Wegen Fluchtgefahr muss Perus abgesetzter Staatschef Pedro Castillo 18 Monate in Untersuchungshaft bleiben, so entschied ein Gericht an diesem Donnerstag. Dem vergangene Woche vom Parlament abgesetzten linken Ex-Präsidenten werden ein versuchter Staatsstreich vorgeworfen, ihm drohen mindestens zehn Jahre Haft. Vor dem Gerichtssaal demonstrierten Anhängerinnen Castillos, seit Tagen eskalieren die Proteste, die neue Regierung hat einen 30-tägigen Ausnahmezustand verhängt.
Peru steckt in einem Dauerzustand politischer Instabilität. Allein in den vergangenen sechs Jahren traten sechs Präsidenten ihr Amt an. In der 16-monatigen Präsidentschaft von Pedro Castillo kam es zu fünf Kabinettsumbildungen und zu 84 Wechseln auf den Ministerposten. In den letzten Jahren wurde gegen mehrere Ex-Präsidenten, gegen 21 von 25 Gouverneuren und gegen mehr als 1000 Bürgermeister und Bürgermeiterinnen wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt oder Anklage erhoben. Dazu kam der permanente Machtkampf zwischen dem linksgerichteten Präsidenten und einem Parlament, in dem rechte Parteien die Mehrheit halten. Was kam dabei heraus? Minimale politische Errungenschaften zum Wohl der peruanischen Bevölkerung und eine schwelende Unzufriedenheit, die das Fass jederzeit zum Überlaufen bringen konnte.
In den vergangenen sechs Jahren traten in Peru sechs Präsidenten ihr Amt an.
Als der zuvor kaum bekannte Dorfschullehrer und Gewerkschafter Pedro Castillo für die linke Partei Perú Libre (PL) 2021 unerwartet die Präsidentschaftswahlen gewann, war das eine Sensation. Castillos Amtszeit war jedoch von politischer Unerfahrenheit und Improvisation geprägt. Ihm mangelte es an erfahrenen Beraterinnen und den nötigen Führungskompetenzen, um seiner Regierung eine politische Ausrichtung vorzugeben. Die Besetzung der Ministerposten basierte zu häufig auf politischen Kompromissen mit der Parteispitze oder er ernannte Personen aus seinem eigenen kleinen Umkreis. Das brachte mittelmäßige Ergebnisse und führte zu einer Regierung, der es nicht gelang, auch nur eines der Wahlversprechen Castillos von 2021 voranzubringen: Unter anderem gehörten eine neue Verfassung, eine entschiedene Bekämpfung jeglicher Korruption, eine zweite Agrarreform und eine Steuerreform zu seinen Zielen. Im Dezember 2021 und März 2022 wurden bereits zwei Amtsenthebungsverfahren gegen Castillo angestrengt, die er aber überstand. Für den 7. Dezember 2022 war eine weitere Abstimmung im Parlament anberaumt worden, um Castillo auf der Grundlage eines schwer greifbaren Verfassungsartikels über „dauerhafte moralische Untauglichkeit“ (anders gesagt: Korruptionsvorwürfe) des Amtes zu entheben.
Was veranlasste Castillo, das Parlament auflösen zu wollen, eine Notstandsregierung auszurufen und eine Neuordnung des Justizsystems anzukündigen?
An diesem 7. Dezember überstürzten sich die Ereignisse: Nach Pedro Castillos erfolglosem Versuch, das Parlament aufzulösen, folgte die angesetzte Abstimmung über seine Amtsenthebung, die von den Abgeordneten mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Kurz darauf wurde dieser auf dem Weg zur mexikanischen Botschaft, wo er Asyl suchen wollte, verhaftet. Noch am selben Tag wurde die Vizepräsidentin Dina Boluarte eilends als Präsidentin vereidigt und ist damit die erste Frau in diesem Amt.
Was aber veranlasste Castillo an jenem Tag, das Parlament auflösen zu wollen, eine Notstandsregierung auszurufen und eine Neuordnung des Justizsystems anzukündigen? Dazu gibt es verschiedene Spekulationen: Haben seine wichtigsten Berater und Beraterinnen ihm möglicherweise weisgemacht, dass er aufgrund der starken öffentlichen Ablehnung des Parlaments mit einer überwältigenden Unterstützung aus der Öffentlichkeit rechnen könne? Wurde ihm fälschlicherweise versprochen, dass die Nationalpolizei und die Armee ihm zur Seite stünden? Dachte er, dass er die dritte Abstimmung über seine Amtsenthebung verlieren würde? Fühlte er sich unter Druck durch die neuen Korruptionsvorwürfe, die genau an dem Morgen des Putschversuchs bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn erhoben wurden? Oder wurde er bedroht und zu diesem Schritt gezwungen? Keine dieser Fragen wurde bisher abschließend beantwortet. Die Diskussion konzentrierte sich jedoch schnell auf das dringendere Thema, wie in einem Land, das zunehmend von sozialen Unruhen gebeutelt ist, Frieden und politische Stabilität hergestellt werden könnten.
Dies zu erreichen, ist nun das erste Ziel der ersten Präsidentin des Landes. Dina Boluarte war Mitglied in der progressiven Linkspartei Tierra y Libertad, bevor sie 2018 in die in der extremen linken anzusiedelnde und sozialkonservative PL wechselte. Die unbekannte Politikerin, die jedoch über Erfahrungen mit öffentlicher Verwaltung verfügt, trat zusammen mit Pedro Castillo bei den Präsidentschaftswahlen von 2021 an. Gleich nach dem Wahlsieg distanzierte sie sich allerdings von der PL und wurde aus der Partei ausgeschlossen.
Die neue Präsidentin Boluarte hat keine Machtbasis im Parlament.
In den ersten Tagen ihrer Amtszeit schlug sie einen versöhnlichen Ton an und drängte auf einen politischen Burgfrieden, um eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Sie versprach, Minister und Ministerinnen aufgrund ihrer Fähigkeiten und nicht aufgrund ihrer Verbindungen auszuwählen, und keinen Ministerposten an eine Person zu vergeben, die gleichzeitig ein Amt im Parlament innehat. Anders als ihr Vorgänger, der nicht mehr mit den traditionellen, vorwiegend konservativen Medien sprach, beschloss sie, diese Kommunikation wieder aufzunehmen.
Vergangene Woche hatte Boluarte noch erklärt, die Präsidentschaftsperiode bis im Juli 2026 zu Ende zu bringen. Nach zunehmenden Protesten und sozialen Unruhen, bei denen Forderungen nach vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen und nach Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung laut wurden, kündigte sie für April 2024 Neuwahlen von Präsident und Kongress an. Schließlich musste sie den Termin auf Dezember 2023 vorziehen, nachdem sich die aufgeheizte Situation nicht beruhigen ließ. Im Parlament beginnen die Beratungen über eine Verfassungsänderung, um die vorgezogenen Wahlen zu ermöglichen.
Aufgrund des Todes von mittlerweile 15 Demonstranten, Hunderter verletzter Polizeikräfte und Protestierende, der rasanten landesweiten Ausbreitung von Protesten, Straßenblockaden, Gewalt, der Schließung mehrerer Flughäfen, des Vandalismus gegen öffentliche und private Einrichtungen, Schulschließungen und massiver wirtschaftlicher Verluste wurde ein 30 Tage geltender landesweiter Ausnahmezustand verhängt. Wenig überraschend ist, dass diese Entscheidung einen Tag vor einer Großdemonstration und landesweiten Streiks getroffen wurde, die von zentralen sozialen Organisationen für den 15. Dezember 2022 geplant war.
Neuwahlen erscheinen derzeit als ein Mittel zur Wiederherstellung des sozialen Friedens, sind aber nicht die Lösung für die tiefsitzenden systemischen und strukturellen Probleme.
Die Proteste finden in einem Land statt, das von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie besonders schwer betroffen war und ist. Die Menschen in Peru leiden. Zumal auch der Krieg in der Ukraine zu steigender Inflation und hohen Energiepreisen führt und sich negativ auf die Ernährungssicherheit auswirkt. Die Menschen haben die Geduld verloren mit ihren ewig streitenden politisch Verantwortlichen, die nur noch als eigennützig, korrupt und ineffektiv wahrgenommen werden. Das ging aus einer Umfrage hervor, die im November 2022 vom Instituto de Estudios Peruanos durchgeführt wurde. Die öffentliche Unterstützung für Castillo lag bei 31 Prozent, die für das Parlament bei lediglich zehn Prozent und sagenhafte 87 Prozent der Befragten sprachen sich für Neuwahlen aus.
Selbst wenn Präsidentin Boluarte die gegenwärtigen Unruhen übersteht: Sie hat keine Machtbasis im Parlament. Die PL erachtet sie als Verräterin an der Partei. Das derzeitige Parlament, mehrheitlich politisch rechts bis extrem rechts und linksfeindlich, ist nach wie vor in der Lage, jeden politischen Reformvorschlag zu torpedieren, der gegen seine Interessen verstößt – insbesondere auch die Idee einer neuen Verfassung. Selbst eine gut geführte technokratische Regierung wäre keine Garantie, dass die Ministerinnen nicht vom Kongress in ihrer Arbeit beeinträchtigt oder behindert werden.
Sollte die gegenwärtige Krise eskalieren, könnte Präsidentin Boluarte keine andere Wahl haben, als zurückzutreten. Gemäß Artikel 115 der Verfassung würde der Parlamentspräsident, José Williams, vorübergehend die Präsidentschaft übernehmen und Neuwahlen ausrufen. Aber auch Williams ist eine umstrittene Figur. Angesichts seiner problematischen militärischen Vergangenheit und seines immer noch vorhandenen Einflusses auf die Streitkräfte könnte er in der Bevölkerung auf noch vehementere Ablehnung stoßen.
Auch wenn Neuwahlen derzeit als ein Mittel zur Wiederherstellung des sozialen Friedens erscheinen, sind sie nicht die Lösung für die tiefsitzenden systemischen und strukturellen Probleme, unter denen das Land leidet: weitverbreitete Korruption, das Fehlen eines programmatischen Parteiensystems und das Ausbleiben notwendiger Reformen in der Legislative sowie im Wahl- und Justizsystem. Eine neue politische Garde muss ernsthaft daran arbeiten, eine neue Bühne zu bauen.
Aus dem Englischen von Ina Görtz