Auf den ersten Blick war er eine Art brasilianischer Humboldt. Unermüdlich bereiste und erforschte der brasilianische Marschall Cândido Rondon Anfang des 20. Jahrhunderts die Amazonasregion, stellte Telegrafen auf und besuchte und katalogisierte bis dahin in Brasilien kaum bekannte indigene Völker. Doch was ihn antrieb, war nicht ein universeller Forscher- und Erkenntnisdrang wie bei Humboldt, sondern die Erschließung einer Region, die den brasilianischen Streitkräften als Achillesferse galt.

Die erste sichtbare Bastion des brasilianischen Staates am Amazonas waren Kasernen. Nicht nur um die Sicherung der Souveränität ging es, sondern auch um die wirtschaftliche Erschließung – und zwar in Kooperation mit den USA, dem traditionellen Partner des brasilianischen Militärs. Prominentester Begleiter Rondons war der ehemalige US-Präsident Theodore Roosevelt, der 1914 mit ihm auf eine beschwerliche Expedition in den Dschungel aufbrach.

Das Ziel der beiden war ein damals wenig bekannter Zufluss des Rio Madeira, der heute unter dem Namen „Rio Roosevelt“ registiert ist und eines der größten Diamantenvorkommen der Erde beherbergt. Amazonien verschwand nicht mehr vom Radar der US-Strategen. Im zweiten Weltkrieg war die US-Rüstungsindustrie auf Kautschuk aus Amazonien angewiesen, zur Herstellung von Reifen für Panzer und Flugzeuge. In der europäischen Wahrnehmung hingegen spielte der strategische Aspekt Amazoniens lange keine Rolle. Stattdessen prägte ein romantisiertes Bild von wilden Tieren, archaisch lebenden Indigenen und undurchdringlichem Dschungel das Bild einer Gegend, die als absolute Peripherie des globalen Kapitalismus galt, als exotisches Spielfeld für Außenseiter und Abenteurer.

Das große Geschäft im Amazonas sind weder Edelhölzer noch Rinder, sondern die Bodenspekulation.

Jetzt, im Zuge der Brände, ist Amazonien ins Interesse der Weltmedien gerückt – doch was die Schlagzeilen prägt, sind verkohlte Gürteltiere, lodernde Bäume und ein polternder Präsident, der auf sein souveränes Recht zur Zerstörung pocht, egal wie wichtig der Regenwald für das Weltklima auch sein mag. Doch was hinter dem Feuerfanal steckt, haben wenige erkannt: ein minutiöser Plan zur wirtschaftlichen Erschließung. Es brennt deshalb nicht willkürlich, sondern genau an den Stellen, an denen die landwirtschaftliche Grenze illegal weiter vorangetrieben wird. Das große Geschäft dabei sind weder Edelhölzer noch Rinder, sondern die Bodenspekulation.

Das brandgerodete Land wird eingezäunt und der Viehwirtschaft einverleibt. Die Rinderbarone legalisieren den Landraub mit Hilfe korrupter Beamter und Notare und warten, bis sich die Sojagrenze weiter voranschiebt, um es dann gewinnbringend zu verscherbeln. Unter Zuhilfenahme gentechnisch veränderter Samen und Tonnen von Agrogiften und Dünger wird der dann bereits ausgelaugte Boden für die Sojabohne nutzbar gemacht, dem großen weltweiten Proteinlieferanten für die Viehmast.

So frißt sich seit Jahrzehnten schleichend die Zerstörung weiter vor in den Dschungel. Und jetzt hat der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro diese Praxis verbal legalisiert und zum Großangriff geblasen. Amazonien soll, so die Hoffnung von Bolsonaros Wirtschaftsberatern, das Land aus der Rezession holen – und nicht nur Brasilien. Die ganze, auf Konsum, fossilen Rohstoffen und Wachstum basierte Weltwirtschaft steckt in einer strukturellen Krise. Selbst Negativzinsen und Konjunkturprogramme verpuffen wirkungslos. Amazonien mit seinen gigantischen Ressourcen – von Land über seltene Erden, Gold und Diamanten bis hin zu einem Drittel der weltweiten Süßwasser-Reserven – ist eine der letzten noch unerschlossenen Wachstumsreserven und deshalb von der Peripherie ins Zentrum eines geopolitischen Pokers gerückt.

„Barão do Rio Branco“– der Name eines herausragenden Diplomaten des 19. Jahrhunderts – so nennt sich der neueste Entwicklungsplan des brasilianischen Militärs, hat das Portal „Intercept“ herausgefunden. Dabei geht es um die Erschließung des bislang noch unberührten nordöstlichen Zipfels Amazoniens, zwischen Santarem und der Grenze zu den drei Guyanas – genau die Region, die Umweltschützer gerne in einen Schutzgebiet verwandeln würden. Der AAA-Korridor von den Anden über den Amazonas bis zum Atlantik ist zu 80 Prozent noch bewahrtes Ökosystem. Laut dem kolumbianischen Ex-Diplomaten und Amazonasexperten Martin von Hildebrand handelt es sich um 250 Millionen Hektar, von denen 140 Millionen indigene oder Naturschutzgebiete sind.

Südamerika wurde in 10 „Entwicklungsachsen“ eingeteilt; jeder wurde eine bestimmte Rolle in der Weltwirtschaft zugedacht – hauptsächlich als Lieferant von Rohstoffen.

„Wir wollen dafür sorgen, dass es ein durchgehendes Gebiet wird, denn für den Wasserhaushalt oder den Lebensraum der Tiere ist die Konnektivität des Ökosystems wichtig. Sobald der Urwald in einen Flickenteppich zerfällt, wird er geschwächt“, so der Träger des Alternativen Umweltnobelpreises. Die Idee wird von der kolumbianischen Regierung und zahlreichen Indigena-Organisationen unterstützt; auch Ecuador, Venezuela und Peru sowie die Guayanas beteiligen sich an den Gesprächen darüber.

Dieser Interessenskonflikt ist ein Grund, weshalb Bolsonaro die Umweltschützer zu seinen Lieblingsfeinden auserkoren hat – bis hin zur Unterstellungen wie der, sie hätten die Feuer gelegt, um Hilfsgelder zu kassieren und seine Regierung anzuschwärzen. Rechtsextreme Autoren im Dunstkreis der Regierung beflügeln solche Thesen mit Argumenten wie z.B. hinter dem Korridor stecke eine grüne Mafia im Dienste britischer (der mexikanische Autor Lorenzo Carrasco) oder chinesisch-kommunistischer (der brasilianische Autor Olavo de Carvalho) Expansionspolitik.

Aber Bolsonaro ist nur ein schriller Handlanger wirtschaftlicher und militärischer Interessen. Die Offensive auf den Regenwald wurde von langer Hand vorbereitet. Auf dem ersten Südamerikagipfel im Jahr 2000 in Brasília stimmten 12 Staats-und Regierungschefs einem Plan der Weltbank zur infrastrukturellen Entwicklung des Subkontinents (IRSAA) zu. Dabei ging es vor allem um Megaprojekte. Südamerika wurde in 10 „Entwicklungsachsen“ eingeteilt; jeder Achse wurde eine bestimmte Rolle in der Weltwirtschaft zugedacht – hauptsächlich als Lieferantin von Rohstoffen.

Amazonien war zum einen für die Land-und Forstwirtschaft vorgesehen, zum anderen als regionaler Energielieferant durch den Bau von Staudämmen, und zum dritten wegen seiner zentralen Lage im Herzen Südamerikas als Transport-Knotenpunkt, um vor allem über seine Wasserstraßen die Verbindung zum Atlantik und Pazifik zu ermöglichen. Präsident Brasiliens war damals Fernando Henrique Cardoso, einer der Begründer der Dependenztheorie, die anprangert, dass Lateinamerika seit der Kolonialisierung von den jeweils herrschenden Mächten nur als Rohstofflieferant betrachtet wurde, und dass unter diesen Vorzeichen eine Entwicklung nur schwer möglich ist. Trotzdem unterzeichnete Cardoso das Dokument. Erfreut waren vor allem die Streitkräfte.

Die Erschließung Amazoniens ging einher mit einer Strategie des US-Geheimdienstes CIA: der Förderung evangelikaler Pfingstkirchen.

Sie hatten während der Militärdiktatur (1964-1985) bereits einen ersten Anlauf zur Erschließung Amazoniens unternommen. Getrieben vom Gespenst einer diffusen ausländischen Intervention und mit Slogans wie „Land integrieren, um es nicht zu verlieren“ und „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ begannen sie in den 60er Jahren mit der Ansiedlung Landloser aus dem Süden oder Nordosten Brasiliens. Diese bekamen ein Stück Land mit der Auflage, dort den Wald zu roden und vorrangig das anzubauen, was die Militärdiktatur geplant hatte, wie zum Beispiel Zuckerrohr. Oder sie dienten als billige Arbeitskräfte in den Megaprojekten wie der Straße Transamazónica, dem Eisenbergwerk von Carajás oder dem Stausee Tucuruí. Rücksicht auf die Umwelt oder die lokale Bevölkerung nahmen die Streitkräfte damals nicht. Indigene Völker galten ihnen als suspekte potenzielle Agenten ausländischer Interessen.

Einer dieser Feinde des von den USA indoktrinierten Militärs war der internationale Kommunismus. Deswegen ging die Erschließung Amazoniens einher mit einer Strategie des US-Geheimdienstes CIA: der Förderung evangelikaler Pfingstkirchen, um der „linken“ Befreiungstheologie der katholischen Kirche eine konservative „Theologie der Prosperität“ entgegenzusetzen, die eine materialistische Weltsicht vermittelt und Naturreligionen verteufelt. Das hat zwei Vorteile: So werden die Indigenen dem modernen, kapitalistischen Wirtschaftskreislauf eingegliedert und zudem ihre kulturellen Wurzeln und ihr Widerstand geschwächt. Heute befinden sich von den fünf Bundesstaaten mit dem größten Anteil evangelikaler Kirchgänger vier am Amazonas.

Abgesehen von der Ansiedlung eines konservativen Arbeiter- und Bauernprekariats in Amazonien war die Bilanz des Militärs aber desaströs: Prostitution und Kriminalität stiegen rasant an, mafiöse Strukturen im Dunstkreis illegaler Gold- und Diamantenschürfer und Holzschmuggler breiteten sich aus und infiltrierten später die dortigen politischen Strukturen. Indigener Widerstand wurde blutig niedergeschlagen, und die Staatsfinanzen hatten wegen der geringen Produktivität der schlecht geplanten Projekte bzw. wegen der geringen Besteuerung von Energie und Bergbau kaum etwas davon.

Das Gebiet zwischen Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien wurde als „Vereinte Sojarepublik“ angepriesen.

Um die Jahrtausendwende rückte Amazonien ins Blickfeld international agierender Konzerne, und IRSAA lieferte den Plan für einen neuerlichen Vorstoß in den Dschungel. Der begann mit dem Bau mehrerer großer Wasserkraftwerke (Komplex Rio Madeira ab 2008 und Belo Monte ab 2011) durch ein Konsortium des staatlichen Energieversorgers Eletrobrás und privaten Baufirmen. Beide Projekte wurden gegen den erbitterten Widerstand eines Teils der Bevölkerung durchgesetzt und hinterließen schwere Schäden im sozialen Gefüge und der Umwelt.

Gleichzeitig begann südlich des Amazonasbeckens eine damals noch wenig bekannte Bohne einen welweiten Siegeszug. Den ersten Hinweis auf den bevorstehenden landwirtschaftlichen Paradigmenwandel brachte eine Anzeige im Jahr 2003, geschaltet vom heute chinesischen, damals aber noch unter Schweizer Kontrolle stehenden Chemiekonzern Syngenta. Darin wurde das Gebiet zwischen Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien als „Vereinte Sojarepublik“ angepriesen.

Es war ein gigantisches Vorhaben, das mit Hilfe lokaler Eliten innerhalb kürzester Zeit in Argentinien die Rinderzucht und in Paraguay die kleinbäuerliche Landwirtschaft durch riesige Monokulturen ersetzte. Das Geschäft war verlockend und brachte vielen Gewinne. Einheimische Eliten bauten Soja an, Regierungen kassierten Exportsteuern, Zulieferer wie Bayer-Monsanto und DowDupont (Pestizide, Düngemittel, Saatgut) oder John Deere (Landmaschinen) steigerten ihre Umsätze. Den großen Reibach allerdings machten diejenigen, die die Logistik kontrollierten und mit Soja an der Börse von Chicago handelten – Konzerne wie Cargill, Bunge, ADM oder Louis Dreyfus.

Bolsonaro will nun den Vormarsch Chinas stoppen und wird darin tatkräftig von US-Präsident Donald Trump unterstützt.

Der Sojaboom brachte China ins Spiel. Das asiatische Riesenland kann mit seinen degradierten Böden seine Bevölkerung nicht versorgen und hat auch nicht genügend Rohstoffe für seine Industrie. Deshalb rückte um die Jahrtausendwende zwangsläufig Südamerika ins Blickfeld der Pekinger Regierung. Die rosarote Welle linker Regierungen, die US-skeptisch waren und im Jahr 2005 auf dem Gipfel in Mar del Plata die gesamtamerikanische Freihandelszone (Alca) beerdigten, half den Chinesen bei ihrem Vorstoß. China wurde rasch zu einem wichtigen Player in Südamerika.

Mit Rohstoffen abgesicherte Kredite an Regierungen, Infrastrukturvorhaben wie eine Bahnlinie von Amazonien bis an den Pazifik und Investitionen (Staudämme, Bergbau, Erdöl) setzten chinesische Duftmarkten auch in Amazonien.  Unter der Regierung der linken Arbeiterpartei (PT) ersetzte China im Jahr 2009 die USA als wichtigster Handelspartner Brasiliens. Nach China gehen heute 27 Prozent der brasilianischen Exporte, in die USA 12 Prozent. Brasilien und China rückten nicht nur im Rahmen der BRICS–Allianz (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) näher zusammen, sondern weiteten ihren Einfluss in neue Weltgegenden aus. Was Insidern zufolge die Alarmglocken in Washington schrillen ließ, waren Investitionen des brasilianischen Konzerns Odebrecht in Libyen.

Bolsonaro will nun den Vormarsch Chinas stoppen und wird darin tatkräftig von US-Präsident Donald Trump unterstützt, dem er trotz mangelnder Qualifikation seinen Sohn als Botschafter schicken will. Doch der geopolitische Poker um die Ressourcen Amazoniens ist komplex, wie Bolsonaro am Beispiel des Niobium erfahren musste. Das Metall, das Stahl leichter und resistenter macht und von dem Brasilien 85 Prozent der weltweiten Ressourcen besitzt, wird von der brasilianischen Familie Moreira Salles in Kooperation mit chinesischen Stahlfirmen (Bao Steel, CITIC, Anshan Iron & Steel, Shougang y Taiyuan Iron & Steel) ausgebeutet. Es ist eine strategische Allianz der chinesischen Firmen mit der lokalen Elite. Hauptabnehmer des Minerals ist Peking.

Bolsonaro forderte im Wahlkampf einen Stopp der Niobium-Exporte nach China – konnte das aber gegen den Widerstand der brasilianischen Elite nicht durchsetzen. Die Beziehung zu China hat er nun in die Hände seines Vize gelegt, General a.D. Hamilton Mourão. Der setzt auf Pragmatismus: „China braucht Rohstoffe, die Brasilien produziert, das müssen wir ausnützen“, ist seine Meinung. Wer den Löwenanteil der Ressourcen Amazoniens ergattert, China oder die USA, ist also noch nicht entschieden.