Die geniale Taktik von Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner (CFK), eine politische Ehe einzugehen, die dem Peronismus 2019 die Rückkehr in den Präsidentenpalast beschert hat, kam im September 2021 an ihre familiären Grenzen. Die herbe Niederlage des Peronismus bei den Vorwahlen versetzte das Regierungslager in Panik. Insbesondere Vizepräsidentin Cristina Fernández, die bis dahin eher leise im Hintergrund agiert hatte, machte ihrem Unmut über den Regierungskurs in einem offenen Brief an Präsident Alberto Fernández Luft – gleichsam so, als hätte sie mit dem Kurs nichts zu tun. Sie stellte ihn praktisch an den Pranger, verlangte eine Kabinettsumbildung, vor allem aber identifizierte sie wirtschaftliche Faktoren als Hauptursache der verlorenen Wahl, insbesondere die galoppierende Inflation.
Alberto Fernández musste auf CFK zugehen, damit die Regierung nicht zerbrach. Mit dem Ergebnis, dass er als schwacher Präsident wahrgenommen wird. Mit der Kabinettsumbildung und den Preiskontrollen für essentielle Lebensmittel verfolgt er das kurzfristige Ziel, die anstehenden Zwischenwahlen am 14. November, bei denen ein Teil der Parlamentsmandate neu vergeben wird, mit einem blauen Auge zu überleben.
Not macht erfinderisch: In Argentinien haben individuelle Initiativen zum „Schürfen“ digitaler Kryptowährungen einen unglaublichen Lauf.
Vor genau zwei Jahren wurde die neue Regierung gewählt. Kaum im Amt, musste sie vor allem Pandemiebekämpfung betreiben. Dabei steckte Argentiniens Wirtschaft bereits vor der Corona-Pandemie in einer Rezession. Der Staat war hoch verschuldet und die jährliche Inflation bereits bei 35-40 Prozent. Beobachterinnen wie Claudia Zilla sprechen zu Recht von einer makroökonomischen Fehlentwicklung, die inzwischen bedrohliche Züge annimmt. Die Kluft zwischen dem offiziellen Wechselkurs zum US-Dollar und dem Devisenschwarzmarkt ist mittlerweile auf 100 Prozent geklettert. Dies setzt die Regierung zusätzlich unter Druck. Nach über eineinhalb Jahren Pandemie, einer um 42 Prozent gestiegenen Armutsquote, der galoppierenden Inflation und wachsenden privaten Schuldenbergen ist die Gesellschaft heute vor allem eins: erschöpft. Not macht aber auch erfinderisch: So haben in Argentinien individuelle Initiativen zum „Schürfen“ digitaler Kryptowährungen einen unglaublichen Lauf. Die Mittelschicht investiert in digitale Währungen, um der Inflation entgegenzuwirken. Ein Risiko soll das andere ausbalancieren.
Immerhin steht das Land zu Beginn des Sommers auf der Südhalbkugel mit einer Impfquote von mittlerweile fast 60 Prozent Komplettimpfungen und 75 Prozent Erstimpfungen gut da. Die Impfbereitschaft in der Bevölkerung bleibt weiter hoch. Dies ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr wichtig.
In dieser Situation ist Argentinien als größter Schuldner des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf der Suche nach ausländischen Investitionen. Neue Investitionsabkommen machen Schlagzeilen, die dem Industrie- und Wirtschaftsstandort Argentinien neues Leben einhauchen sollen. Das französische Bergbauunternehmen Eramet wird – so wurde gerade erst verkündet – mit der chinesischen Firma Tsingshan Lithium abbauen. Man erwartet, dass von dort in Zukunft ca. 15 Prozent des gesamten europäischen Lithiumbedarfs bedient werden können. Diese Investition wird durch die neuen Klimaziele, die u.a. mit Elektroautos erreicht werden sollen, stimuliert. Es wird damit gerechnet, dass bereits 2030 75 Prozent des europäischen Automarkts elektrisch sein werden. Solche Szenarien klingen für viele Länder des Globalen Südens noch nach weit entfernter Zukunftsmusik. Sie zeigen jedoch, wie eng Europa und Lateinamerika verzahnt sind.
Die reine Ausbeutung des Rohstoffreichtums bringt den Schwellenländern zwar schnelles Geld, aber ohne die Entwicklung genuiner Wertschöpfung entstehen langfristig Umwelt- und Sozialprobleme.
Auf den ersten Blick scheint es sich bei der Investition jedoch wieder einmal um reinen Extraktivismus zu handeln. Kurzfristige Strategien dieser Art haben in der Vergangenheit die lateinamerikanische Entwicklung nicht vorangebracht. Die reine Ausbeutung des Rohstoffreichtums bringt den Schwellenländern zwar schnelles Geld, aber ohne die Entwicklung genuiner Wertschöpfung entstehen langfristig Umwelt- und Sozialprobleme.
Seit dem Amtsantritt von Präsident Alberto Fernández ist die Regierung zudem mit dem IWF über eine Neustrukturierung der Schulden im Gespräch. Noch gibt es keine Einigung. Das letzte G20-Treffen in Rom nutzte Argentinien, um europäische Länder von der Reduzierung der Zahlungen zu überzeugen. Ein Schuldennachlass oder gar ein vollständiger Erlass sind nach den IWF-Statuten nicht erlaubt, aber die Regierung versucht, die Tilgungsraten zu reduzieren. Allerdings herrscht im Regierungslager Uneinigkeit über die Strategie. Wirtschaftsminister und Alberto-Vertrauter Martín Guzmán möchte über eine längere Laufzeit verhandeln. Dafür müsste ein Sparprogramm vorgelegt werden. Die mächtige Vizepräsidentin will dagegen vor den Zwischenwahlen jede Einsparung verhindern.
Die parlamentarischen Zwischenwahlen am 14. November werden den weiteren Kurs der peronistischen Regierung bestimmen. Sie entscheiden auch über das Schicksal von Präsident Alberto Fernández. 2019 traten die Peronisten geeint zur Wahl an. Die Überfigur CFK hatte verstanden, dass der Kirchner-Teil der Bewegung allein nicht würde gewinnen können. Sie schmiedete mit dem moderaten Flügel um Alberto Fernández, mit konservativen peronistischen Kräften, einflussreichen sozialen Bewegungen und verschiedenen nicht-peronistischen progressiven Gruppierungen eine Wahlallianz. So gelang ihr der Sieg über die liberalen und konservativen Kräfte.
Die traditionelle konservative Elite verschärft ihren Diskurs auch durch Druck von Rechtsaußen, ähnlich wie in anderen Ländern Lateinamerikas.
Heute, zwei Jahre später, steht es um diese Allianz schlecht. Der Faden, der sie zusammenhält, ist hauchdünn geworden. Bei den Vorwahlen im September zeigte sich die Verärgerung über die aktuelle sozio-ökonomische Situation und den Kurs der Regierung. Die Niederlage war ein Weckruf. Laut Umfragen wird sich dieser Trend bei den jetzt anstehenden Zwischenwahlen bestätigen. Vielleicht kann die Regierung etwas aufholen, doch es ist wahrscheinlich, dass die Regierungsallianz ihre Mehrheit im Senat verlieren wird. Das konservative-liberale Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio kann dann eigene Gesetzesinitiativen im Kongress durchbringen. Außerparlamentarisch zeigt das Bündnis stark rechtspopulistische Tendenzen. Beide Seiten – Regierung und Opposition – haben im Verlauf des Jahres ihren Diskurs radikalisiert.
Dabei verschärft die traditionelle konservative Elite ihren Diskurs auch durch Druck von Rechtsaußen, ähnlich wie in anderen Ländern Lateinamerikas. Der argentinische Kongress wird nach den Wahlen noch fragmentierter sein. Die Unzufriedenheit mit der allgemeinen Lage und mit der extremen Polarisierung zwischen der peronistischen Regierung und der konservativen Opposition veranlasst einige Wählerinnen und Wähler, Parteien und Kandidaten an den äußeren Rändern ihre Stimme zu geben. Dass trotzkistische und linke Parteien in bestimmten Regionen des Landes gewählt werden und eine kleine Repräsentanz im Abgeordnetenhaus haben, ist nichts Neues.
Die neue Popularität des anarcho-kapitalistischen Provokateurs Javier Milei ist die argentinische Variante des Erfolgs rebellischer Ultrarechter. Er bekommt vom Sohn des rechtsextremen Präsidenten Brasiliens Bolsonaro, vom rechtsextremen chilenischen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast und auch von der spanischen rechtspopulistischen Vox-Partei Unterstützung. Sein Erfolg ist als Reaktion auf die uninspirierte Politik der traditionellen Parteien zu verstehen.
Der argentinische Kongress wird nach den Wahlen noch fragmentierter sein.
Der 50-jährige Milei wird vor allem von jungen Menschen in der Stadt Buenos Aires gewählt werden. Er ist ein Anti-Establishment-Kandidat wie aus dem Bilderbuch: Er redet hemmungslos. Er ist stolz darauf, dass er sein Haar nicht mehr kämmt, seit er 13 Jahre alt ist. Er attackiert die „politische Kaste“. Er möchte mit allen eine Allianz eingehen, die glauben, dass die Linke der Feind ist. Und er möchte Argentinien wieder zu der alten Größe zurückführen, die es vor hundert Jahren hatte. Dafür will er deregulieren und die Zentralbank abschaffen, Steuern senken und andere libertäre Maßnahmen durchsetzen. Er ist gegen Abtreibung – in einem Land, in dem eine massive Frauenbewegung seit 2015 gezielt für dieses Recht gekämpft und es durchgesetzt hat. Mileis Partei könnte nun mit vier Sitzen ins Parlament einziehen.
Zum Wesen der jüngeren argentinischen Demokratie gehört, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen großen Druck auf Parteien und Institutionen ausüben. Das zeigt sich einerseits in der populistischen Rebellion von rechtsaußen, die sich in den fast 14 Prozent der Stimmen bei den Vorwahlen in Buenos Aires niederschlug. Andererseits gibt es die Frauenbewegung und soziale Bewegungen, die das Recht von Arbeiterinnern und Arbeitern auf fairen Lohn und gute Arbeitsbedingungen im informellen Sektor der Wirtschaft einklagen. Letztere sind wesentlich stärker als die Gruppierungen am rechten Rand und für die Festigung und Belebung der Demokratie ein Segen. Getrübt werden die positiven Aspekte dieser Proteste und neuen Organisationsformen von der Unsicherheit über den Kurs des Landes. Argentinien verfügt über keine zusätzlichen Mittel mehr, um neue Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Und einen Konsens über die Wege zu Wachstum und Wohlstand wird es auch nach den Wahlen kaum geben.