Die Präsidentschaftswahlen Ende 2015 in Argentinien, die überraschend der neoliberale Nicht-Peronist Mauricio Macri für sich entscheiden konnte, leiteten in Lateinamerika den Rechtsruck ein. Im Land selbst und mit Blick auf die historisch kurze Verweildauer nicht-peronistischer Regierungen galt er vielen jedoch als Eintagsfliege – eine Vermutung, die die jetzt anstehenden Zwischenwahlen wiederlegen werden.

Am 22. Oktober 2017 finden in Argentinien die parlamentarischen Zwischenwahlen statt, ähnlich den us-amerikanischen midterm elections eine Wahl, bei der die Hälfte der Abgeordneten- und ein Drittel der Senatorenmandate neu vergeben werden. Für jede Regierung ist dieses “Pulsfühlen” auf halber Strecke maßgeblich, da über die parlamentarische Handlungsfähigkeit der nächsten zwei Jahre entschieden wird. Dies gilt noch mal mehr für die Regierung von Mauricio Macri, dessen Sieg als Umbruch in der politischen Kultur des Landes gefeiert wurde.

Nach fast zwei Jahren in der Regierungsverantwortung ergibt sich eine Bilanz, in der nur die Neuverschuldung rasant steigt.

Die Wahl 2015 war eine Protestwahl: Der peronistische Links-Populismus der Kirchners  (Nestor Kirchner 2003-2007, Cristina Fernández de Kirchner 2007 – 2015) hatte das Land zwar aus der Sozialkrise nach dem Staatsbankrott 2001 geführt. Mit dem Fall der Rohstoff-Preise, steigender Inflation und dem selbstgefälligen Regierungsstil der Präsidentin wuchs aber der Verdruss. PRO, die Hauptstadtpartei des damaligen Bürgermeisters Macri, erhielt über die Koalition mit der liberalen Traditionspartei UCR erstmals Präsenz in den Provinzen und versprach eine Wirtschaftsbelebung, die trotz neoliberalen Zuschnitts technokratisch und apolitisch daher kam.

Das Programm, das aus den Lehrbüchern der 1990er stammt, konnte bislang ob mangelnder Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses nur teilweise umgesetzt werden. Eine kostspielige Einigung bezüglich des Schuldendienstes wurde mit Hedge-Fonds vereinbart, um wieder international kreditwürdig zu werden, Unternehmenssteuern wurden gekürzt beziehungsweise gestrichen und der Markt nach zwölfjähriger Abschottung geöffnet. Subventionsabbau im Energiesektor erhöhte die Strom- und Gaspreise um über 700 Prozent, was die privaten Haushalte hart traf, besonders aber kleinere Betrieb und Mittelständler, die mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze stellen: Eine derartige Erhöhung der Produktionskosten bei gleichzeitiger Konkurrenz der Importe sowie eine Inflation von weiterhin 26 Prozent und entsprechendem Nachfragerückgang kann schwerlich auf die Preise umgeschlagen werden und führte zu Entlassungen und Insolvenzen. Gleichzeitig wurden Sozialleistungen wie Kindergeld und Grundrente aber beibehalten und enorme Zahlungen an die gewerkschaftlichen Gesundheitsdienste verhandelt, was als Preis für den sozialen Frieden galt. Sicher, bei Regierungsübernahme lag die Wirtschaft am Boden und die Kassen waren leer. Die argentinischen Unternehmer (einschließlich Unternehmer Macri) investieren jedoch (noch) nicht, spekulieren lieber mit Staatsanleihen und parken ihre Geld im Ausland. Und trotz gefeierter Rückkehr Argentiniens auf den Weltmarkt halten sich auch  ausländische Direktinvestoren bislang zurück, da sie der Stabilität des Regierungs- und Stilwechsels noch nicht trauen.

Nach fast zwei Jahren in der Regierungsverantwortung ergibt sich also eine Bilanz, in der nur die Neuverschuldung rasant steigt. Warum zeichnet sich in den Zwischenwahlen dennoch ein erheblicher Zuwachs für die Regierungspartei ab?

Strukturelle Probleme werden erfolgreich individualisiert und deren Herausforderung an staatliche Verantwortung minimiert.

Laut einer Umfrage von 2016 bezeichnen sich 73 Prozent der Argentinierinnen und Argentinier als Teil der Mittelklasse. Gleichzeitig belegen Studien, dass 33 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. Augenscheinlich geht es also nicht um reale Wirtschaftsdaten, sondern um subjetive Selbstverortung, das Prinzip Hoffnung zwischen Identität und Ambition. Dieses Phänomen wissen die argentinischen Konservativen in ihrer Modernisierungsstrategie meisterhaft zu nutzen: Der Wahlkampf ist erstaunlich inhaltsleer, aber emotional. Plakate zeigen nebst dem Namen der Koalition Cambiemos (Lasst uns verändern!) stets Umarmungen statt Slogans. Es wird nicht von links oder rechts und auch nicht von Klassen gesprochen, sondern vom Individuum in seinem Bestreben voranzukommen (gemäß dem American Dream). Dabei soll nicht staatlich gegängelt, sondern flankiert und gefordert werden. Der Dialog mit den Wählerinnen und Wählern findet in den sozialen Netzwerken statt, für deren Nutzung die Regierungspartei PRO eine komplexe Strategie der Datenauswertung entwickelt hat – eine lohnende Investition, da selbst der argentinische Mindestlohnempfänger eher auf ein Mittagessen als auf seinen Internetzugang verzichtet.

Big data verrät so, wie und wohin man seinen Wahlkampf dirigiert, der nicht mehr in Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen stattfindet, sondern im “timbreo”, einer Klingelaktion, in der selbst der Präsident von Tür zu Tür geht, um sich die individuellen Sorgen anzuhören und Umarmungen medienwirksam zu vermarkten. Strukturelle Probleme werden so erfolgreich individualisiert und deren Herausforderung an staatliche Verantwortung minimiert. Der weltweite Triumphzug der Individualisierung des politischen Subjekts als Methode, die das Kollektiv ebenso ausblendet wie die Solidarität, ist in Argentinien angekommen.

Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner tritt in den Zwischenwahlen den Kampf um einen Senatssitz für die wählerreichste Provinz Buenos Aires an, kämpft gleichzeitig aber auch um die Führung des gespaltenen Peronismus. Diese, die argentinische Politik seit den 1940er Jahren zutiefst prägende korporatistisch-populistischen Bewegung, die weder links noch rechts ist, erlebt derzeit die Abtrennung des linken kirchneristischen Flügels: Statt sich in einer parteiinternen Kandidatenwahl dem moderaten bis konservativen Flügel der Partido Justicialista zu stellen, rief Cristina ihre Kandidatur als eigene Partei aus. Zwar verwies sie so im August in den Vorwahlen – in Ermangelung von parteiinternen Gegenkandidaten eher eine gigantische Meinungsumfrage – die gemäßigten Ableger der peronistischen Bewegung auf schlechte dritte und vierte Plätze. Ihre Rechnung, als Retterin in sozialer Not den angestrebten Senatsposten mit Leichtigkeit zu gewinnen, scheint jedoch nicht aufzugehen: Obwohl auch sie ihre Wahlkampfstrategie erneuert hat und versucht, sich bescheidener und weniger polemisch zu geben, kommt sie über ein Drittel der Wählergunst nicht hinaus. Das reicht für den Senat, schwerlich aber für die Rückkehr ins Präsidentenamt 2019. Ihre Kandidatur verstärkt zudem die ohnehin hohe Polarisierung zwischen Anhängern und Gegnern des Vorgängerregimes und treibt erneut Protestwähler in die Arme der PRO, die nun in der wahlentscheidenden Provinz Buenos Aires bei 43 Prozent in den Umfragen liegt.  Für dritte Optionen ist da kein Platz: Die sozialistische Partei verlor in den Vorwahlen wegen Unterschreitung der 1,5 Prozent-Quote in einigen Provinzen sogar die Wahlzulassung.

Zu erwarten ist also ein deutlicher Zuwachs der parlamentarischen Sitze der Regierungskoalition Cambiemos. Für eine Mehrheit im Senat wird es nicht reichen, aber die Führung im Abgeordnetenhaus wird die Verhandlungsbereitschaft zurückgehen lassen und der neoliberalen Kurs vertiefen. Eine Arbeitsmarktreform mit dem Ziel, die mächtigen argentinischen Gewerkschaften zu entmachten, die Flexibilisierung zu erhöhen und Lohnnebenkosten zu senken, wird jedoch auch nach dem 22. Oktober ausbleiben. Zum einen gilt “Nach der Wahl ist vor der Wahl” und Macri strebt 2019 in die zweite und letzte Amtszeit, in der dann härter durchgegriffen werden kann. Zum anderen werden wichtige Reformschritte auch so und dank der Strategie gelingen, Teile der Gewerkschaften kostspielig zu kooptieren und andere medienwirksam der Korruption zu überführen.

Ja, die politische Kultur Argentiniens befindet sich im Umbruch. Der alte Glaube, dass ein Peronist nie einen Nicht-Peronisten wählen würde, stimmt so nicht mehr. In Argentinien beschränkt sich der Umbruch aber auch eher auf die Form als auf den Inhalt.