Nach dem erneuten Amtsantritt von Nicolás Maduro, erklärte sich Parlamentspräsident Guaidó ebenfalls zum Staatspräsidenten Venezuelas. Wer ist Juan Guaidó und wie konnte es dazu kommen?
Am 10. Januar, acht Monate nach seiner umstrittenen Wahl zum Staatspräsidenten, hatte Maduro vor dem Verfassungsgericht den Eid für eine Amtsperiode abgeleistet. Aber wie schon das Wahlergebnis wurde auch dieser Amtsantritt weder von der Opposition noch von vielen westlichen Staaten anerkannt. Zu ungleich waren die Wahlbedingungen und Nachteile für Oppositionspolitiker gewesen. Der amtierende Parlamentspräsident Guaidó erklärte daraufhin, dass das Parlament - in Venezuela Nationalversammlung genannt - alle Exekutivfunktionen übernehmen werde und rief für den 23. Januar zu landesweiten Demonstrationen auf. Als dann Hunderttausende, selbst in ländlichen Regionen, auf die Straße gingen, ereignete sich, was von vielen erwartet, von US-Vizepräsident Mike Pence gefordert, aber auch von nicht wenigen gefürchtet worden war: Auf einer Großkundgebung in Caracas proklamierte sich Guaidó zum Staatspräsidenten von Venezuela. Zwar war dieses Vorgehen mit wichtigen Oppositionsparteien nicht abgesprochen, doch die Euphorie schlug hohe Wellen. Zu lange schon prägen politische Frustration und wirtschaftlich-soziale Krise die Gemüter der Bevölkerung. Und da kommt ein junger, charismatischer Politiker der Partei „Voluntad Popular“ des inhaftierten Oppositionsführers Leopoldo López und verspricht eine Wende zum Besseren. War er Insidern vorher eher als ehemaliger Studentenführer und Koordinator seiner Partei bekannt gewesen, betrat er nun spätestens mit dieser Proklamation das politische Parkett der Weltöffentlichkeit.
Wie begründet Guaidó seine Proklamation zum Staatspräsidenten? Hat er dafür überhaupt genug Unterstützung in der Bevölkerung und der Oppositionsparteien?
Argumente für die Übernahme von Exekutivfunktionen liefert Paragraph 233 der Verfassung. Dieser erlegt es dem Parlament auf, bei einem Machtvakuum aufgrund „absoluter Fehler“ des Staatspräsidenten die Interimspräsidentschaft zu übernehmen und innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen abzuhalten. Zuvor hatte das Parlament das „Verlassen des Amtes“ durch Präsident Maduro erklärt. Im Gegenzug verurteilte der Höchste Gerichtshof alle Parlamentsentscheidungen als ungültig - wegen „Nichtachtung gerichtlicher Auflagen“. Breiten Teilen der Bevölkerung scheinen aber juristische Feinheiten oder Zweifel an den Begründungen egal zu sein. Sie wollen einen Machtwechsel und haben wenig Vertrauen in Gerichtshöfe, Wahlbehörden oder Sicherheitskräfte - alles Institutionen, die mit Regierungsanhängern besetzt sind. Schon in den letzten Monaten gab es zahlreiche Proteste gegen die soziale Lage, gegen mangelhafte Wasserversorgung oder Knappheit von Lebensmitteln. Eine Inflationsrate von 1,7 Millionen Prozent und eine massive Migrationswelle in die Nachbarländer sind sichtbare Auswirkungen eines exorbitanten Politikversagens. Am Abend des 23. Januar arteten die Proteste aber in Straßenkämpfe und Plünderungen aus. Der traurige Saldo mit 16 Toten und vielen Verletzten gibt Befürchtungen über einen chaotischen Zerfall des Staates neue Nahrung. Es bleibt abzuwarten, ob der vom Oppositionsbündnis „Frente Amplio Venezuela Libre“ erarbeitete Rettungsplan („Plan País“) die richtigen Rezepte bereithält, zumal es dafür eine effektive Übergangsregierung mit realen Befugnissen und klaren Absprachen zwischen politischen Akteuren und staatlichen Institutionen bräuchte.
Wie reagieren Nicolás Maduro, die chavistische Bewegung und das mit ihnen verbündete Militär auf diese Zuspitzung der Entwicklung?
Die sozialistische Einheitspartei (PSUV) hatte ebenfalls zu Kundgebungen aufgerufen. Doch die Verunsicherung im Chavismus und bei Maduro zeigte sich bei seiner Fernsehansprache. Er verwies auf Gerichtshof, Staatsanwaltschaft und Streitkräfte, die Guaidó und die „Putschisten“ in die Schranken verweisen sollten. In der Tat wurden schon am Nachmittag des 23. Januars versucht, viele Proteste durch Einsatz der Nationalgarde oder Kommandos der Terrorismusbekämpfung zu unterdrücken. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Wochen ein repressives Vorgehen gegen Proteste geplant ist. Und hier zeigt sich die Achillesferse der Oppositionsstrategie: Für eine wirksame Übernahme der Exekutivgewalt benötigt sie auch die Unterstützung des Militärs - trotz verbreiteter Unzufriedenheit innerhalb der Einheiten kein leichtes Unterfangen. Das Militär hat im venezolanischen Staat zahlreiche, auch wirtschaftliche Funktionen inne, von der Verteilung von Lebensmitteln bis hin zur Leitung von Staatsfirmen wie der Erdölgesellschaft PdVSA. Eine Neuordnung dieser Mischung von politischen und wirtschaftlichen Interessen müsste zudem die internen Strukturen und Hierarchien bedienen, damit die Sicherheitskräfte in den von Guaidó geplanten Übergangsprozess eingebunden werden könnten. Die Erklärungen von Verteidigungsministers Padrino López zur Unterstützung Maduros kamen zwar spät, aber deutlich genug, um hier Distanz zum Anliegen der Opposition aufzuzeigen.
Die USA und viele lateinamerikanische Regierungen haben Guaidó bereits als Präsidenten Venezuelas anerkannt. Maduro hat umgehend die diplomatischen Beziehungen zur USA abgebrochen. Was kann die internationale Gemeinschaft zur Lösung beitragen?
Die schnelle Anerkennung Guaidós durch die USA und die wichtigsten lateinamerikanischen Länder hob das venezolanische Problem endgültig auf die internationale, sogar globale Ebene. Maduros Reaktion, der Bruch diplomatischer Beziehungen und die Ausweisung von Diplomaten, erhielt eine umgehende Replika der US-Regierung, die eine solche Ausweisung nicht respektiert, da sie Maduro nicht anerkennen würden. Außerdem wiesen sie nachdrücklich auf die Optionen zur Wahrung eigener Sicherheitsinteressen hin, was als Schritt von (wirtschaftlichen) Sanktionen hin zu (militärischen) Interventionen interpretiert werden kann. Dies wiederum provozierte eine schnelle Reaktion Russlands. Außenminister Lawrov mahnte die USA zur Zurückhaltung und bot Maduro seine Unterstützung an. Auch China erklärte sich solidarisch mit Maduros Regierung. Hier zeigt sich, dass Venezuela mit seinem immensen Rohstoffreichtum durchaus zu einem Konfliktpunkt globaler, politischer wie wirtschaftlicher Interessen werden kann. Eine Intervention der USA hätte Folgewirkungen für die gesamte Region. Umso mehr sind jetzt die Länder gefragt, die eine neutrale Position einnehmen oder sich nicht eindeutig zur Präsidentschaftsfrage äußern wollen. Uruguay zählt dazu und Mexiko. In der EU wiederum ist noch ein interner Abstimmungsprozess notwendig. Zwar gibt es große Sympathien für einen Regierungswechsel und Neuwahlen, doch will man eine Festlegung auf Guaidó als Interimspräsidenten vermeiden, um mögliche Vermittlungchancen zu wahren. Inwiefern die von der EU vorgeschlagene Kontaktgruppe noch realisierbar ist, mag auch davon abhängen, ob es im UNO-Sicherheitsrat Unterstützung dafür gibt.
Wären mit der Ablösung Maduros die Voraussetzungen zur Beendigung der langjährigen politischen und wirtschaftlichen Krise gegeben?
Der Fehler der Opposition, aber auch der nun stark involvierten internationalen Gemeinschaft, ist es, die Beendigung der Staatskrise an der Person Maduros festzumachen. Hier geht es nicht um eine Person, sondern um ein gescheitertes Gesellschaftsmodell, das an seinem - von Eigeninteressen korrumpierten - Anspruch zur Verwirklichung sozialistischer Ideale scheiterte. So war es das Beispiel Venezuelas, das schnell von einem Vorbild zum Klischee der Abschreckung gegen progressive Politikansätze in Lateinamerika mutierte. Es muss klar sein, dass das Land neben einer rationalen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik auch Ideen für eine Befriedung der Gesellschaft, für eine Einbindung polarisierter politischer Kräfte und insbesondere für die Wiederherstellung staatlicher Autorität und Institutionen benötigt. Auch der Chavismus braucht eine politische Zukunft und auf keinen Fall als neue Guerillagruppe. Zwar mag es am Dringlichsten sein, einen „humanitären Kanal“ oder Instrumente gegen die Wirtschaftskrise einzusetzen, aber schon die Schaffung geeigneter Voraussetzungen für freie und gleichberechtigte Wahlen wird Verhandlungen, Verständigungsprozesse und eine institutionelle Neuordnung erfordern. Dagegen ist das Risikopotential externer Interventionen in einem teils anarchisch strukturierten Staatsgebilde mit konkurrierenden Interessengruppen nicht zu unterschätzen. Es gäbe also genug Herausforderungen, die von einer vermittelnden Instanz mit internationaler Unterstützung zu bewältigen wären. Die Europäische Union sollte hier ein realistisches Angebot machen, um dem aktuellen „Säbelrasseln“ den Nährboden zu entziehen.
Die Fragen stellte Claudia Detsch.