Trotz der Krise des Landes hat Nicolás Maduro die Präsidentschaftswahlen in Venezuela gewonnen. Wie bewerten Sie das Ergebnis?
Die um sieben Monate vorgezogene Präsidentenwahl am 20. Mai 2018 in Venezuela hat nur teilweise überrascht. Nach einem lauwarmem Wahlkampf mit Großkundgebungen der Regierung und punktuellen Veranstaltungen der Opposition konnte der Nationale Wahlrat am Wahlabend das vorläufige Ergebnis verkünden. Präsident Nicolás Maduro von der regierenden sozialistischen Einheitspartei PSUV konnte – trotz Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung und trotz dramatischer wirtschaftlicher Krise – noch genügend Anhänger für einen Wahlsieg mobilisieren. Denn im Gegensatz zur Präsidentschaftswahl von 2013 mit 80 Prozent Beteiligung waren diesmal nur 46 Prozent dem Wahlaufruf gefolgt. So reichten bereits 6,2 Millionen Stimmen von weniger als einem Drittel der registrierten Wählerschaft zum Triumph; dies entspricht wiederum 67 Prozent der gültigen Stimmen. Trotzdem feierten dies die regierungsnahen Medien als historischen Sieg und übersahen geflissentlich, dass sich 1,3 Millionen Wähler von Maduro abgewendet hatten. Die zerstrittene Opposition hatte dagegen mehrheitlich zum Wahlboykott aufgerufen oder war mit eher chancenlosen Kandidaten angetreten. Die verbliebenen Oppositionsstimmen verteilten sich dann insbesondere auf den ehemaligen Gouverneur und Dissidenten des Chavismus‘ Henri Falcón mit 21 Prozent und den evangelikalen Unternehmer Javier Bertucci mit ca. Elf Prozent der abgegebenen Stimmen. Wäre auch nur ein Teil der elf Millionen Skeptiker zur Wahl gegangen, das Ergebnis wäre ganz anders ausgefallen.
Wäre auch nur ein Teil der elf Millionen Skeptiker zur Wahl gegangen, das Ergebnis wäre ganz anders ausgefallen.
Ist bei der Wahl alles fair zugegangen?
Diese Wahlen wurden von der internationalen Gemeinschaft sehr skeptisch beobachtet und schon im Vorfeld stark kritisiert oder gar abgelehnt. Wesentliches Argument – auch der wahlboykottierenden Opposition im Lande – war es, dass grundsätzliche Normen für demokratische Wahlen verletzt wurden. So verwehrten venezolanische Gerichte aussichtsreichen Oppositionellen wie Henrique Capriles oder Leopoldo López eine Kandidatur. Weitere Kritikpunkte: die parteiliche Besetzung des Nationalen Wahlrats, die Ansetzung der Wahltermins durch die umstrittene Verfassungsversammlung, der öffentliche Druck auf Staatsangestellte oder Maduros Ankündigung einer „Belohnung“ für Wähler, die sich zusätzlich an den Kontrollpunkten der Regierungspartei („puntos rojos“) melden – all dies schürte den Verdacht auf eine manipulierte Wahl mit vorherbestimmten Ergebnis. Dabei ist die eigentliche Stimmabgabe, mit einem elektronisch wie manuell kontrollierten Verfahren, durchaus geheim, die vielfache Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes schränkt jedoch den Wert dieser Abstimmung stark ein. Am Wahlabend wurde von den unterlegenen Kandidaten und kritischen Beobachtern zudem reklamiert, dass viele Wahllokale über die Wahlzeit hinaus geöffnet waren, um angeblich die Wahlbeteiligung zu erhöhen oder Stimmen von Nicht-Wählern einzuschleusen. So wird es weder gelingen, über diese Wahl die polarisierte Bevölkerung zu einen, noch wird es die Legitimität des Wahlsiegers stützen.
Wie fielen die Reaktionen auf die Wahl aus?
Die Reaktionen von Regierung, Opposition und internationaler Gemeinschaft waren ebenfalls erwartungsgemäß. Nicolás Maduro rief zu einem neuen Nationalen Dialog auf und sah sich – selbst in der eigenen Partei – durch die Wahl gestärkt; schließlich sorgt das wirtschaftliche und soziale Desaster auch innerparteilich und in den Streitkräften für große Unruhe. Der von einem links-demokratischen Bündnis unterstützte, aber klar unterlegene Henri Falcón beklagte den Wahlboykott und die Benachteiligungen und forderte bereits Neuwahlen. Sein Versuch, mit radikalen Politikvorschlägen wie der Einführung des US–Dollars als nationale Währung zu punkten, konnte die Wähler aber nicht überzeugen. Zusätzlich wog schwer, dass ihm in den sozialen Netzen ein angeblicher Geheimpakt mit den regierenden Chavisten vorgeworfen wurde. Sprecher der im Parlament starken Parteien, die aber nicht zur Wahl antreten wollten oder durften – wie Acción Democrática, Primero Justicia und Voluntad Popular – fanden sich durch Wahl und Wahlergebnis in ihren Manipulationsvorwürfen bestätigt. Ins gleiche Horn stießen Vertreter der USA, wichtiger lateinamerikanischer Länder und Europas mit ersten Erklärungen. Deutschlands Außenminister Heiko Maas forderte per Twitter humanitäre Hilfen, US-Präsident Donald Trump dekretierte ein Handelsverbot für venezolanische Schuldtitel. Nur der ehemalige Pastor Javier Bertucci dürfte nicht ganz unzufrieden sein. Vor Monaten völlig unbekannt, konnte er sich doch ins Rampenlicht der Öffentlichkeit schieben. Auch er fordert schon Neuwahlen.
Was ist nun in den nächsten Wochen von der Regierung und der Opposition zu erwarten?
Es deutet sich ein politischer Strukturbruch an. In der Opposition kann die “Mesa de Unidad Democrática/MUD” ihren Führungsanspruch in dieser Form nicht aufrecht erhalten; hier werden sich neue Koalitionen herausbilden. Die von MUD und zivilgesellschaftlichen Organisationen im März 2018 gegründete “Frente Amplio Venezuela Libre” war bisher kaum mit eigenständigen Politikvorschlägen präsent. Nach dem aus MUD-Sicht erfolgreichen Wahlboykott müssen ihre Vertreter jedoch die „politische Schmollecke” verlassen, zumal Falcón und seine Vier-Parteien-Allianz eine landesweite Präsenz geschaffen haben, da sie auch an den zeitgleichen Wahlen für 23 Regionalparlamente teilnahmen. Hyperinflation, die drohende Pleite der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA, internationale Sanktionen und eine sich weiter verschärfende soziale Krise werden aber alle Konfliktparteien wieder zu Gesprächen zwingen, davon bin ich überzeugt. Auch im Regierungslager wächst die Einschätzung, dass es zumindest der Hilfe von ideologisch verwandten Oppositionsgruppen bedarf, um das eigene Überleben zu sichern. Für die internationale Gemeinschaft bietet die lange Vorlaufzeit bis zum Beginn einer neuen Amtsperiode im Januar 2019 eine Möglichkeit, ihre Position zu nuancieren, d.h. die bestehende Anerkennung der aktuellen Präsidentschaft Maduros mit der Ablehnung des jüngsten Wahlprozesses zu verbinden. Und Vermittler wie der ehemalige spanische Präsident José Rodríguez Zapatero warten schon auf einen neuen Einsatz.
Sind von Maduro angesichts der offensichtlichen Unzufriedenheit im Land Zugeständnisse zu erwarten?
Zwar ist es illusorisch anzunehmen, dass die Regierung Maduro und seine Verbündeten in Verfassungsversammlung oder im Militärapparat gerade jetzt Zugeständnisse für einen Machtwechsel machen könnten. Nur gibt es angesichts des desaströsen Zustandes des Landes und seiner internationalen Isolierung kaum eine Alternative zu Kompromissen im wirtschaftlichen Bereich. Für den 1. Juni hat die Regierung eine Art “Währungsreform” angekündigt: Durch die Streichung von Drei Nullen, soll der blutleere “Bolívar Fuerte” als “Bolívar Soberano” wiederauferstehen. Doch Beobachter zweifeln, dass die Regierung selbst glauben könnte, so die Hyperinflation von jährlich 15.000 Prozent bremsen zu können. Dafür wäre schon eine Sanierung des Staatshaushaltes notwendig, beispielsweise durch Preiserhöhungen bei öffentlichen Dienstleistungen und Benzin, um dessen monetäre Finanzierung über die Zentralbank abzustellen. Gerade hier machte die Einbindung von kooperationsbereiten Oppositionskräften Sinn, auch um weitere internationale Sanktionen zu verhindern, neue Kreditgeber zu finden oder den vielfach geforderten “humanitären Kanal” für Hilfsleistungen zu öffnen. Optimisten in der Opposition könnten dies als Einstieg in einen Prozess der Transition deuten, sofern es denn regierungsseitig Zugeständnisse wie eine vollständige Anerkennung der Rechte des Parlaments, der Nationalversammlung, und die Freilassung politischer Gefangener gäbe.
Wie realistisch ist ein solches Szenario?
Derartige Spekulationen werden regelmäßig durch Meldungen über informelle Treffen und Sondierungen politischer Führungskräfte genährt. Doch der “Tag nach der Wahl” zeigt auch, wie verhärtet die Positionen der radikalen Kräfte auf beiden Seiten sind. So ist das taktische Geschick von Regierungsvertretern wie Informationsminister Jorge Rodríguez und seiner Schwester Delcy, gleichzeitig Vorsitzende der im Juli 2017 kreierten sog. Verfassungsversammlung (VV), nicht zu unterschätzen. Letztendlich ist es erklärtes Ziel dieser Gruppe, über eine Anerkennung der VV rechtlich relevante Fakten zu schaffen. So werden für die nächsten Monate diverse Verordnungen und Gesetze der VV erwartet, um die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nachhaltig zu verändern. Auch das 2007 im Referendum abgelehnte Modell eines sog. “kommunalen Staates” steht weiter auf der Tagesordnung. Als mögliche Verhandlungsinhalte zwischen Opposition und Regierung gelten – neben den wirtschaftlich-sozialen Themen – insbesondere eine Neubesetzung des Nationalen Wahlrats sowie Formeln für eine Koexistenz von Nationalversammlung (Parlament) und VV. Derartige Überlegungen oder gar ein erneuter Dialog werden aber von einem bedeutenden Teil der Opposition strikt abgelehnt. Sie setzt weiter auf die Mobilisierung internationalen Einflusses als Druckmittel und in den sozialen Netzen wird sogar unverblümt über ein militärisches Eingreifen spekuliert – ein Schreckensszenario, das auch gerne von den staatlichen Medien thematisiert wird.
Wie sind die langfristigen Aussichten für Venezuela, der Krise zu entkommen?
Aber Venezuela ist nicht Grenada oder Panamá. Und der Weg zur Lösung der politisch-institutionellen Krise und des wirtschaftlich-sozialen Niedergangs muss von den Venezolanerinnen und Venezolanern selbst auf friedlich-demokratischem Wege gefunden werden. Die traumatischen Erfahrungen der letzten Jahre mit der eigenen Unfähigkeit – sei es über Gespräche, über Proteste oder über Wahlen – einen Ausweg zu finden, müssen in einem Prozess der demokratischen Erneuerung bewältigt werden. Natürlich ist es kein leichtes Unterfangen, die politische Polarisierung zugunsten einer gesellschaftlichen Integration zu überwinden. Dass es dafür eines geordneten und anerkannten Staatswesens bedarf, sollte außer Zweifel stehen. Überbordende Kriminalität, paramilitärische Organisationen und anarchische Strukturen in ländlichen Gebieten oder urbanen Konfliktzonen haben eine Parallelität von Institutionen und die Informalität von Akteuren ermöglicht, bei der das „Recht des Stärkeren“ oft mit Waffengewalt durchgesetzt wird. Die Sicherheitskräfte wurden in diverse staatliche Aufgabenbereiche eingebunden, haben teilweise eigene wirtschaftliche Interessen entwickelt und konkurrieren nun um Einflusszonen und Gewinnmargen. Und die parallelen staatlichen Strukturen nach räterepublikanischem Muster, trotz des Scheiterns von Chávez' Verfassungsreferendums 2007 durch Gesetze geschaffen, sind wenig geeignet, die Versorgungsprobleme zu lösen oder gar die demokratische Durchdringung der Gesellschaft zu fördern.
Gerne schaut man auf erfolgreiche oder aufstrebende Volkswirtschaften wie China oder Vietnam, wo ein sich ein „kommunistisch“ titulierendes Gesellschaftssystem die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen erreicht.
Aber hier gilt es „dicke Bretter“ zu bohren. Denn der Traum oder die Illusion eines einfachen Weges zu politischem Erfolg und wirtschaftlichem Fortschritt sind in Venezuela omnipräsent. Sowohl Regierung als auch Opposition hoffen – insgeheim oder offensichtlich –, durch Ausschöpfung des immensen Rohstoffreichtums die wirtschaftlich-soziale Krise schnell überwinden zu können. Zwar sind die Zukunftsvisionen recht unterschiedlich – unisono jedoch ihre ständigen Bekundungen, sich von der einseitigen „Rentenökonomie“ lösen und die Wirtschaft diversifizieren zu wollen. Dabei werden in Oppositionskreisen auch realistische Strategien zur Überwindung der Krise diskutiert, auffällig ist aber, wie stark der Glaube an eine baldige Rettung der verschuldeten und korrumpierten Erdölgesellschaft PdVSA, an den schnellen Zufluss ausländischen Kapitals und an die Zugkraft von Auslandsinvestitionen im Rohstoffsektor als Initialzündungen eines neuen Aufschwungs ist. Dass die Regierung demgegenüber eine „Ökonomie der Straße“ und „volkseigene Produktion“ verkündet, kaschiert ebenfalls nur, wie durch eine forcierte Ausbeutung von Gold, Coltan, Kupfer und natürlich Erdöl, eine neue Phase des Klientelismus angestrebt wird. Gerne schaut man auf erfolgreiche oder aufstrebende Volkswirtschaften wie China oder Vietnam, wo ein sich ein „kommunistisch“ titulierendes Gesellschaftssystem die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen erreichte und gleichzeitig den Reichtum der Führungselite ermöglichte.
Ist eine ähnlich geschlossen auftretende politische Führung in Venezuela denkbar?
Die politische Neuorientierung hat bereits am „Tag danach“ begonnen und wird über kurz oder lang die Basis für eine politische Stabilisierung bilden oder eben das endgültige Scheiterns des Modells bewirken. Vertreter von „Frente Amplio Venezuela Libre“ und MUD aber auch aus der Wahlallianz für Falcón rufen zu neuer Einigung in der geschwächten Opposition auf. Im Regierungslager wird versucht, die internen Differenzen zwischen den dominanten Maduro-Anhängern, den Kampfesgenossen des verstorbenen Ex-Präsidenten Chavez und den unzufriedenen Nachwuchspolitikern, so lange wie möglich zu verbergen. Und dass es in den Streitkräften schon seit längerem rumort, ist an der Verhaftungswelle ehemaliger einflussreicher Militärs zu sehen. Doch die Geduld der Bevölkerung scheint sich dem Ende zuzuneigen. Zu groß sind die Gegensätze geworden: zwischen dem täglichen Überlebenskampf von Empfängern staatlicher Hilfspakete und einer verarmten Mittelschicht auf der einen Seite, und dem opulenten Lebensstil von traditioneller Oberschicht oder privilegierten Regierungsgünstlingen auf der anderen. Die Wahlversprechungen wirkten wenig glaubhaft und so hat das Land die eigentliche Wahl, die „Abstimmung mit den Füßen“ längst verloren. Die Auswanderung von anderthalb Millionen Venezolanerinnen und Venezolanern in die Nachbarländer seit Anfang 2017 ist ein Beleg dafür, wie gering die Hoffnung auf baldige Verbesserungen ist. Erst wenn es gelingt, diesen Exodus zu stoppen und die entflohenen Fachkräfte für einen Neubeginn zu begeistern, werden die Politikkonzepte eine realistische Dimension bekommen.