Wenn er Donald Trump wegen seines Umgangs mit Covid-19 kritisieren will, hat Joe Biden fast schon die Qual der Wahl. Der mutmaßliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten könnte Trump vorhalten, dass er die Warnungen seiner eigenen Berater in den Wind schlug, als sie andeuteten, wie heftig das Virus zuschlagen könnte. Biden könnte den Präsidenten an den Pranger stellen, weil dessen Administration unfähig war, einen Coronatest zu entwickeln. Er könnte die Trump-Regierung dafür an den Pranger stellen, dass sie es versäumte, ausreichende Vorräte an Schutzkleidung zu beschaffen. Oder er könnte Trump die vielen falschen Informationen vorhalten, die er über die Krankheit verbreitet hat.

Fürs Erste hat Biden sich jedoch für eine andere Variante entschieden: Im Augenblick attackiert er Trump wegen dessen Nachgiebigkeit gegenüber Peking. Letzte Woche präsentierte Bidens Wahlkampfteam einen Spot mit furchteinflößenden Bildern chinesischer Soldaten, in dem behauptet wird, Trump habe „vor den Chinesen gekuscht.“ In einem zweiten Spot, finanziert von Bidens mächtigem Unterstützerkomitee „American Bridge 21st Century“, wird der Amtsinhaber als Pekings Schoßhündchen hingestellt. „Jeder wusste, dass China über das Virus gelogen hat“, erklärt eine Stimme aus dem Off vor einer wehenden chinesischen Flagge. „Präsident Trump vertraute China trotzdem weiter.“ Am Freitag erklärte Bidens Berater Antony Blinken gegenüber Journalisten, der Präsident habe „sich mehr als 15-mal lobend über China und Präsident Xi geäußert.“

Das Biden-Lager folgt einer leicht nachvollziehbaren Logik. Trump hat China zum Obersündenbock für sein Versagen erkoren. Unter dem Hashtag #PekingBiden fahren seine Unterstützer eine Kampagne gegen den demokratischen Herausforderer. Daraufhin beschlossen Biden und seine Strategen, mit gleicher Munition zurückzuschießen: Den Vorwurf, der Ex-Vizepräsident würde gegenüber China klein beigeben, beantworteten sie mit der Gegenbehauptung, in Wahrheit sei Trump derjenige, der gegenüber China klein beigebe.

Diese Art des ideologischen Jiu-Jitsu ist für die Demokratengeneration, zu der Biden gehört, eine vertraute Strategie. Als die Republikaner ihnen in den 1990er-Jahren vorwarfen, sie seien während der Nixon- und der Reagan-Ära unternehmerfeindlich, antimilitärisch und verbrecherfreundlich gewesen, drehten sie kurzerhand den Spieß um: 1992 machte Bill Clinton auf einmal mit Steuersenkungsversprechen Wahlkampf, 2000 regte Al Gore an, mehr Geld für das Militär auszugeben als George W. Bush, und 1994 frohlockte Biden, nachdem er Clintons „Federal Crime Bill“ erfolgreich durch den Senat gebracht hatte: „Der liberale Flügel der Demokratischen Partei ist inzwischen dafür, 60 neue Tatbestände mit der Todesstrafe zu belegen und in den Bundesstaatsgefängnissen 125 000 neue Haftplätze zu schaffen. Man kann sich ungefähr vorstellen, was der konservative Flügel der Demokratischen Partei sich wünschen würde.“

In den 1990er-Jahren war es bisweilen politisch klug, die Republikaner auf deren eigenem Feld zu schlagen. So dürfte Clintons makabre Begeisterung für die Todesstrafe —1992 unterbrach er seinen Wahlkampf, um der Hinrichtung des geistig behinderten Mörders Ricky Ray Rector persönlich beizuwohnen — dazu beigetragen haben, ihm Vorwürfe vom Hals zu schaffen, er sei gegenüber Kriminellen zu nachgiebig. Solche Vorwürfe hatten 1988 den Niedergang des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Michael Dukakis befördert.

Die Republikaner, die sich in der Vergangenheit für die wirtschaftliche Einbindung Chinas starkgemacht haben, reden inzwischen einem Kalten Krieg mit China das Wort.

Dass Biden nun offenbar versuchen will, Trump in der Chinapolitik mit einer noch härteren Gangart zu überbieten, wirft drei gravierende Probleme auf. Erstens leistet dies einer unguten Außenpolitik Vorschub. Zweitens könnte es den antichinesischen Rassismus anfachen. Drittens ist es auch auf lange Sicht politisch nicht sinnvoll. Die Republikaner, die sich in der Vergangenheit für die wirtschaftliche Einbindung Chinas starkgemacht haben, reden inzwischen einem Kalten Krieg mit China das Wort. Wenn die Demokraten glauben, dass es für sie in dieser politischen Nachbarschaft irgendetwas zu gewinnen gibt, begehen sie einen schweren Fehler.

Zunächst zu den politischen Implikationen. Bidens neuer Spot unterstellt, China habe Trump deswegen nicht rechtzeitig über den Ausbruch von Covid-19 informiert, weil Trump es gegenüber der chinesischen Führung an klarer Kante habe fehlen lassen. In dem Wahlvideo wird Trump bespöttelt, weil er sich lobend über Xi Jinping geäußert hat, und mit vermeintlich belastenden Bildern, die ihn und Xi Seite an Seite zeigen, in Misskredit gebracht. Demgegenüber gelobt Biden: „Ich würde in China anrufen und unmissverständlich klarmachen: Wir müssen uns in Eurem Land umsehen. Ihr müsst offen und ehrlich sein. Ihr müsst klar Farbe bekennen. Wir müssen wissen, was vor sich geht.“ Soll heißen: Biden würde die Chinesen gehörig an die Kandare nehmen.

Das sind chauvinistische Fantastereien. China ist eine rivalisierende Supermacht mit einem autoritären, bis ins Mark nationalistischen Regime. Biden wird China nicht zwingen können, seinen Forderungen nachzukommen. Dass Peking in der Vergangenheit die USA mit wertvollen Informationen über Virenausbrüche versorgte, war der Tatsache zu verdanken, dass amerikanische Präsidenten mit hohem Geld- und Zeitaufwand Gemeinschaftsaktionen von USA und China auf die Beine stellten und Chinas Führung das Gefühl gaben, als Partner auf Augenhöhe behandelt zu werden. 2009 stand Bidens damaliger Vorgesetzter Barack Obama neben dem chinesischen Staats- und Parteichef Hu Jintao in Peking auf dem Podium — genau über solche Szenen mokiert Biden sich nun in seinem Wahlspot — und erklärte, die Regierungen beider Länder sollten „auf unseren gemeinsamen Interessen aufbauen und gleichberechtigt und in gegenseitigem Respekt aufeinander zugehen.“

Die beiden Staatschefs kündigten an, „in Gesundheitsfragen von weltweiter Tragweite noch intensiver zusammenzuarbeiten – dazu zählen unter anderem Prävention, Überwachung, Meldung und Kontrollmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Influenza-A-Virus H1N1.“ Jennifer Huang Bouey vom Thinktank „RAND Corporation“ verweist darauf, dass durch diese Zusammenarbeit die Entwicklung eines Impfstoffs gegen H1N1 beschleunigt wurde. Wenn Bidens Wahlkampfstrategen jetzt so tun, als könnte ihr Kandidat China zum Gehorsam zwingen, indem er nur einmal zum Hörer greift, belügen sie das Publikum darüber, wie die Kooperation mit China in Gesundheitsfragen tatsächlich funktioniert.

Wenn Bidens Wahlkampfstrategen jetzt so tun, als könnte ihr Kandidat China zum Gehorsam zwingen, indem er nur einmal zum Hörer greift, belügen sie das Publikum darüber, wie die Kooperation mit China in Gesundheitsfragen tatsächlich funktioniert.

Das zweite Problem bei Bidens ideologischen Jiu-jitsu-Versuchen besteht darin, dass diese — wie beim „Federal Crime“-Gesetz von 1994 — schutzlose Bevölkerungsgruppen womöglich in Gefahr bringt. Auch frühere demokratische Präsidentschaftskandidaten hatten sich auf China eingeschossen. Die gegenwärtige Situation ist allerdings mit früheren nicht vergleichbar. Durch das Coronavirus — und Trumps rassistische Rhetorik im Zusammenhang mit der Pandemie — haben die Übergriffe auf chinesischstämmige Amerikaner und andere US-Bürger mit asiatischen Wurzeln in erschreckendem Maß zugenommen. Dabei muss man Biden zugutehalten, dass er Trumps „Fremdenfeindlichkeit und Panikmache“ verurteilt hat. Mit seinen neuen Wahlspots trägt er allerdings, auch wenn er dies nicht vorhatte, womöglich selbst zur Verschärfung bei.

Natürlich kann ein Präsidentschaftskandidat sich die chinesische Regierung vorknöpfen, ohne die chinesischstämmigen Amerikaner zu attackieren. Das setzt jedoch ein gewisses rhetorisches Fingerspitzengefühl voraus, das Bidens Spot abgeht. Dort heißt es nicht, Trump habe vor Xi Jinping oder der chinesischen Regierung oder vor China „gekuscht“, sondern „vor den Chinesen“. Kaiser Kuo, der für die Website SupChina schreibt, äußerte die Befürchtung, der Wahlspot könnte eine politische „Abwärtsspirale“ befördern und dazu beitragen, dass „Amerikaner mit asiatischen Wurzeln noch stärker unter Rassismus zu leiden haben.“

Wenn die chinafeindlichen Wahlspots von Bidens Wahlkampfteam ein Erfolgsgarant für den Kampf um Wählerstimmen wären, könnte man sie als Machiavellist zur Not als unschönes, aber notwendiges Mittel zum Zweck rechtfertigen. Doch wenn die Demokraten sich als noch erbittertere Chinagegner gerieren als die Republikaner, sind sie damit auf lange Sicht schlecht beraten.

Für Republikaner wie Trump, Tom Cotton, Marco Rubio und Josh Hawley ist es ideologisch konsequent, den Antagonismus gegen China anzuheizen. Die Republikaner stehen als Partei für Militärausgaben, nationale Souveränität und weiße Ängste. Seit Jahrzehnten hoffen sie auf einen neuen Ronald Reagan, der sie zum Sieg über ein neues Reich des Bösen führt. Nachdem sie es mit Irak, Iran und Nordkorea probiert haben, erkennen sie in China den bislang überzeugendsten Anwärter für die Rolle des Bösen: eine nichtweiße, nichtchristliche und zumindest dem Namen nach kommunistische Macht, die tatsächlich das Zeug hat, Amerikas Vormachtstellung in der Welt gefährlich zu werden.

Seit Jahrzehnten hoffen die Republikaner auf einen neuen Ronald Reagan, der sie zum Sieg über ein neues Reich des Bösen führt.

Die Demokraten treten von Haus aus dafür ein, Geld für Gesundheitsversorgung und Bildung auszugeben statt für militärische Auseinandersetzungen. Umfragen zufolge stufen die Wähler der Demokraten den Klimawandel inzwischen als zweitwichtigste Priorität ein. Man kann aber schlecht auf der einen Seite den Klimawandel als existenzielle Bedrohung empfinden und auf der anderen Seite für einen kalten Krieg sein, der dazu führt, dass die beiden weltgrößten CO2-Emittenten nicht an einem Strang ziehen. Die Hardliner werden die chinakritischen Posen der Demokraten ohnehin nicht glaubhaft finden. Und die eisernen Trump-Verweigerer bei den Republikanern, die 2020 ihr Kreuzchen nicht bei der Republikanischen Partei machen wollen, werden früher oder später in deren Schoß zurückkehren und sich Cottons, Rubios oder Nikki Haleys salonfähigerem Militarismus anschließen. Und sollten die Demokraten versuchen, den Hurrapatriotismus der Republikaner noch zu überbieten, werden sie ihre engagierten Aktivisten aus der Generation der Millennials vergraulen.

Der Historiker Rick Perlstein warnte bereits 2005: mit dem Versuch, die Republikaner auf deren angestammtem Terrain zu schlagen, würden die Demokraten ihren Identitätskern zersetzen. Clinton hat Freihandelsabkommen abgeschlossen, Finanzmärkte dereguliert, Sozialleistungen gekürzt, Gesetze gegen die gleichgeschlechtliche Ehe unterschrieben und geholfen, Amerikas Gefängnisse zu füllen, und gewann damit zwei Präsidentschaftswahlen. Als seine Amtszeit sich dem Ende neigte, hatten die Demokraten allerdings im Senat weniger Sitze und in weniger Bundesstaaten die Parlamentsmehrheit als je in den 50 Jahren zuvor und stellten so wenige Gouverneure wie seit 30 Jahren nicht mehr. Clinton hatte gesiegt, und die Demokraten fanden sich auf der Verliererstraße wieder.

Wenn er Trump jetzt vorhält, er sei nicht nationalistisch genug, statt ihm einen Mangel an Internationalismus vorzuwerfen, beschleunigt Biden eine geopolitische Konfrontation, die progressive Ziele in Frage stellt, und lässt Zweifel aufkommen, für welche Überzeugungen die Demokratische Partei eigentlich steht. Um sich einen kurzfristigen Vorteil zu sichern, stellt er langfristig geltende Grundsätze hintan. Genau das hatten die Anhänger von Bernie Sanders befürchtet. Nun liefert Biden den Beweis, dass sie damit richtig lagen.

Aus dem Amerikanischen von Andreas Bredenfeld

(c) The Atlantic