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Die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine lange Tradition von regierungsfeindlichen, paramilitärischen Gruppen. Ideologisch sind diese überwiegend rechtsextremistisch zu verorten. Aber noch nie war diese Bewegung so unübersichtlich, so heterogen und so breit sichtbar wie heute. Und so gewaltbereit: Im Juni analysierte das Center for Strategic and International Studies (CSIS) einen Datensatz von Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten zwischen Januar 1994 und Mai 2020.  Das CSIS kam zu dem Schluss, dass rechtsradikaler Terrorismus im Vergleich zu anderen Arten politischer Gewalt wie linksradikaler oder islamistisch motivierter wesentlich stärker zugenommen hat. Rechtsextremisten sind für zwei Drittel der 2019 geplanten und tatsächlich ausgeführten Angriffe verantwortlich, von Januar bis Mai 2020 sogar für rund 90 Prozent. Die Gewalt, die von diesen paramilitärischen Gruppen ausgeht, ist keineswegs regional geprägt oder begrenzt. In den letzten sechs Jahren waren insgesamt 42 Bundesstaaten von rechtsextremistischer Gewalt betroffen.

Amerikanische Sicherheitsbehörden stimmen der Analyse des CSIS zu. Im August 2019 nahm das National Counter Terrorism Center (NCTC) fast unbemerkt die so genannte „white supremacist violence“, also rassistisch motivierte Gewalt von Weißen, neu in seinen Arbeitsbereich auf. Im September 2019 nannte das Department of Homeland Security (DHS) die Gefahr durch rechtsextremistische Gewalt genauso gravierend wie die von jihadistischen Gruppen wie ISIS oder Al Qaida. Ebenso äußerte sich im Februar 2020 das FBI.

Trotz der Heterogenität der im rechtsextremistischen paramilitärischen Milieu aktiven Personen und Gruppen haben diese im Kern drei Dinge gemeinsam: das Ideologieelement des „Great Replacement“ (basierend auf der Theorie eines von Regierungen angestrebten „Großen Austausch“ der weißen Mehrheitsbevölkerung durch Einwanderer), die Strategie des Accelerationism und eine sehr aktive Präsenz im Internet. Accelerationists (zu Deutsch etwa „Beschleuniger“) glauben, die moderne Gesellschaft stehe ohnehin am Abgrund und ihr bevorstehender Kollaps müsse aktiv beschleunigt werden, damit eine faschistisch geprägte, ethnonationalistische Gesellschaft an ihre Stelle träte. 

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine lange Tradition von regierungsfeindlichen, paramilitärischen Gruppen. Ideologisch sind diese überwiegend rechtsextremistisch zu verorten. Noch nie war diese Bewegung so unübersichtlich, so heterogen und so breit sichtbar wie heute. Und so gewaltbereit.

Die aktuelle Pandemie und die Proteste rund um den Mord von George Floyd haben das Wachstum dieser Bewegung vorangetrieben. In den letzten Monaten haben Accelerationists gezielt Falschinformationen und Verschwörungstheorien verbreitet, die die Pandemie mit Juden und Einwanderern in Verbindung bringen, von denen sie behaupten, dass sie für COVID-19 verantwortlich seien. Im Mai warnte das New Yorker Büro des FBI, dass militante Rechtsextremisten mit Covid-19 infizierte Anhänger ermutigten, Polizisten und Juden absichtlich anzustecken.

Colin P. Clarke, Senior Fellow des Soufan Center, erklärte kürzlich: „Accelerationisten glauben, dass soziale Unruhen, die sie zu befeuern versuchen, nur den Auftakt für den Weg zu einer neuen Gesellschaft bilden, die auf der Herrschaft von Weißen über andere Menschengruppen fußen soll. Sie fühlen sich jetzt bestärkt durch die breite Berichterstattung über die Pandemie und die Todeszahlen.

Ein weiterer zentraler Akteur der paramilitärischen Bewegung in den USA sind die Oath Keepers (zu Deutsch „Die dem Eid treu bleiben“). Sie waren einst eine lebendige Organisation mit Zehntausenden von aktiven Unterstützern, haben heute aber nur noch eine kleinere Basis. Ihre Aktivitäten reichen von bewaffneter Unterstützung für kleine Unternehmen, die gegen die COVID-19-Verordnungen verstoßen, bis hin zur Organisation bewaffneter Nachbarschaftswachen zum Schutz vor „linker Gewalt“. In der Vergangenheit nahmen die Oath Keepers an bewaffneten Auseinandersetzungen gegen Bundesbeamte in Nevada, Oregon und Montana teil. Heute propagiert die Gruppe das Image der Antifa als inländische Terrorgruppe äußerst aktiv, vor allem auf der immer noch sehr aktiven Facebook-Präsenz mit ca. 551 000 Followern.

Zentral für die Gruppe ist ihre Social-Media-Präsenz; sie vernetzen sich insbesondere auf Facebook. Da die Untergruppen unabhängig voneinander sind, gibt es keine zentrale Führung oder Struktur.

Die Gruppe der Three Percenters glaubt hingegen, dass nur drei Prozent der Bevölkerung im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten gekämpft und diesen gewonnen haben. Heute bräuchte es entsprechend nur drei Prozent der Amerikaner, die sich zusammenzuschließen, um die derzeitige US-Regierung zu stürzen. Um Mitglied zu werden, müssen sie nur einen entsprechenden Patch oder ein III% -Tattoo tragen. Zentral für die Gruppe ist ihre Social-Media-Präsenz; sie vernetzen sich insbesondere auf Facebook. Da die Untergruppen unabhängig voneinander sind, gibt es keine zentrale Führung oder Struktur.

Die Three Percenters nahmen an mehreren Auseinandersetzungen gegen die Regierung teil, wie z.B. 2017 bei den gewalttätigen „Unite the Right“-Demos in Charlottesville, Virginia. Kürzlich fielen Three Percenters durch den bewaffneten Schutz von Konföderierten-Denkmälern auf. Es gibt erhebliche Überschneidungen mit den Oath Keepers und weiteren Gruppen wie der Milizbewegung und den Anhängern von Boogaloo.

Die Milizbewegung, Militias genannt, besteht seit Jahrzehnten aus im ganzen Land verstreuten, privaten paramilitärischen Gruppen, die ständig den bewaffneten Kampf üben und innerhalb der jeweiligen Miliz recht straff organisiert sind. Obwohl viele Staaten ihre Aktivitäten verbieten, agieren sie weitgehend ungestraft. Immer wieder waren Militias in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Bundespolizei verwickelt. Sie tun sich u.a. durch das Festhalten und Zurückweisen von Einwanderern an der Grenze zu Mexiko hervor.

In einer Zeit des erbitterten Streits um Waffenkontrolle, ziviler Unruhen, der Belastungen einer Pandemie, Verschwörungstheorien, ununterbrochener Propaganda on- und offline sowie eines unerbittlichen Wahlkampfs erleben paramilitärische, extremistische Gruppen in neuen und alten Formationen in den USA einen erheblichen Aufschwung.

Die Boogaloo, eine regierungsfeindliche, extremistischen Bewegung, träumen wiederum seit Jahrzehnten von einer zweiten amerikanischen Revolution, in der sich bewaffnete Patrioten versammeln, aufstehen und die tyrannische Regierung stürzen. Die meisten nannten es die zweite amerikanische Revolution, andere "Revolution 2.0", aber die Nutzer der Waffenforen auf 4Chan und auf reddit benannten es in „Civil War 2: Electric Boogaloo“ um.

Vor einigen Jahren gab es in den sozialen Medien immer wieder Witze darüber, eine Fortsetzung des Films „Breakin '2: Electric Boogaloo“ aus den 1980ern zu drehen. Das in dem Film gar nicht vorkommende Thema eines zweiten Bürgerkriegs wurde mit teils absurden sogenannten Memes verbreitet, die auf andere Social-Media-Plattformen übertragen wurden. Als das Boogaloo-Thema auf Facebook und Instagram aufkam, wurde es von anderen Extremisten aufgegriffen. Anfang 2020 hatte sich Boogaloo in „Big Luau“ verwandelt, und die Anhänger trugen Hawaiihemden unter ihren schusssicheren Westen – eine weitere Insider-Referenz aus den sozialen Medien, die sich heute gewaltsam auf den Straßen zeigt. Heute nennen sich die bewaffneten Gruppen u.a. Boogaloo Bois, Boog Bois und Boojahideen.

Als bei einer Waffen-Rally am 20. Januar 2020 in Richmond, Virginia, mehrere Militante in Hawaiihemden und mit Boogaloo-Aufnähern gesehen wurden, verbreitete sich dies schnell auf den Social Media-Seiten der paramilitärischen Gruppen. Aktivisten begannen, Aussehen, Patches und Jargon dieser Militanten zu kopieren.

Da die Mehrheit der Boogaloo an anderer Stelle radikalisiert wurde - entweder in regierungsfeindlichen militanten Gruppen wie den Three Percenters oder den Milizen - kann Boogaloo derzeit nur eingeschränkt als unabhängige Bewegung betrachtet werden, jedoch mit erheblichem Potential für weitere organisierte Gewalt.

Katalysatoren sind heute nicht nur bewaffnete Auseinandersetzungen mit Sicherheitsbehörden oder dem politischen Gegner, sondern auch virtuelle Gefechte in den sozialen Medien mit einem echten oder imaginierten Feind.

In einer Zeit des erbitterten Streits um Waffenkontrolle, ziviler Unruhen, der Belastungen einer Pandemie, Verschwörungstheorien, ununterbrochener Propaganda on- und offline sowie eines unerbittlichen Wahlkampfs erleben paramilitärische, extremistische Gruppen in neuen und alten Formationen in den USA einen erheblichen Aufschwung.

In den 1990er Jahren waren blutige Konflikte wie jene in Ruby Ridge und Waco die Katalysatoren, die Extremisten wie Timothy McVeigh zu einem Terroranschlag wie in Oklahoma City 1995 trieben. Solche Katalysatoren sind heute nicht nur bewaffnete Auseinandersetzungen mit Sicherheitsbehörden oder dem politischen Gegner, sondern auch virtuelle Gefechte in den sozialen Medien mit einem echten oder imaginierten Feind. Extremisten sind sich bewusst, dass ihre Pläne für eine Revolution oder einen „Bürgerkrieg 2“ diesen Katalysator erfordern. Die meisten warten auf dieses große Ereignis, aber einige sind dabei alles tun, um dieses Ereignis zu erzwingen.

Wie einige Kommentatoren betonen, bestärkt die Rhetorik von Präsident Trump diese paramilitärischen Milieus. Was eigentlich ein Paradox erscheint: viele regierungsfeindliche, gewaltbereite  Extremisten sehen Trump als Anti-Establishment-Figur, die genau wie sie gegen den „großen Austausch“ (Stichwort: Mauer zu Mexiko), für einen „weißen Nationalismus“ („America First“) und für das nahezu unbeschränkte Recht Waffen zu tragen eintritt.