Ja, es ist wahr: Anfang Oktober gewann mit Jair Messias Bolsonaro ein autoritärer, rassistischer, machistischer und homophober Politiker den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Eine Person, die die reaktionärsten Werte verkörpert, steht vor der Übernahme der brasilianischen Präsidentschaft. Damit stehen Brasilien und Lateinamerika vor einem neuen Szenario, das sich nicht auf das Ende der sogenannten „linken Dekade“ im Rahmen demokratischer Regierungswechsel beschränkt. Dass in der Stichwahl am Wochenende möglicherweise ein Kandidat den Sieg davonträgt, der offen die Diktatur verteidigt, steht für die Verherrlichung von Gewalt und die Missachtung aller Werte, auf denen ein demokratisches System beruht.
Bolsonaro ist nicht nur „ein Typ wie Trump“. Er ist ein Kandidat mit faschistischen Zügen in einem Land, dessen Institutionen weitaus weniger gefestigt sind als die der Vereinigten Staaten und das schon jetzt unter starker politischer Gewalt leidet. Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs Anfang Oktober stärken die parlamentarische BBB-Fraktion in einem ungeahnten Ausmaß – BBB steht für Bíblia, Boi e Bala, zu Deutsch Bibel, Rind (Agrarindustrie) und Kugel (Waffenlobby). In den Worten von El País hat Bolsonaros „B“ sie alle vereint – und an die Schwelle der Macht geführt. Die Ablehnung progressiver Politik beschränkt sich jedoch nicht auf Brasilien. Sie greift in der gesamten Region um sich und bedroht die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte.
Nach Ansicht der Historikerin Maud Chirio beruht das zunehmende Gewicht Bolsonaros auf „dem Aufbau einer Feindschaft gegenüber der Arbeiterpartei (PT) und der Linken im Allgemeinen. Dieses Feindbild weckt Erinnerungen an den Antikommunismus des Kalten Kriegs: Verschwörungstheorien, Verteufelung, Gleichsetzung von moralischen Verfehlungen und einem abzulehnenden politischen Projekt. Bolsonaro hat sich die symbolische Kraft dieser Ablehnung zu eigen gemacht. Hinzu kam die Verstrickung der PT in Korruptionsfälle. Es handelt sich nicht um eine Hinwendung der Konservativen zur extremen Rechten, sondern um die Unterstützung eines Projektes, das auf einen Bruch abzielt“. Nach Auffassung des Historikers Zeev Sternhell war der Faschismus mehr als eine Reaktion. Er wurde vielmehr auch als Ausdruck einer Revolution, eines Willens zur Veränderung angesichts eines krisenhaften Status quo wahrgenommen.
Um erneut expandieren zu können, werden die linken und progressiven Kräfte Lateinamerikas die ideologischen Komfortzonen verlassen und die Opferrolle aufgeben müssen.
Die progressiven Kräfte Lateinamerikas können sich ihrer Verantwortung für die „rosaroten“ Regierungsjahre nicht entziehen. Dass so viele Menschen bereit sind, für einen Bolsonaro zu stimmen, um die Rückkehr der PT zu verhindern, muss zu denken geben. Dies gilt umso mehr, da die PT eine Partei war, die ganz Lateinamerika für sich einnehmen konnte, jedoch seit Jahren an Unterstützung verliert. Dass es Ex-Präsidentin Dilma Rousseff entgegen allen Wahlumfragen nicht gelang, für den Bundesstaat Minas Gerais in den Senat einzuziehen, steht sinnbildlich für diese Ablehnung. Und die PT hat viel zum Verlust ihrer ursprünglichen Aura, ihrer moralischen Integrität und ihres Zukunftsprojekts beigetragen. Die Ablehnung lässt sich jedoch nicht nur darauf zurückführen.
Die brasilianischen Eliten nahmen den Klassenkampf light nicht mehr hin, der die Lage der Ärmeren in der Regierungszeit der PT verbesserte, ohne den oberen Schichten etwas wegzunehmen. Brasilien bestätigt einmal mehr, dass die herrschenden Schichten Reformen nur angesichts einer drohenden „Revolution“ akzeptieren. Die Regierungsübernahme durch die PT ging keineswegs mit einer gesellschaftlichen Radikalierung einher. Sie verfolgte allerdings eine Politik, die in einem traditionell sozial ungerechten Land „denen da unten“ unter die Arme griff.
Die derzeitige Ablehnung der progressiven Parteien in Lateinamerika hat eine doppelte Dimension. Überall in der Region ist eine neue Rechte im Entstehen, die für die Ablehnung von sozialen Errungenschaften steht. Der Rassismus stellt sich einer Sichtweise entgegen, die auf den rassenspezifischen Charakter der Armut verweist. Derweil bezieht der Konservatismus gegen den voranschreitenden Feminismus und die sexuellen Minderheiten Stellung. Das zunehmende Gewicht der evangelikalen Politik und die Popularität von Politikern und Kommentatoren, die der „gender ideology“ den Krieg erklärt haben, sind nur einige der Vektoren, an denen sich eine immer heftigere Fortschrittsfeindlichkeit abzeichnet.
Die extreme Rechte vereint zudem einen Teil der Stimmen junger Wähler auf sich und baut Meinungsführer mit einer starken Präsenz in den sozialen Netzwerken auf. Solche Bewegungen stellen sich als gegen die Eliten gerichtet dar, trotz ihres – wie im Falle Bolsonaros – ultraliberalen wirtschaftspolitischen Ansatzes, der von den Märkten enthusiastisch unterstützt wurde. Martin Bergel hat darauf hingewiesen, dass eine Erzählung sich als sehr wirksam erwiesen hat, in der die Linke mit den „Privilegien“ bestimmter Gruppen in Zusammenhang gebracht wird, einschließlich ärmerer Bevölkerungsschichten, die Sozialhilfe beziehen, im Unterschied zum Volk, das „tatsächlich arbeitet und nichts bekommt“.
Es ist Bolsonaro gelungen, sich von der Verteufelung zu befreien. Wenn er die Stichwahl gewinnt, wird er weltweit nicht allein stehen.
Das progressive Lager in Lateinamerika steht also vor einer schweren politischen, intellektuellen und moralischen Krise. Die – schwer zu bewältigende – katastrophale Situation in Venezuela kommt der Rechten auf dem Kontinent sehr gelegen, genauso wie die Repressionen durch parapolizeiliche Gruppen in Nicaragua. Der kürzliche Aufruf von Bernie Sanders, eine neue Progressive Internationale aufzubauen, die sich vor allem auf den Kampf gegen den weltweit zunehmenden Autoritarismus und die Ungleichheit konzentrieren soll, ist sicherlich angebracht. In Lateinamerika aber ist er schwer vorstellbar. Die dortige Linke begeistert sich zum großen Teil für Figuren wie Wladimir Putin, Baschar al-Assad und Xi Jinping als angebliche Gegengewichte zum „Imperium“.
Die letzte Zusammenkunft des Forums von São Paulo, das traditionell die linken Kräfte in der Region vereint, stand ganz im Zeichen von Aufrufen zum „Widerstand“ und zum Durchhalten. Der Tagungsort Havanna und die Anwesenheit von Vertretern des konservativsten Flügels der kubanischen Regierung verstärkten den ideologischen Rückzug auf einen antiimperalistischen Diskurs voller Nostalgie nach der Figur des verstorbenen Kommandanten Fidel Castro. Raum für eine gründliche Analyse der Erfahrungen und Rückschläge der letzten Jahre blieb nicht. Die rückhaltlose Verteidigung von Nicolás Maduro und Daniel Ortega war die logische Folge. Um erneut expandieren zu können, werden die linken und progressiven Kräfte Lateinamerikas aber die ideologischen Komfortzonen verlassen und die Opferrolle aufgeben müssen.
Es ist Bolsonaro gelungen, sich von der Verteufelung zu befreien. Wenn er die Stichwahl gewinnt, wird er weltweit nicht allein stehen. Zudem wird – angesichts der Schwäche der regionalen Integrationsforen – niemand in der Region in der Lage sein, ihn in die Schranken zu weisen. Ein Sieg des früheren Hauptmanns wäre einer der schwersten Rückschläge für die Demokratie seit den Militärdiktaduren der Siebziger Jahre, mit unabsehbaren Folgen. Das Foto eines Wählers, der sich dabei filmte, wie er die Tasten einer elektronischen Urne mit einem Revolverlauf drückte –und offensichtlich Bolsonaro wählte – war eines der aussagekräftigsten Bilder eines Tags, der nichts Gutes für Brasilien und Lateinamerika verheißt.
Aus dem Spanischen von Dieter Schönebohm.
Erstveröffentlichung des Beitrags in Nueva Sociedad.
Auch im britischen Journal erschienen: www.ips-journal.eu/index.php