervorgehen, haben sich seit Anfang des Jahres unzählige brasilianische Oppositionelle einer bemerkenswert breiten Koalition unter Führung von Lula angeschlossen – darunter progressive Politiker wie Guilherme Boulos, ehemalige Banker und orthodoxe Ökonomen wie Henrique Mereilles, Arminio Fraga und Persio Arida, Zentristen wie Aloysio Nunes und der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso sowie konservativ-liberale wie João Amoêdo, Gründer der Novo-Partei, deren Mitglieder weitgehend Bolsonaro unterstützen.

Während Brasiliens Demokratie das Schlimmste fürs Erste abgewehrt hat, gibt es keinen Grund zur Entwarnung.

Bemerkenswerterweise waren auch zahlreiche Politiker vertreten, die jahrelang erbitterte Rivalen von Lulas Arbeiterpartei PT gewesen waren. Ein gutes Beispiel ist Marina Silva, die in den ersten fünf Jahren der Lula-Regierung Umweltministerin war, 2008 aus Protest zurücktrat und 2014 gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff kandidierte. Obwohl sie Lula nicht offen unterstützten, unterzeichneten einflussreiche Institutionen wie der Industrieverband des Bundesstaates São Paulo (FIESP) einen Brief zur Unterstützung der Demokratie, ein starkes Signal, dass Bolsonaro nicht damit rechnen konnte, industrielle Eliten auf seiner Seite zu haben, wenn er versuchen würde, auf illegale Art und Weise an der Macht zu bleiben.

Um eine breitere Wählerschaft zu erreichen, wählte Lula keinen Vertreter der Arbeiterpartei, sondern einen ehemaligen Mitte-rechts-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, zu seinem Kandidaten als Vizepräsident. Alckmin war 2006 bei Lulas Wiederwahl gegen ihn angetreten. Er beschuldigte Lula damals, für die Wiederwahl zu kandidieren, um „zum Tatort zurückzukehren“ – eine Anspielung auf Korruptionsvorwürfe während Lulas erster Amtszeit.

Diese sehr breit aufgestellte Allianz ermöglichte es der Opposition, die Wahl als einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie zu gestalten und gleichzeitig viele Zentristen davon zu überzeugen, dass Lula, wenn er gewählt würde, eine moderate Regierung führen würde, die die extreme Polarisierung überwinden könnte, die die letzten vier Jahre geprägt hat.

Während Brasiliens Demokratie das Schlimmste fürs Erste abgewehrt hat, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Umfragen deuten darauf hin, dass die Mehrheit der Wähler Bolsonaros einen Lula-Sieg nicht akzeptieren wird, was darauf hindeutet, dass Millionen Brasilianer die Legitimität des neuen Präsidenten in Frage stellen werden. Brasilien ist wütender, ungleicher und weitaus stärker polarisiert als vor 20 Jahren, als Lula zum ersten Mal Präsident wurde. Dass mehr als 49 Prozent aller brasilianischen Wählerinnen und Wähler einen rechtspopulistischen Präsidenten mit klar autoritären Plänen unterstützen, muss zu denken geben und verheißt nichts Gutes.

Während Lula eine Regierungsmehrheit im Kongress bilden wird, haben zahlreiche Bolsonaro-Verbündete bei Gouverneurs-, Kongress- und Senatswahlen triumphiert. Bolsonarismo, eine Mischung aus sozialem Konservatismus und dem Langen nach einer autoritären Führungsfigur, ist nun Teil der politischen DNA Brasiliens. Zwar haben mehrere Verbündete Bolsonaros – und der Großteil der internationalen Gemeinschaft – den Wahlsieg Lulas bereits anerkannt. Die Streiks der Lkw-Fahrer nach der Wahl, die Bolsonaro auffordern, das Ergebnis nicht anzuerkennen und einen Staatsstreich anzuführen, geben einen Vorgeschmack dessen, was Brasilien in den nächsten Jahren erwartet.

48 Stunden nach der Wahl herrscht in São Paulo eine angespannte Ruhe. In mindestens elf Bundesstaaten sind Autobahnen blockiert und der Druck auf die Polizei – die Bolsonaro nahesteht – wächst, gegen die Blockaden vorzugehen. Seit gestern ist auch die Zugangsstraße zum internationalen Flughafen von São Paulo, dem größten des Landes, blockiert. Je länger Präsident Bolsonaro die Anerkennung seiner Niederlage hinauszögert, desto größer ist die Gefahr einer brasilianischen Version des 6. Januar, als Trump-Anhänger versuchten, die Machtübergabe zu verhindern.