Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch oder Russisch.

Hunderttausende venezolanischer Flüchtlinge sind in den letzten Jahren nach Kolumbien geflohen. Noch im Januar kursierten Zahlen von bis zu 60 000 Ankommenden pro Tag. Hält dieser Flüchtlingsstrom weiterhin an?

Laut UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR halten sich knapp 1,2 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner offiziell in Kolumbien auf. Dazu kommen viele nicht registrierte Flüchtlinge, so dass man von einer Gesamtzahl von bis zu 1,9 Millionen ausgeht. Obwohl Venezuelas Präsident Nicolas Maduro die Grenze zu Kolumbien formell geschlossen hat, strömen Augenzeugenberichten zufolge weiterhin tausende Venezolanerinnen und Venezolaner täglich über die „grüne“ Grenze. Angesichts der immer schwierigeren  Versorgungslage in Venezuela steigt die Zahl der Auswanderer, darunter auch eine wachsende Zahl an desertierten Militärs (700 bis 1000 wird geschätzt).

 Wie ist die Situation der Flüchtlinge in Kolumbien?

Die kolumbianische Bevölkerung reagierte bislang beispielhaft: Das Schicksal der “paísos hermanos” (Bruderländer) ist geschichtlich, wirtschaflich und politisch eng verknüpft. Kolumbien hat aber kein Migrationsgesetz, das wesentlich über die Rückkehr kolumbianischstämmiger Migrantinnen und Migranten hinausgeht. Zudem ist unverständlich, weshalb die kolumbianische Regierung nicht den humanitären Notstand erklärt, um Hilfsgüter zollfrei ins Land zu lassen. Die Situation verschärft sich, je prekärer die Lage der Flüchtlinge wird. Viele suchen Arbeit im informellen Sektor, sie sind wirtschaftlich verwundbar und zahlreichen Sicherheitsrisiken ausgesetzt. Illegale bewaffnete Akteure in Kolumbien und Venezuela machen sich die Notlage zunutze, fordern Geld für Grenzübertritte und rekrutieren Flüchtlinge.

Die rechtskonservative Regierung Kolumbiens hat sich klar gegen Maduro positioniert. Welche Position bezieht die kolumbianische Opposition?

Sieben Parteien zählen zur kolumbianischen Opposition. Sie stehen auf der politischen Skala zwischen dem Zentrum und der extremen Linken. Zu Venezuela gibt es weder innerhalb der Parteien noch untereinander einheitliche Positionen. Allerdings überwiegt die Ablehnung eines Krieges. Öffentlich für das venezolanische Regime spricht sich nur die Partei FARC aus, die aus der ehemaligen Guerillaorganisation hervorgegangen ist: Sie erkennt Maduro als legitim an. Die restlichen Oppositionsführerinnen und -führer sind für eine friedliche demokratische Transitions- und Verhandlungslösung, ausgehandelt ausschließlich unter den Venezolanerinnen und Venezolanern selbst. Im Gegensatz dazu plädieren die Medien und die Regierungskoalition für möglichst viel externe Einmischung. Häufig befürworten diese Kreise eine militärische Intervention.

Kolumbiens Opposition steht vor der Herausforderung, sich vom Chavismus abzugrenzen, dem sie unter Hugo Chavez sehr nahe gestanden hat. Die politischen Gegner halten der Linken in Kolumbien vor, die gleichen politischen Ziele wie Maduro zu verfolgen. Der linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, der es bis in die Stichwahl schaffte, trendete kürzlich auf Twitter wieder als “Maduro von Kolumbien“. Petro hat im Gespräch mit der internationalen Presse während des Wahlkampfs allerdings Maduro als “Diktator” bezeichnet - im Vergleich zu manch europäischer Linken eine sehr deutliche Abgrenzung. Petro wird jedoch kritisiert, weil er, anders als die Opposition um Guaidó, eine Lösung der Krise nicht im Regierungswechsel, sondern nur in der grundsätzlichen Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell sieht.

Derzeit sind auch international kaum Akteure auszumachen, die in dem Konflikt vermitteln könnten, da zum großen Teil eine dezidierte Parteinahme für eine Seite erfolgt. Wird in Kolumbien über mögliche Vermittler debattiert? Wer könnte das sein?  

Die Positionierung zum wichtigsten Nachbarland war und ist für Kolumbien fundamental, aber auch immer konfliktbeladen gewesen. Unter der vorherigen Regierung Santos war Venezuela einer der wichtigen Garanten für den Friedensprozess in Kolumbien. Jetzt hat man den Eindruck, dass die kolumbianische Regierung im Einklang mit den USA den Schulterschluss mit Guaidó gesucht hat und den Regimewechsel aktiv vorantreibt. Durch diese Parteinahme hat sich die kolumbianische Regierung jede Chance auf eine Rolle innerhalb eines multilateralen Ansatzes verspielt.  Akademiker, ehemalige Diplomaten, Funktionäre und zahlreiche Expertinnen und Experten hätten sich eine unabhängige Position ihres Landes gewünscht. In vielen offenen Briefen wird immer wieder eine multilateralere Haltung eingefordert, um eine friedliche Verhandlungslösung zu unterstützen.

Die Sorge wächst, dass sich der Konflikt in Venezuela zu einem Bürgerkrieg ausweitet. Was würde eine solche Entwicklung für die Sicherheitslage in Kolumbien bedeuten?

Das wäre fatal, denn das Schicksal Kolumbiens und Venezuelas ist untrennbar miteinander verwoben. Zum einen wäre ein Spillover-Effekt, das Übergreifen des Konfliktes auf kolumbianisches Territorium, vor allem in grenznahen Gebieten nicht auszuschliessen. Ausserdem wächst derzeit die Macht von Guerillagruppen wie ELN und Dissidenten der FARC, die seit jeher Venezuela als Rückzugsgebiet nutzen.

Zum anderen könnte Kolumbien ein weiteres Anwachsen von Migration und Flucht infolge eines Bürgerkrieges  aus eigener Kraft kaum mehr bewältigen. Unklar ist allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz auch, ob sich die kolumbianische Regierung nicht womöglich auf US-amerikanisches Drängen oder aus innenpolitischem Kalkül zum Eingreifen entschliessen könnte. In den ohnehin teils stark vernachlässigten Grenzregionen könnte es zu riesigen Versorgungsengpässen kommen.

Die ohnehin kritische Menschenrechtslage mit der steigenden Zahl ermordeter Aktivistinnen und Aktivisten in Kolumbien könnte sich weiter verschlechtern. Gewalttätige soziale Verteilungskämpfe sind ebenfalls vorstellbar mit Konsequenzen für die Sicherheit der Menschen.

Hätte eine solche Entwicklung auch Auswirkungen auf den Friedensprozess in Kolumbien?

Ein Bürgerkrieg in Venezuela könnte durchaus auch den ohnehin wackligen Friedensprozess weiter gefährden. Gruppierungen wie das ELN und Dissidenten der FARC könnten an Einfluss gewinnen. Beide haben mittlerweile einen starken kriminellen Einfluss in den beiden südlichen Regionen Venezuelas Amazonas und Bolívar, wo sie den Bergbau mitkontrollieren. Zum anderen würde die Regierung von Iván Duque die Verteidigungsausgaben erhöhen, was zulasten der ohnehin zu gering bemessenen Mittel für ländliche Entwicklung und soziale Inklusion ginge und somit weiter die Ziele des Friedensvertrags untergraben würde.

US-Präsident Donald Trump und Vertreter seiner Regierung haben wiederholt eine militärische Intervention in Venezuela in Betracht gezogen. Auch der selbsternannte Interimspräsident Guaidó schließt ein von ihm autorisiertes Eingreifen der US-Armee nicht aus. Welche Folgen hätte eine Intervention für die Stabilität der Region?

Das wäre ein großer Rückschlag. Die Mehrzahl aller Länder in Lateinamerika steht zwar derzeit der US-Regierung nahe, doch haben sie sich gegen eine Intervention ausgesprochen. Es würde also bedeuten, anstelle einer gemeinsamen diplomatischen Lösung den USA die alte Vormachtstellung auf dem Kontinent einzuräumen, über die sich vergangene progressive lateinamerikanische Regierungen in mühevoller Emanzipationsarbeit erst in den letzten Jahrzehnten hinweggesetzt hatten. Kolumbien könnte zudem ein Ziel für einen möglichen militärischen Gegenschlag Venezuelas werden, wenn die Intervention von kolumbianischem Boden ausginge. In Venezuela selbst und der Grenzregion hätte eine solche Intervention mit hoher Wahrscheinlichkeit bürgerkriegsähnliche Zustände mit großen Opfern in der Zivilbevölkerung und anhaltende Instabilität zur Folge.

In Kolumbien gibt es verschiedene US-Militär-Basen, die militärische Kooperation zwischen den USA und Kolumbien ist eng. Nehmen die Kolumbianer die Interventionsdrohungen aus Washington als Bedrohung wahr oder schätzt die kolumbianische Regierung sie als reine Rhetorik ein?

Der medienwirksam platzierte Satz auf dem Notizblock von John Bolton, dass sich „in Kolumbien 5 000 US-Soldaten“ befinden, wird oft in seiner Bedeutung als Drohgebärde oder Absichtserklärung diskutiert. Geht man ihr auf den Grund, so lässt sich im vergangenen Jahresbericht des US-Verteidigungsministeriums nachlesen, dass das Ministerium eine militärische Einrichtung von fast 2 000 qm in Kolumbien besitzt. Die Anzahl an Soldaten ist nicht feststellbar. Kolumbiens Präsident Iván Duque macht nicht den Anschein, als ob er die Drohungen als Rhetorik wahrnimmt. Die Opposition wirft der Regierung vor, dass sie diese überhaupt erst möglich gemacht habe. In der Tat gab es lange keine einheitliche Aussage der Regierung zum Thema Intervention. Dazu kommt, dass Iván Duque auf das Attentat der ELN im Januar auf eine Polizeischule in Bogotá mit dem Ruf nach mehr Härte in der Sicherheitspolitik reagiert. Damit scheint er sein Narrativ als Staatschef gefunden zu haben. Es hat seine Umfragewerte enorm gesteigert. Noch zu Begin des Jahres hatten sie unter denen von Nicolas Maduro gelegen.

 

Die Fragen stellte Claudia Detsch.