Es ist der dritte ernstzunehmende Anlauf, Bewegung in die verfahrene Situation in Venezuela zu bringen. Seit Freitag verhandeln Opposition und Regierung unter norwegischer Vermittlung in Mexiko. Die vorherigen Versuche scheiterten sang- und klanglos und hatten eine Stärkung des venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro zur Folge, der jedes Mal die Daumenschrauben weiter anzog. Entsprechend gering sind diesmal die Erwartungen, besonders innerhalb der venezolanischen Bevölkerung.

Die hat andere Sorgen: Covid-19 hat die ohnehin schon desolaten Hospitäler völlig kollabieren lassen, die Impfquote ist mit elf Prozent (komplett geimpft) der Bevölkerung zusammen mit Haiti und Nicaragua eine der niedrigsten des Kontinents. Die Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln ist prekär, Inflation, Stromausfälle und Benzinmangel kommen hinzu. Mehr als sechs der 28 Millionen Einwohner haben ihr Land verlassen und die Basis der Opposition schrumpfen lassen. Die Zurückgebliebenen reiben sich im Überlebenskampf auf, viele haben sich enttäuscht aus dem politischen Leben zurückgezogen.

Maduros Rückhalt liegt Umfragen zufolge bei 21 Prozent – das ist in etwa die Zahl der Regierungsangestellten und Militärs, also diejenigen, deren wirtschaftliches Schicksal direkt vom Regime abhängt. Der Großteil der Venezolaner befürwortet einen politischen Wandel. Aber paradoxerweise kann die Opposition davon nicht profitieren. Wenig ist übrig von der Euphorie, als sich Juan Guaidó im Januar 2019 zum Gegenpräsidenten ausrief, und „dem Usurpator Maduro“ mit Massenprotesten, einer militärischen Mini-Rebellion und breiter internationaler Anerkennung das Leben schwer machte. Damals unterstützten ihn 80 Prozent, heute stehen laut einer Umfrage des Instituts Meganalisis nur noch vier Prozent der Bevölkerung hinter ihm.

Damit ist er in den Augen Maduros keine direkte Bedrohung mehr. Nun will der Staatschef sich aus dem Zwangskorsett befreien, das Guaidó und die Opposition dank ihres internationalen Rückhalts geschnürt haben. Da ist zum einen der Status eines Paria-Regimes. Venezuela könnte das erste lateinamerikanische Land werden, gegen das der Internationale Strafgerichtshof demnächst ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eröffnet. Zum anderen erweist sich das westliche Embargo als schwere wirtschaftliche Bürde. Das Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahrzehnt um 80 Prozent geschrumpft.

Das Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahrzehnt um 80 Prozent geschrumpft.

Was noch funktioniert ist neben dem (angeschlagenen) Erdölsektor eine florierende Schattenwirtschaft bestehend aus Schutzgelderpressung, Gold-, Waffen-, Menschen-, und Drogenschmuggel. Kriminelle Gruppen aus der ganzen Welt mischen mit und kontrollieren große Teile des Landes, geschützt von einem Netzwerk aus korrupten Militärs und parastaatlichen Milizen. Der produktive Apparat liegt in Ruinen und ist ohne ausländische Investitionen nicht mehr in Gang zu bekommen. Doch selbst Maduros Verbündete wie Russland und China halten trotz ihres geostrategischen Interesses den Geldbeutel mittlerweile geschlossen. Zum einen haben die Sanktionen Geschäfte mit Venezuela erschwert und verteuert. Zum anderen lässt die grassierende Korruption Investitionen als finanzielles Fass ohne Boden erscheinen.

Das wirtschaftliche Debakel hat dazu geführt, dass die Oligarchen und Militärs rund um Maduro zwar weiterhin ein luxuriöses Auskommen haben, es aber längst nicht mehr reicht, um – wie zu Zeiten von Maduros Vorgänger Hugo Chávez – Geld nach unten durchzureichen, um die politische Basis bei Laune zu halten und genügend Wählerstimmen zu sichern. Das hat Maduros Legitimität zuletzt untergraben. Bei den letzten Parlamentswahlen 2020, an denen die Opposition nicht teilnahm, gingen nur 15 bis 30 Prozent wählen. „Das ist ein Zeichen der Schwäche und macht Maduro abhängiger von Allianzen mit den Militärs und anderen nicht unbedingt vertrauenswürdigen Partnern“, sagt die Politologin Colette Capriles.

Maduros Optionen sind daher begrenzt: entweder eine Flucht nach vorn in immer autoritärere Maßnahmen, analog der Entwicklung in den sozialistischen Bruderländern Nicaragua und Kuba. Oder eine zumindest teilweise demokratische Öffnung und Zugeständnisse, um die Sanktionen zu lockern, die Wirtschaft zu stabilisieren und Legitimität zu gewinnen. Maduro hat sich für letzteres entschieden. Gegen interne Widerstände machte er zuletzt sogar halbherzige Zugeständnisse an die Opposition. So sitzen im fünfköpfigen Wahlrat inzwischen zwei Kritiker der Regierung. Oppositionsführer Freddy Guevara wurde freigelassen, das Oppositionsbündnis MUD, das der Regierungspartei PSUV bei den Parlamentswahlen 2016 eine herbe Niederlage beschert hatte, wurde auch zu den Regionalwahlen im Herbst zugelassen. Über die Rückkehr exilierter Regimegegner wird derzeit noch intern diskutiert.

Trotz ihrer vermeintlichen Schwäche hat auch die Opposition Trümpfe in der Hand.

Standen sich bei den letzten Verhandlungen 2019 noch zwei ähnlich starke Kontrahenten gegenüber, geht die Opposition diesmal schwächer in die Gespräche. Der 38-jährige Guaidó hat aufgrund eigener Fehler, aber auch dank geschickter Spaltungspolitik, Propaganda und gezielter Repression von seiten des Regimes innerhalb des Oppositionsbündnisses an Rückhalt verloren. Moderate Oppositionsführer wie Henrique Capriles kritisierten Guaidós unglückliche Verstrickungen in militärische Abenteuer wie die gescheiterte Söldnerinvasion im Mai 2020. Guaidó mache außerdem unrealistische Maximalforderungen wie den Rücktritt Maduros zur Bedingung für Verhandlungen. Capriles Forderung einer graduellen Strategie fand zuletzt Unterstützung im Unternehmerverband sowie im Foro Cívico, der wichtigsten Bewegung der Zivilgesellschaft. Der radikale militaristische Flügel unter Führung von Maria Corina Machado, der dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump nahesteht, verlor dagegen mit dessen Wahlniederlage an Einfluss.

Trotz ihrer vermeintlichen Schwäche hat auch die Opposition Trümpfe in der Hand. Zum einen die Unterstützung der USA und Europas für eine Rückkehr zu demokratischen Spielregeln durch Verhandlungen. Unter Trump gab es keine gemeinsame Linie des Westens, weil seine Strategen auf – letztlich leere – militärische Drohungen setzten. Nun scheint die transatlantische Brücke aber repariert. Die USA haben den Hebel der Sanktionen in der Hand. Ohne die Einwilligung der US-Diplomatie wird Maduro sein Ziel daher nicht erreichen. Für die Opposition ist dies eine wichtige Stütze.

Der zweite Trumpf ist das Timing. Die Wahlen im Herbst, an denen die Opposition nun geschlossen teilnehmen will, bieten eine einzigartige Chance auf Machtzugewinn. Die Kader der regierenden sozialistischen Partei PSUV sind unpopulär. Gelingt es der Opposition, im Volk verankerte gemeinsame Kandidaten zu finden und die Apathie der Wähler zu besiegen, wäre dies ein wichtiger Schritt für den Aufbau einer soliden Basis. Zwar kontrolliert Maduro die Wahlkampfmaschinerie, den Wahlrat und die gesamte Logistik des Urnengangs. Doch will er eine Lockerung der Sanktionen erreichen, wird er diese Karten nicht offen ausspielen können.

Die Vermittler haben aus dem Scheitern der vorherigen Verhandlungen auch Lehren hinsichtlich der Methodik der Gespräche gezogen. So sind die Verhandlungen geheim; keine der Parteien darf der Presse Inhalte filtern. Beide Seiten haben sich darauf geeinigt, auch Teile des Abkommens zu akzeptieren, sofern diese ausreichend besprochen wurden und ihre Implementierung dringlich ist – auch wenn der Rest der Agenda noch offen ist. Das eröffnet die Möglichkeit kleiner Schritte der Vertrauensbildung wie zum Beispiel humanitäre Hilfslieferungen, eine Freilassung aller politischen Gefangenen oder eine schrittweisen Re-Institutionalisierung des Landes und wichtiger Schlüsselstellen wie des Wahlrats.

Die Verhandlungen werden weder einfach sein noch rasch vorangehen.

Geleitet werden die Gespräche von dem erfahrenen dänischen Diplomaten Dag Nylander, der schon die komplizierten Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Farc-Guerrilla zu einem glücklichen Ende brachte. Aus diesen Verhandlungen brachte er einige neue Ideen mit, so das Recht der Opfer auf Entschädigung als Verhandlungspunkt und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft, um ein Abkommen dann auch auf eine breitere Legitimitätsbasis zu stellen.

Als Beobachter fungieren Russland und die Niederlande. Dass Russland an Bord geholt werden konnte, wertet Phil Gunson von der International Crisis Group als positiv: „Bisher war Russland bemüht, strategische Vorteile für die USA und ihre Alliierten zu verhindern. Aber von einem Abkommen, das die wirtschaftlichen Interessen Russlands in Venezuela wahrt, würde auch Moskau profitieren.“

Die Verhandlungen werden weder einfach sein noch rasch vorangehen. Weder ist klar, dass die Opposition ihre Einheit wahren kann, noch ist sicher, dass Maduro stark genug sein wird, substantielle Zugeständnisse gegenüber seinen Alliierten durchzusetzen. Vor allem gegenüber denjenigen, die mit dem Organisierten Verbrechen verquickt sind und wenig Interesse an einer Lösung haben. Ein weiterer Akteur im Schatten ist Kuba. Die Karibikinsel steckt in der schlimmsten Wirtschafts- und Legitimitätskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 90er-Jahre. Die Geschäfte mit Venezuela sind einer der letzten Rettungsringe. Die Kubaner haben einen enormen Einfluss auf Maduro und werden daher indirekt mit am Verhandlungstisch sitzen.

Dennoch gibt es berechtigte Hoffnung. Ging es bei den letzten Verhandlungen 2019 um „alles oder nichts“, ist diesmal die Politik als Kunst des Kompromisses und der Mäßigung an den Verhandlungstisch zurückgekehrt. Die Möglichkeit einer Übergangsregierung, in der sich beide Lager die Macht teilen, ist zumindest ein – wenngleich noch sehr ferner – Horizont.