Was ist nur los in den Vereinigten Staaten von Amerika? Nur wenige Tage vor der Wahl ist das Rennen um das höchste politische Amt, die Präsidentschaft, völlig offen. Und dies, obwohl der Kandidat der Republikaner und verurteilte Straftäter Donald Trump einen Wahlkampf führt, der völlig losgelöst ist von politischen Sachthemen. Mehr noch, er beleidigt seine Kontrahentin in bisher kaum vorstellbaren Dimensionen. Zuletzt bemühte er sogar die Größe des Geschlechtsteils eines berühmten Golfprofis als Zeichen der männlichen und damit seiner Stärke. Davon abgesehen lügt Trump ungeniert, verliert sich bei seinen Wahlkampfauftritten oder lässt bei diesen einfach Musik vom Band spielen, anstatt substanzielle Diskussionen zu führen.
Kamala Harris, die demokratische Kandidatin, konzentriert sich derweil auf konkrete Zukunftsthemen der USA, insbesondere Wirtschaft und Abtreibungsrechte. Ihren optimistischen Wahlkampf führt sie mit viel Energie und Freude – zumindest vermittelt sie diesen Eindruck. Unterstützt wird sie sowohl von Stars wie Stevie Wonder, Bruce Springsteen und Beyoncé als auch von politischen Größen der Demokraten wie Barack und Michelle Obama. Bei ihren Veranstaltungen sind die Stadien sehr gut gefüllt, ebenso wie ihre Wahlkampfkasse.
Wie kommt es dann, dass Harris nicht weit in Führung liegt und Trump nicht abgeschlagen auf dem zweiten Platz? Wie kann es angehen, dass die beiden großen liberalen Zeitungen Washington Post und Los Angeles Times Harris ihre öffentliche Unterstützung versagen? Nur aus wirtschaftlichem Kalkül der Besitzer? Die Gründe sind mannigfaltig, hier die drei wichtigsten:
Erstens: In diesem Wahlkampf scheint die Wahrheit kaum noch eine Rolle zu spielen. So verteidigt der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance Trumps Behauptung, Migranten würden Hunde und Katzen essen, mit der Argumentation, dass zur Aufdeckung von Missständen die Wahrheit nicht entscheidend sei. Zwar bemühen sich die großen überregionalen TV-Sender weiterhin um faktenbasierte Berichterstattung, doch in den sozialen Medien und regionalen Talkshows brechen alle Dämme. Gefragt sind starke Meinungen – und Lügen oft noch mehr. Die Wahrheit hat an Bedeutung verloren.
Die Wahrheit hat an Bedeutung verloren.
Zweitens: Im Gegensatz zu Harris ist Trump seit Jahrzehnten eine bekannte Größe in den USA. Schon in den Achtzigern sorgte er für Schlagzeilen, als er sich mit dem beliebten demokratischen Bürgermeister Ed Koch anlegte. Die New Yorker Boulevardpresse schätzte den extrovertierten und kämpferischen Unternehmer, der auch nach Niederlagen stets wieder aufstand. Diese Mischung aus Widerstandsfähigkeit und Offenheit kommt in den USA gut an. Seine TV-ShowThe Apprentice, die von 2004 bis 2017 landesweit lief, machte ihn bekannt wie Micky Maus. Wofür Harris hingegen steht, ist vielen Amerikanern deutlich weniger vertraut.
Zum einen liegt dies daran, dass Harris keinen eigenen Vorwahlkampf bestritten hat, sondern als Vizepräsidentin für einen alternden Präsidenten einspringen musste – und vermutlich auch wollte. Ein parteiinterner Wahlkampf schien den Demokraten im Sommer, so kurz vor der Wahl, zu riskant. Zum anderen wirkte Harris in ihrer bisherigen Amtszeit als Vizepräsidentin für viele eher blass. Zudem scheint sie drei politische Rollen durchlaufen zu haben: eine progressive Linie, die sie im Präsidentschaftswahlkampf 2019 vertrat, damit aber klar scheiterte; dann eine zweite Rolle als loyale Unterstützerin Bidens; und nun eine dritte, in der sie versucht, sich von Biden abzusetzen und (mit 60 Jahren) als jüngere Alternative zu Trump (77 Jahre) einen Neuanfang zu verkörpern.
Harris hat es geschafft, Bidens Rückstand auf Trump aufzuholen – eine bemerkenswerte Leistung, vor allem als Frau und als Nicht-Weiße. Ihr Erfolg ist alles andere als selbstverständlich und stößt bei manchen Männern, insbesondere auch bei Schwarzen und Latinos, auf Kritik. Diese Vorbehalte scheinen oft stärker zu wiegen als Trumps rassistische Äußerungen gegenüber genau diesen Bevölkerungsgruppen. Dies dürfte auch dazu beitragen, dass die Umfragewerte nun stagnieren.
Drittens: Wichtige Wählergruppen, die traditionell die Demokraten unterstützt haben, zweifeln zunehmend an ihnen und sind offener dafür, Trump ihre Stimme zu geben. Dazu zählen die Tech-Milliardäre aus Kalifornien – allen voran Elon Musk –, die Trumps Kampagne unverhohlen finanziell stärken. Sie konnten sogar einen der ihren, J.D. Vance, als Vizepräsidentschaftskandidaten platzieren. Ebenso zeigen Schwarze, Latinos und Arbeiter, selbst in Gewerkschaften, verstärkt Sympathien für Trump. Besonders viele Männer aus diesen Gruppen fühlen sich vom „Testosteron-Veteranen“ Trump angesprochen. Trotz der arbeitnehmerfreundlichen und integrativen Politik der Biden-Administration und Bidens persönlicher Unterstützung streikender Gewerkschafter in der Auto-Branche erwarten viele von den Demokraten zunehmend weniger.
Viele Trump-Wähler haben den Eindruck, dass die Demokraten vor allem die Interessen der städtischen Elite vertreten, während sie die arbeitende Mittel- und Unterschicht kaum berücksichtigen bzw. deren Sorgen ignorieren. Dieses Gefühl reicht bis in die Präsidentschaft von Bill Clinton zurück, als die Interessen von Aktionären gegenüber denen der Mitarbeitenden stärker ins Zentrum rückten. Die wachsende Kluft zwischen steigender Produktivität und stagnierenden Löhnen reicht jedoch noch weiter zurück, nämlich bis zur Amtszeit des republikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Progressive Ökonomen führen diese Entwicklung auf die wachsende Macht der Unternehmen und den sinkenden Einfluss der Gewerkschaften zurück.
Trump setzt auf eine Politik, die die Vergangenheit glorifiziert.
Tatsächlich stehen die USA wirtschaftlich exzellent dar. Sie erwirtschaften die Hälfte des gesamten BIP der G7-Staaten, ziehen einen Großteil der weltweiten Direktinvestitionen an und setzen weit stärker auf neue Technologien als die EU. Seit 2020 verzeichnen sie ein Wirtschaftswachstum von rund zehn Prozent – Zahlen, die in Deutschland und anderen EU-Ländern kaum noch vorstellbar sind. Dennoch sind vor allem jüngere Menschen enttäuscht. Sie sehen den „Amerikanischen Traum“ zunehmend in Gefahr.
Besonders betroffen ist die junge Generation der 17- und 18-Jährigen. Laut einem kürzlich erschienenen Artikel in The Atlantic geben nur noch 27 Prozent an, das amerikanische politische System für weltweit führend zu halten – zu Beginn der 1980er Jahre waren es noch knapp 70 Prozent. Drei von vier Angehörigen der Generation Z (geboren zwischen 1995 und 2012) halten tiefgreifende Reformen des politischen Systems für dringend nötig, und zwei Drittel empfinden die USA nicht als eine faire Gesellschaft.
Im Wahlkampf fehlt jedoch Raum für die beiden Parteien und ihre Spitzenkandidaten, grundlegende Antworten auf diese gesellschaftspolitischen Herausforderungen – wie den Vertrauensverlust in die Demokratie und die soziale Ungerechtigkeit – zu bieten. Gleichwohl sind noch nicht einmal Konturen möglicher Lösungsansätze erkennbar. Trump setzt auf eine Politik, die die Vergangenheit glorifiziert, jedoch für das heutige Amerika wenig umsetzbar ist. Harris bemüht sich immerhin und verspricht, die Symptome der sozialen Ungerechtigkeit zu lindern, ohne freilich die Ursachen zu benennen. Gerade bei Wechselwählern hinterlässt dies den Eindruck von Hilflosigkeit.
Für einen Teil von ihnen scheint es völlig irrelevant zu sein, dass das eng mit Trump verbundene Programm der Heritage Foundation für 2025 gefährlich ist, da es die demokratische Gewaltenteilung zugunsten eines Superpräsidenten infrage stellt. Die meisten werden es wahrscheinlich ohnehin nicht lesen, während andere argumentieren werden, dass ein radikaler Wandel nötig sei, um die USA wieder auf Kurs zu bringen.
Trotz des offensichtlichen Patts, das sich wahrscheinlich erst Tage nach der Wahl in einen Sieg für die eine und eine Niederlage für die andere Seite auflösen wird, ist ein klarer Sieg für beide Seiten möglich. Einige tausend Wählerstimmen in den sieben umkämpften Staaten Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin könnten zu einem deutlichen Ergebnis führen, das die Zerrissenheit des Landes in Bezug auf seine Zukunft nicht widerspiegelt.