Wie schnell es mit der Abschaffung der Gewaltenteilung gehen kann, hat Mexiko gerade vorexerziert: Fünf Monate nach ihrem Wahlsieg ist es der linksnationalistischen Sammelbewegung Morena gelungen, sämtliche demokratische Gegengewichte auszuschalten. Mit insgesamt 20 verfassungsändernden Reformen wird der Staat im Eiltempo umgebaut. Autonome Staatsorgane werden abgeschafft und der Exekutive unterstellt – beispielsweise das Wahlinstitut, das Transparenzinstitut und die Wettbewerbsbehörde. Krönung ist die besonders umstrittene Reform der Justiz.
Am Dienstag diskutierte das Oberste Gericht, ob diese Reform verfassungswidrig ist. Am Schluss wurde die dafür nötige Mehrheit aber um eine Stimme verfehlt. Der konservative Richter Alberto Pérez Dayan machte in letzter Minute einen Rückzieher. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Missbrauchs, man habe ihn unter Druck gesetzt, schrieben anschließend die Medien.
Präsidentin Claudia Sheinbaum hatte schon zuvor erklärt, der Wille des Volkes stehe über dem Gericht, und das Volk habe mit der Wahl von Morena gezeigt, was es wolle. Das offenbart nicht nur ein seltsames Rechtsstaatsverständnis, sondern ist bei genauerer Betrachtung auch eine gewagte Rechtfertigung: Bei der Wahl im Juni errang Sheinbaum zwar 35 Millionen oder 59,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Wahlberechtigt waren aber knapp 90 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner.
Und im Kongress errang Morena gar nur 54 Prozent der Stimmen, bekam aber aufgrund einer umstrittenen technischen Interpretation der Ausgleichs- und Überhangmandate durch das schon damals von Morena kontrollierte Wahlgericht 75 Prozent der Sitze zugesprochen. Im Senat fehlte trotzdem ein Sitz, um die Sperrminorität der Opposition zu überwinden – das gelang Morena recht schnell mit Druck und verlockenden Angeboten. Der konservative Senator Miguel Angel Yunes wurde schwach und wechselte die Seiten. Der Weg für Verfassungsänderungen im Alleingang war damit frei.
Unter Missachtung zahlreicher Prozessvorschriften wurde die Justizreform durchgeboxt.
Aufgegleist hatte die Reform Sheinbaums Mentor und Vorgänger Andrés Manuel López Obrador („Amlo“). Der hatte mit der Justiz – und besonders mit den Obersten Richtern – einige Rechnungen offen. Diese hatten nämlich mehrere seiner Reformen wegen Verfassungswidrigkeit gestoppt, ausgesetzt oder abgeschwächt, darunter die Energiereform, mit der Amlo die Energiewende und die Öffnung des Sektors für private Investoren rückgängig machen wollte, um den defizitären staatlichen Strom- und Ölkonzernen die Marktdominanz zurückzugeben. Amlo nutzte die Tatsache, dass der neue Kongress im September zusammentritt, die Präsidentschaft aber erst am 1. Oktober wechselt. Er brachte gleich Anfang September die Verfassungsreformen in den Kongress und drängte auf rasche Verabschiedung.
Sein Wunsch war den Morena-Abgeordneten Befehl. Morena ist keine Partei im klassischen Sinne, sondern eine Sammelbewegung unterschiedlichster Interessen von linksextrem bis national-patriarchalisch. Versammelt sind sie hinter einem vagen staatskapitalistischen und linkspopulistischen, antineoliberalen Parteiprogramm, aber vor allem hinter einer starken Führungsfigur, der man – im Gegenzug für Privilegien – unabdingbare Loyalität schuldet: Amlo.
Unter Missachtung zahlreicher Prozessvorschriften wurde die Justizreform durchgeboxt. Der zerstrittenen, inhaltlich und personell schwachen bürgerlichen Opposition blieb nicht viel mehr, als die Sitzung mit lauten Protestrufen zu stören und Plakate im Sitzungssaal aufzuhängen, auf denen „Morena ist Diktatur“ zu lesen war. Vorige Woche setzte der Kongress aus Furcht vor einem negativen Urteil noch einen drauf. In einem noch eiligeren und noch fragwürdigeren Gesetzgebungsverfahren untersagten die beiden Kammern dem Obersten Gericht, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, und verboten auch einstweilige Verfügungen – nicht nur in Zukunft, sondern gleich auch rückwirkend. Innerhalb weniger Stunden hatten 18 der 32 Regionalkongresse ohne weitere Diskussion zugestimmt. Morena regiert in 27 Bundesstaaten.
Was sieht nun die umstrittene Wahlrechtsreform vor? Bislang mussten in Mexiko Richter eine meritokratische Laufbahn absolvieren, um in den Instanzen aufzusteigen. Voraussetzungen waren Bewertungen und Examen. Die Richter des Obersten Gerichts, in dem Rechtsprechung letztinstanzlich konsolidiert wird, wurden vom Präsidenten vorgeschlagen. Aus dessen Liste wählte der Senat mit Zwei-Drittel-Mehrheit den oder die Kandidatin. Die Amtszeit belief sich auf neun Jahre.
Kritiker fürchten, dass dieser Prozess die Justiz politisiert.
Die Reform sieht die Entlassung von rund 7 000 Richterinnen und Richtern sowie ihre stufenweise Neuwahl durch das Volk vor – welcher Posten dran ist, wird ausgelost. Es kann sich jeder bewerben, der das Staatsexamen mit befriedigend besteht, fünf Empfehlungsschreiben von Bekannten vorweisen kann und von einem Auswahlkomitee – dominiert von Morena-Anhängern – durchgewunken wird. Dann müssen die so Ausgesiebten aus eigener Tasche einen Wahlkampf finanzieren. Kritiker fürchten, dass dieser Prozess die Justiz politisiert und entprofessionalisiert, dass er die Gewaltenteilung untergräbt und das Recht der Bevölkerung auf einen fairen Prozess beeinträchtigt. Wahlen sind außerdem in Mexiko traditionell ein Einfallstor für Korruption und Einflussnahme durch das Organisierte Verbrechen. Während des letzten Wahlkampfs wurden über 40 Kandidaten ermordet.
Seit zwei Monaten streiken Justizbeamte; über 300 NGOs, Intellektuelle und Rechtsexperten haben sich gegen die Reform positioniert. Der Unternehmerverband fürchtet um die Rechtssicherheit der Investitionen, und selbst der bislang eher Morena-zugeneigte US-Botschafter Ken Salazar sprach von einem „Risiko für Demokratie und Rechtsstaat“ und warnte vor negativen Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen der Freihandelspartner.
Doch in der Bevölkerung regt sich wenig Widerstand. Einem regierungsnahen Umfrageinstitut zufolge liegt Sheinbaums Popularität weiterhin bei knapp 70 Prozent. Die Justiz, so die weit verbreitete Auffassung, ist ineffizient, acht von zehn Mexikanern befürworten eine Reform. Verständlich: Nur fünf Prozent aller Straftaten enden in Mexiko mit einer Verurteilung. Experten sehen den Hauptgrund dafür aber vor allem in den politisch weisungsgebundenen, ineffizienten und unterfinanzierten Staatsanwaltschaften – bestraft werden nun aber die Richter. Doch solche Details dringen nicht zur Bevölkerung durch. Kommunikationswissenschaftler führen dies auf die Dauer-Propaganda der Regierung mittels der von ihr kontrollierten Medien und Influencer zurück. Dort wird das Narrativ von den korrupten Richtern kolportiert, die sich der neoliberalen Elite verkauft und das Volk verraten hätten.
Das alles erinnert an den Einparteienstaat, der 71 Jahre lang das vorherrschende Modell des Landes war. Der liberale Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa charakterisierte Mexiko damals als „perfekte Diktatur“ – ein System, in dem es zwar formal eine Opposition gab, aber die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen kontrollierte – einschließlich des Kulturlebens und der Gewerkschaften – und immer die Wahlen gewann. Wer Politik gestalten wollte, musste in die PRI eintreten. Innerhalb der Partei gab es dann durchaus unterschiedliche ideologische Lager, aber diese Differenzen wurden intern gelöst, und das Wiederwahlverbot stellte sicher, dass alle sechs Jahre die Karten neu gemischt wurden und eine andere Clique an die Schaltknöpfe kam.
Ganze Regionen sind den Kartellen ausgeliefert.
Erst im Jahr 2000 gewann ein oppositioneller Kandidat, der konservative Unternehmer Vicente Fox, eine Präsidentschaftswahl. Der Demokratisierung vorausgegangen war ein interner Zerfallsprozess der PRI und ein langer Kampf der Zivilgesellschaft um politische Teilhabe und unabhängige Institutionen wie das Wahlinstitut INE. 24 Jahre später ist Mexikos Experiment mit der liberalen, repräsentativen Demokratie zu Ende.
Auf den ersten Blick ist das ein Sieg der ersten Präsidentin des Landes, denn sie erhält damit eine beispiellose Machtfülle. Die Realität ist jedoch komplizierter: Das Mexiko des 21. Jahrhunderts ist nicht vergleichbar mit dem nachrevolutionären, aus dem vor 100 Jahren die PRI entstanden war. Heute befindet sich das Land in einer beispiellosen Sicherheitskrise, in der die Organisierte Kriminalität das Machtmonopol des Staates herausfordert. Ganze Regionen sind den Kartellen ausgeliefert, wie die Gewalteskalation in den Bundesstaaten Guerrero, Chiapas und Sinaloa derzeit offenbart. Mancherorts sind Politiker der Regierungspartei mit den Kriminellen alliiert.
Die Regierungen der vergangenen 20 Jahre setzten in diesem Kampf auf das Militär. Die innere Sicherheit ist schon längst militarisiert – was die Gewaltspirale zusätzlich befeuert hat. Zudem ist das Militär unter Amlo zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Es kontrolliert Häfen, Migration, Flughäfen, Zölle, Fluglinien, Hotels, Zugstrecken und viele Geschäftszweige mehr. Affären wie der Pegasus-Spionageskandal zeigen, dass es sich beim Militär mittlerweile um einen Staat im Staate handelt, der sich weder an Menschenrechte noch an die Rechenschaftspflicht gebunden fühlt. Problematisch ist das nicht nur wegen der politischen Kooptation des Militärs durch Morena, sondern auch wegen der tiefen Verstrickung der Streitkräfte in die Organisierte Kriminalität, wie etwa der Fall der 43 ermordeten Lehramtsstudenten illustriert.
Sheinbaum regiert nicht alleine, sondern mit einer Reihe von Strippenziehern im Schatten.
Doch warum hat Sheinbaum mit den Verfassungsreformen ihr Mandat gleich zu Beginn so schwer belastet? Die Antwort findet sich bei ihrem Vorgänger Amlo, der ihr keinen Spielraum ließ. Sheinbaum ist Technokratin, die charismatische Legitimierung hat sie von Amlo geborgt – und der kann sie ihr jederzeit wieder entziehen, notfalls indem er in drei Jahren ein Abberufungsreferendum gegen sie anberaumt. Getreue Gefolgsleute von ihm kontrollieren Schaltstellen in Kongress und Partei, einer seiner Söhne ist Parteisekretär von Morena. Bei der Justizreform trieb der Kongress Sheinbaum förmlich vor sich her – sie konnte immer nur reagieren. Damit wird der Kongress, der in der PRI-Ära lediglich eine Zierde war, zu einem neuen Machtfaktor.
Sheinbaum regiert also nicht alleine, sondern mit einer Reihe von Strippenziehern im Schatten. Sie aber wird diejenige sein, die dem Rest der Welt die demokratische Regression erklären muss – allen voran den USA, die im kommenden Jahr im Rahmen der Neuverhandlung des Freihandelsvertrags ein potentes Druckmittel in der Hand haben. Bereits jetzt laufen zwei Schiedsgerichtsverfahren gegen Mexiko wegen Missachtung des Freihandelsvertrags T-Mec. Zudem droht Donald Trump mit neuen Strafzöllen. Für das Land wäre dies eine Katastrophe: Fast 90 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die USA.
Mexikos Unternehmerschaft steht gespalten zur neuen Machtkonzentration: Der Exportsektor ist besorgt, aber Mexikos Multimillionäre, die im Schatten der PRI in hoch geschützten, monopolistischen oder oligopolistischen Sektoren wie der Telekommunikation, dem Zement- und Bauwesen oder dem Bergbau reich geworden sind, sehen es eher gelassen. Sie hoffen auf lukrative Staatsaufträge, denn das Land hat aufgrund des Stillstands der öffentlichen Investitionen unter Amlo – der das Geld lieber in populistische Sozialprogramme steckte – einen immensen Nachholbedarf. Internationale Investoren mögen angesichts fehlender Rechtssicherheit erschrecken – Mexikos Multimillionäre nicht. Es droht die Rückkehr zum Klüngelkapitalismus der PRI-Epoche.
Die Reformen haben Sheinbaum also nicht gestärkt, sondern ihr die Möglichkeit genommen, mit der Opposition zu paktieren oder an den Rechtsstaat zu appellieren, um Konflikte innerhalb des neuen, hegemonialen Machtkomplexes zu lösen. Sie hat Gegengewichte annulliert, die ihr ohnehin nicht gefährlich waren, ihr aber hätten nützlich werden können. Den politischen Poker beginnt sie mit einer schwachen Hand.