Das von der Geopolitik vergessene Land – so titelte Foreign Affairs im Oktober 2023. Gemeint war die aktuelle Randlage Lateinamerikas, fernab der größten geopolitischen Auseinandersetzungen. Während Konflikte und Instabilität von der Ukraine über den Nahen Osten bis hin zum Südchinesischen Meer zunehmen, befindet sich die relativ ruhige Region am Rande des weltpolitischen Geschehens. Dies kann Vorteile haben, bedeutet aber auch, dass die Region wirtschaftliche Möglichkeiten und Unterstützung verpassen könnte, die es dringend benötigt. 

Allerdings spiegeln sich die geopolitische Rivalität zwischen den USA und der EU auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite sowie das wachsende Selbstbewusstsein aufstrebender Mächte des sogenannten Globalen Südens seit einigen Jahren auch in Lateinamerika immer stärker wider. In den vergangenen zwei Jahren erfuhr das Interesse der Europäischen Union (EU) an Lateinamerika eine Renaissance: Zunächst trafen sich im Juli 2023 nach einer achtjährigen Pause die Staats- und Regierungschefs der EU und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) wieder zu einem biregionalen Gipfeltreffen in Brüssel. Im Mittelpunkt standen die Themen Klima und Umwelt. Zudem präsentierte die EU ihren 45 Milliarden Euro schweren Investitionsplan für Lateinamerika und die Karibik im Rahmen der Global Gateway-Investitionsagenda (GGIA). Doch der größte und überraschendste Durchbruch in den EU-Lateinamerika-Beziehungen ereignete sich Anfang Dezember 2024, als nach 25-jährigen Verhandlungen das EU-Mercosur-Partnerschaftsabkommen unterzeichnet wurde. Einmal in Kraft würde es die größte Freihandelszone der Welt schaffen, mit mehr als 700 Millionen Menschen aus 32 Ländern, die für 20 Prozent der Weltwirtschaftsleistung und 31 Prozent der globalen Warenexporte stehen.

Die Unterzeichnung des Mercosur-Abkommens wurde möglich, weil die EU erhebliche Flexibilität aufbrachte.

Die Unterzeichnung des Abkommens wurde möglich, weil die EU erhebliche Flexibilität aufbrachte, etwa bei den umweltpolitischen Auflagen, zu denen sie zuvor nicht bereit war. Unter den aktuellen geopolitischen Rahmenbedingungen – wie den drohenden Handelsproblemen mit den USA, der handels- und energiepolitischen Abkoppelung von Russland, dem De-Risking von China und dem allgemeinen politischen und ökonomischen Gewichtsverlust Europas – hat ein Deal mit Südamerika eine Symbolwirkung. Wenn das Abkommen in Kraft tritt, werden europäische Produkte und Dienstleistungen auf dem riesigen Mercosur-Markt und Produkte der Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und seit 2024 auch Bolivien in der Europäischen Union deutlich wettbewerbsfähiger. Die Betonung liegt auf „wenn“, denn das Abkommen muss nun den EU-Rat passieren, wo es möglicherweise von Frankreich, Polen, Irland, Österreich und den Niederlanden abgelehnt werden könnte. Außerdem muss es sowohl vom Europäischen Parlament als auch von den nationalen Parlamenten angenommen werden, was eine weitere Herausforderung darstellen wird. Auch innerhalb des Mercosur ist eine einstimmige Ratifizierung wegen Differenzen zwischen Brasilien und Argentinien keineswegs gesichert. 

In der offiziellen politischen Rhetorik der EU wird gerne auf Lateinamerika als „natürlichen Partner“ verwiesen. In der Neuen Agenda für die Beziehungen EU-Lateinamerika vom Juli 2023 wird etwa beteuert, dass beide Regionen durch einzigartige historische und kulturelle Verbindungen, tiefe wirtschaftliche und soziale Bindungen sowie ein gemeinsames Engagement für Frieden und Multilateralismus verbunden seien. In dem damit zum Ausdruck gebrachten „naturgegebenen“ Selbstverständnis Lateinamerikas als Partner liegt wohl einer der Gründe dafür, warum die EU dieser Weltgegend im letzten Jahrzehnt relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet und sich stattdessen auf andere Regionen konzentriert hat.

Auch die Bundesregierung hat Lateinamerika in den vergangenen 15 Jahren vernachlässigt und erst vor einem Jahr im Zuge der Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine eine diplomatische Offensive gestartet. In der ersten Hälfte von 2023 besuchten Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock unabhängig voneinander Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien und Panama. Sie warben für politische Unterstützung für die Ukraine, erkundeten neue Wirtschafts- und Energiepotenziale und sprachen über Zusammenarbeit beim Klima- und Umweltschutz.  Eine umfassende, langfristige Strategie der bundesdeutschen Außenpolitik, die das wachsende Selbstbewusstsein Lateinamerikas und die dortigen geopolitischen Veränderungen gebührend berücksichtigt, ist jedoch zunächst nicht erkennbar. Angesichts der gegenwärtigen globalen Herausforderungen durch die Neuordnung von Wirtschafts- und Energiestrategien, aber auch der Friedens- und Sicherheitsarchitektur, ist es angezeigt, die jahrelange Depriorisierung dieser Region durch die EU zu überwinden. Ungeachtet der noch bestehenden Probleme bis zum finalen Inkrafttreten ist das Mercosur-Abkommen ein robuster Schritt in diese Richtung, und zwar von beiden Seiten aus. Zumal andere Akteure ihre Aktivitäten in der Region deutlich ausgebaut haben.

Seit der Jahrtausendwende hat insbesondere China seine Präsenz in Lateinamerika konsequent ausgeweitet. Heute ist es der wichtigste Partner für Exporte aus Brasilien, Chile, Peru, Kuba, Uruguay und der zweitwichtigste Exportmarkt für Argentinien. Im Gegenzug avancierte Lateinamerika nach Asien zum zweitgrößten Empfänger von chinesischen Direktinvestitionen. Diese waren sehr willkommen, angesichts der Passivität Europas und auch des traditionellen Partners und Nachbarn, der USA. Stand heute nehmen 21 Länder Lateinamerikas und der Karibik (LAK) an Chinas Belt and Road-Initiative teil; Chile, Peru, Costa Rica und Ecuador haben Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik. Seine jüngste Teilnahme an zwei großen Gipfeln in Lateinamerika – am APEC-Gipfel in Peru und am G20-Gipfel in Brasilien – nutzte der chinesische Präsident Xi Jinping, um zum einen den peruanischen Tiefwasserhafen Chancay einzuweihen, der mit chinesischer Finanzierung gebaut wurde. Zum anderen kündigte er eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Brasilien an. Dazu gehören die Unterzeichnung von 37 neuen bilateralen Abkommen und die Bekanntgabe, dass der chinesische Internet-Satellitenbetreiber und Starlink-Konkurrent SpaceSail in den brasilianischen Markt eintritt.

Auch Bundeskanzler Scholz hatte vor, seinen Aufenthalt auf dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro mit einem anschließenden Mexiko-Besuch zu verknüpfen. Aufgrund der Regierungskrise in Berlin sagte er diesen jedoch kurzfristig ab. Es bleibt zu hoffen, dass die Visite bei einem der einflussreichsten politischen Player in der Region und dem wichtigsten Handelspartner Deutschlands in Lateinamerika alsbald nachgeholt wird. 

In der Pandemie haben sich China und Russland durch Impfstoffdiplomatie in Lateinamerika hervorgetan.

In der Pandemie haben sich China und Russland durch Impfstoffdiplomatie in Lateinamerika hervorgetan. Beide Länder gehörten zu den ersten Impfstofflieferanten, als der Westen zunächst nicht gewillt war, seine Impfstoffe abzugeben. Auf China folgend ist auch Russland vor 20 Jahren nach Lateinamerika zurückgekehrt. Auch wenn es im Handels- und Investitionsbereich nicht mal annähernd an das chinesische Engagement in der Region herankommt, hat Moskau seine Nischen gefunden. Es konnte sich als ein unverzichtbarer Düngemittellieferant für Brasilien – seinen wichtigsten strategischen Partner in Lateinamerika – etablieren. Während die Handelsbilanz der meisten Länder der Region gegenüber China chronisch negativ ist, profitiert selbst das kleine Ecuador von einer positiven Handelsbilanz mit Russland, hauptsächlich durch Bananenexporte. Deswegen und trotz der offiziellen Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine rückte die ecuadorianische Regierung im Februar 2024 von seinem Vorhaben ab, Waffen aus der Sowjetzeit über die USA an die Ukraine abzugeben. 

Schließlich hat Indien als dritte eurasische Macht und als ambitionierter, aufstrebender Global Player in den vergangenen Jahren seine Beziehungen mit Lateinamerika deutlich ausgebaut. Der Handel zwischen Indien und LAK hat 2022 ein Rekordvolumen von 50 MilliardenUS-Dollar erreicht (verglichen mit nur 1,6 MilliardenUS-Dollar im Jahr 2001). Im selben Jahr überholte Indien zum ersten Mal China (und auch Brasilien) als Exportmarkt für kolumbianische Waren. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2019 hat der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar acht Länder in Lateinamerika und der Karibik, darunter Brasilien, Kolumbien und Panama, besucht und eine Botschaft in Paraguay eröffnet. Zuletzt hatte Lateinamerika so viel Aufmerksamkeit von Neu-Delhi bekommen, als Premierministerin Indira Gandhi 1968 mehrere Länder bereiste. 

Lateinamerika wird als rohstoffreicher Subkontinent, der über die größten Lithiumvorhaben weltweit zur Batterieproduktion verfügt, in den kommenden Jahren deutlich mehr in den Fokus der Groß- und Mittelmächte rücken.

Was diese drei Akteure verbindet, sind die neuesten Bemühungen, ihre Präsenz im sogenannten Lithiumdreieck innerhalb der Staaten Argentinien, Bolivien und Chile zu festigen: China und Russland wollen Produktionsanlagen in Bolivien bauen, Indien vereinbarte die Erschließung von fünf Lithium-Blöcken in Argentinien und führt Gespräche mit Chile. Lateinamerika wird als rohstoffreicher Subkontinent, der über die größten Lithiumvorhaben weltweit zur Batterieproduktion verfügt, in den kommenden Jahren deutlich mehr in den Fokus der Groß- und Mittelmächte in Europa und Asien rücken und der geopolitische Wettkampf in diesem Teil der Welt könnte sich zuspitzen. Seine Intensität wird zudem in erheblichem Maße von der Konfliktivität im USA-China-Verhältnis abhängen. Mauricio Claver-Carone, Berater in Donald Trumps Übergangsteam, hat bereits die Absicht verkündet, die Einfuhr von Waren in die USA über den neuen chinesischen Hafen in Peru erschweren zu wollen, um Chinas Einfluss in Lateinamerika zu reduzieren.

Zwei Schlussfolgerungen bleiben festzuhalten: Erstens ist die EU für Lateinamerika nach wie vor ein wichtiger Handelspartner und Investor. Aber gegenwärtig ist sie ein Akteur unter vielen, auch für die Mercosur-Staaten, zu denen zwar die regionalen Größen Brasilien und Argentinien gehören, die allerdings nur einen kleinen Teil einer Region mit 33 unabhängigen Staaten repräsentieren. Strategisch wichtig wäre es, auch den anderen Ländern attraktive Angebote und Partnerschaften auf Augenhöhe anzubieten, die über den Rohstoffimport hinausgehen. Das EU-Mercosur-Abkommen macht einen Schritt in diese Richtung, indem es die Möglichkeit vorsieht, den Export kritischer Mineralien für die Energiewende einzuschränken, um die Wertschöpfung vor Ort zu erhöhen. Das Teilen gemeinsamer Werte ist ein Kernelement der EU-Lateinamerika-Beziehungen. Gleichzeitig lassen sich die lateinamerikanischen Länder in ihrer Außenpolitik zunehmend von Pragmatismus leiten. Beispielhaft dafür sind die proaktive Rolle Brasiliens im Rahmen von BRICS und die Modifizierung der Haltung des argentinischen Präsidenten Milei zu China.

Zweitens findet der geopolitische Wettbewerb unter verschiedenen externen Akteuren in Lateinamerika bereits statt, aber bisher verläuft er nicht so konfliktiv und militant wie in Asien, Osteuropa, Nordostafrika oder im Nahen Osten. Politik und Diplomatie sind gefragt, damit das auch so bleibt.