Die Freude ist ihr anzusehen, wenn Olga Skobejewa im staatlichen TV-Sender  Rossija 1  verkündet: Washington habe den Hamas-Angriff „verschlafen“ und das Bild von „der unbesiegbaren israelischen Festung“ sei zusammengebrochen. Seit dem 7. Oktober läuft die russische Propagandamaschinerie mal wieder auf Hochtouren: Es wird alles darangesetzt, Aufmerksamkeit von den Ereignissen im Krieg in der Ukraine abzulenken. Dafür sind alle Mittel recht.

Fernsehnachrichten zeigen Berichte über Russlands humanitäre Hilfe im Gazastreifen. Darin wird Israel vorgeworfen, den Gazastreifen systematisch „dem Erdboden gleichzumachen“. Die Berichterstattung fokussiert sich auf das Leiden der dortigen Bewohnerinnen und Bewohner. Westliche Staatschefs werden gezeigt, die Israel volle Unterstützung zusichern, während in ihren eigenen Ländern pro-palästinensische Massenkundgebungen stattfinden. Zudem werden in zahlreichen TV-Talkshows haltlose Thesen präsentiert, wie etwa die Behauptung, das korrupte ukrainische Verteidigungsministerium würde von den USA erhaltene Waffen an die Hamas weiterverkaufen. Auch in den Sozialen Medien wird diese Mär verbreitet. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des UN-Sicherheitsrates und ehemaliger russischer Präsident, schrieb als einer der Ersten auf seinem Telegramm-Kanal: „Die Waffen, die dem Neonazi-Regime in der Ukraine übergeben wurden, werden aktiv in Israel eingesetzt.“ Russische Nationalisten jubeln regelrecht über den Angriff auf Israel. So kommentierte Dmitry Steschin, Kriegskorrespondent der kremlnahen Zeitung Komsomolskaya Prawda, auf seinem Telegram-Kanal ein Video, das Israelis zeigt, die aus Grenzstädten fliehen, mit den Worten: „Kein Tropfen Mitleid und Sympathie.“ 

Mit dem Krieg in Nahost stellt die russische Propaganda die USA als gescheiterte globale Supermacht dar.

Während sich die ganze Welt auf den Krieg zwischen Israel und Hamas konzentriert, verhehlen die russischen Propagandisten nicht ihre freudige Zuversicht, dass der Westen nun den Krieg in der Ukraine vergessen werde. So schrieb Steschin bereits am 7. Oktober: „Die Ukraine ist schnell von der Weltagenda verschwunden.“ Er schränkte aber sofort wieder ein: „Aber sie hat eine Chance, dorthin zurückzukehren: wenn sich herausstellt, dass die Hamas mit Hilfe der Ukrainer bewaffnet wurde.“ Mit dem Krieg in Nahost stellt die Propaganda die USA als gescheiterte globale Supermacht dar und bescheinigt dem Westen geopolitische Idiotie. In einer Talkshow des Pervyj kanal klagte Andrej Klinzewitsch die USA an, Nutznießer des Konflikts zu sein. Da US-Präsident  Joe Biden vor den Wahlen 2024 dringend „eine Art politischen Sieg“ brauche, so der Leiter des Zentrums für die Erforschung militärischer und politischer Konflikte, werde Washington den Iran in den Krieg hineinziehen. 

Während der Überraschungsangriff der Hamas auf Israel als Beweis für den Niedergang der Weltmacht USA gewertet wird, spielen die russischen Opfer des Terrorangriffs hingegen in den russischen Medien kaum eine Rolle. Dabei tötete die Hamas am 7. Oktober auch 20 russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sieben werden noch vermisst, zwei Personen sollen unter den Hamas-Geiseln sein. Sorgen um ihr Schicksal wird kaum geäußert, stattdessen verspotten Propagandisten diejenigen Russinnen und Russen, darunter viele Prominente, die nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine nach Israel ausgewandert sind und sich nun erneut in einem Krieg wiederfinden. Die Chefin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, schrieb: „Wir erwarten den Exodus der russischen Pazifisten. Nein, natürlich erwarten wir das nicht.“

Während die russischen Medien damit beschäftigt sind, von den eigenen Problemen abzulenken, versucht der Kreml sich als Friedensstifter in dem Konflikt zu positionieren.

Während die russischen Medien damit beschäftigt sind, von den eigenen Problemen abzulenken, versucht der Kreml sich als Friedensstifter in dem Konflikt zu positionieren. Am 16. Oktober führte Wladimir Putin Telefongespräche mit den Präsidenten Syriens, Irans und Ägyptens, in denen er seine äußerste Besorgnis über die massive Eskalation der Feindseligkeiten äußerte. Am selben Tag legte Russland dem UN-Sicherheitsrat  einen Resolutionsentwurf zu humanitären Fragen im Zusammenhang mit der Krise im Gazastreifen vor, der jedoch nicht angenommen wurde. 

Der Ukraine-Krieg hat die internationale Position Russlands geschwächt. Trotz seiner Ambitionen sind tatsächliche Einflussmöglichkeiten des Kremls im Nahen Osten begrenzt. Telefonate mit arabischen Führern seien nichts anderes als eine „Imitation von Aktivität“, ist sich der russische Orient-Experte Ruslan Suleymanov im Gespräch mit der Autorin sicher. Russland beteiligte sich zwar am Nahost-Quartett, dem die UN, die USA und die EU angehören, um im Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln. Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist dieses allerdings quasi nicht mehr existent. 

Bemerkenswert ist, dass der Kreml den Terroranschlag auf Israel nicht offiziell verurteilt hat. Israels Premier Benjamin Netanjahu und Russlands Präsident Wladimir Putin haben in den letzten zehn Jahren zwar 479 Mal direkt miteinander kommuniziert. Es dauerte aber zehn Tage, bis Putin und Netanjahu nach dem Hamas-Terror zum ersten Mal wieder miteinander telefonierten. Laut Kreml brachte der russische Präsident im Gespräch „entschiedene Ablehnung und Verurteilung“ jeglicher Aktionen zum Ausdruck, bei denen Zivilisten zum Opfer fallen. Die israelische Zeitung The Times of Israel schrieb, Putin habe sich äußerst kritisch gegenüber Israel geäußert und sogar Vergleiche zwischen Israel und der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg gezogen. Derweil gaben die Hamas-Kämpfer eine Erklärung ab, in der sie die Position des russischen Präsidenten würdigten. Nicht nur das US-amerikanische Magazin Politico sieht im Hamas-Angriff an Putins Geburtstag ein Geschenk an den russischen Präsidenten.

Einiges spricht dafür, dass der Kreml auf die Hamas gesetzt hat.

Einiges spricht dafür, dass der Kreml, der in der Vergangenheit gute Beziehungen sowohl zu Israel als auch zu dessen Feinden Iran und Syrien unterhielt, auf die Hamas gesetzt hat. Dieses Kokettieren mit der Hamas sei Putins persönliche Rache an Netanjahu, der den Krieg in der Ukraine nicht unterstützt hat, glaubt Suleymanov. Amir Weitman attackierte im Interview mit RT Moskau scharf. Russland werde für die Unterstützung derjenigen einen Preis bezahlen, die Israel angegriffen haben, so der Fraktionschef der israelischen Regierungspartei Likud. Nachzuweisen ist das sicherlich nicht, aber in Israel ist die Wut auf Russland groß. Die Hamas hatte ihre Unterstützung des russischen Angriffs auf die Ukraine erklärt, Mitglieder des Hamas-Politbüros statten mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Besuche in Moskau ab. Eine so enge Zusammenarbeit gab es vor dem Angriff auf die Ukraine nicht.

Die Hoffnung des Kremls, durch Unterstützung der Hamas neue Verbündete im Nahen Osten zu gewinnen, dürfte jedoch enttäuscht werden. Die arabische Welt ist gespalten und misstrauisch gegenüber der Hamas, nur Katar und Iran unterstützen sie offen. Nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober in Gaza änderten arabische Länder zwar ihre Rhetorik gegenüber Israel drastisch. Bereits da war klar, dass die sich in den vergangenen Monaten abzeichnende Normalisierung der Beziehungen zwischen Teilen der arabischen Welt und Israel fürs Erste ausgesetzt wird. Mittelfristig ist sie aber nicht vom Tisch. „In der arabischen Welt gibt es eine große Müdigkeit in der Palästina-Frage“, glaubt Suleymanov. Durch den Schulterschluss mit der Hamas wird Russland also keine neuen Partner im Nahen Osten gewinnen können. Auf dem Friedensgipfel in Kairo am vergangenen Samstag, zu dem zahlreiche Staats- und Regierungschefs der Nahostregion sowie Vertreter der UN und westlicher Staaten anreisten, war Russland nicht vertreten. Und der russische Botschafter in Israel, Anatoli Wiktorow, musste inzwischen zurückrudern: Die Kontakte Russlands zur Hamas bedeuteten nicht, dass Moskau terroristische Aktionen unterstützt, sondern sie würden lediglich „von politischer Notwendigkeit diktiert“.