Der Absturz der Demokratischen Partei in den USA ist auf ihren Fokus auf die überdurchschnittlich verdienenden, akademisch gebildeten Bevölkerungsschichten zurückzuführen. In den vergangenen Jahren stand die Partei für eine Sprache und für Ideen, die der Mehrheit der US-Bürger als „zu links“ erschienen, und trieb damit eine spaltende Identitätspolitik voran. Der Niedergang der Partei offenbart einen tieferliegenden, irreparablen Systemfehler: das Scheitern des American Dream im 21. Jahrhundert. Wenn die Demokraten ein Comeback feiern wollen, muss ihre Strategie auf einem größeren, neuen Traum aufbauen: dem von einem Systemwandel.
Mit ihrer ideologisch geprägten Ausrichtung hat die Demokratische Partei viele Wählerinnen und Wähler entfremdet – insbesondere jene, die nur teilweise mit ihr übereinstimmen. An den Wahlurnen zeigte sich dies in einem massiven Verlust von Stimmen aus der Arbeiterklasse sowie von jungen Menschen und insbesondere jungen Männern. Die Republikaner haben diese Gruppen hingegen längst als Zielgruppe im Visier. In einem früheren Versuch, den Niedergang der Partei zu verstehen, veröffentlichte Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien, einen wirren Podcast, in dem er die großen Namen der MAGA-Bewegung (Make America Great Again) interviewte. Sein erster Gast, der konservative Aktivist Charlie Kirk, erklärte damals das republikanische Ziel, die Jugend in zehn Jahren um zehn Prozentpunkte nach rechts zu bewegen. Doch dieser Plan ging schneller auf als erwartet: Während 18- bis 24-Jährige im Jahr 2020 noch mit einem Vorsprung von 29 Prozentpunkten für Joe Biden stimmten, lag Kamala Harris 2024 nur noch mit zehn Punkten vorn.
Das ist kaum überraschend. Seit der Pandemie hat die Republikanische Partei neue Wege beschritten und dominiert heute die politische Podcast-Landschaft. Ob über Joe Rogan, Tucker Carlson oder Ben Shapiro – in einem politisch zersplitterten Medienumfeld und in der Post-Corona-Ära haben Konservative sich Zugang zu einem deutlich breiteren Publikum verschafft. Die Demokraten hatten sich auf ihre Stärke verlassen, Basisbewegungen zu organisieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Doch ist es ihnen nicht gelungen, eine klare Vision des Wandels zu entwickeln. Barack Obama verkörperte für viele Amerikaner noch eine solche Aussicht auf Veränderung: eine Führungspersönlichkeit mit einer Vision und einer sympathisch-nahbaren Vorgeschichte. Dieser Schwung setzte sich noch mit Senator Bernie Sanders fort, der für einen populistischen Anti-Establishment-Wandel steht – in dieser Hinsicht vergleichbar mit der MAGA-Bewegung. Steve Bannon selbst bezeichnete Sanders und Senatorin Elizabeth Warren einst als die einzige Bedrohung für das rechtspopulistische Projekt von MAGA.
Heute scheint Bannon damit noch immer recht zu haben: Eine der wenigen demokratischen Kandidatinnen, die bei den Wahlen 2024 besser abschnitt als Harris, war Alexandria Ocasio-Cortez (AOC). Sie gewann den 14. Bezirk von New York mit 69 Prozent, während Donald Trump dort gleichzeitig deutlich mehr Zuspruch als Präsident erhielt: Trumps Unterstützung im Bezirk stieg auf 33 Prozent, während Harris’ nur noch 65 Prozent erreichte – 2020 hatte Biden dort noch mit 77 Prozent gewonnen. AOC und Trump mögen zwar politisch weit auseinanderliegen, doch sie eint eine populäre Gemeinsamkeit: Sie fordern einen radikaleren Ansatz für Veränderungen.
Diese Beobachtung wirft zentrale Fragen auf: Sollten die Demokraten ihre Versuche einstellen, die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen lediglich zu reformieren? Oder sollten sie sich trauen, neue Strukturen zu entwerfen und einen neuen American Dream zu formulieren?
Das Land präsentiert sich weiterhin als Ort, an dem der Aufstieg „vom Tellerwäscher zum Millionär“ möglich ist.
Die erklärten MAGA-Ziele – die Wiederbelebung der amerikanischen Industrie und die Aufwertung der arbeitenden Bevölkerung – greifen das fundamentale Versprechen des amerikanischen Traums auf: Jeder kann durch harte Arbeit dauerhaften Wohlstand erreichen – in Form eines höheren ökonomischen Status und besserer Bildung. Für viele, die aus einem Land mit deutlich schlechteren Bedingungen in die USA geflohen sind, gilt dieses Versprechen durchaus noch. Das Land präsentiert sich weiterhin als Ort, an dem der Aufstieg „vom Tellerwäscher zum Millionär“ möglich ist. Besonders anziehend wirkt diese Erzählung auf jene, die bereits über gewisse Privilegien und Bildungsvoraussetzungen verfügen – und große Träume mitbringen: In den USA können sie die Weltraumforschung revolutionieren, die einflussreichsten Tech-Unternehmen der Welt gründen und durch außergewöhnliche Leistungen zu Ruhm und Reichtum gelangen, so das Versprechen des American Dream.
Doch die meisten Amerikaner träumen diese Träume heute nicht mehr. Sie sind mit einer anderen Realität konfrontiert: einem Land, das sein zentrales Versprechen nicht mehr einlösen kann – dass es der Mittelschicht einmal besser gehen werde als der Generation ihrer Eltern. Trotz des Wohlstands und der Macht, die die Vereinigten Staaten auszeichnen, gelingt es ihnen nicht, der eigenen Bevölkerung das Nötigste zu garantieren: ein erschwingliches Haus, eine bezahlbare Ausbildung oder ein Gesundheitssystem, das im Unglücksfall nicht zum finanziellen Ruin führt. Genau dieser frustrierte, desillusionierte und immer größer werdende Teil der Gesellschaft macht das eigentliche Problem deutlich: Der amerikanische Traum ist in seinem vollen Umfang nicht mehr realisierbar. Und die verbleibenden Bruchstücke reichen für die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung nicht aus.
Die Globalisierung hat Verlierer geschaffen, vor allem in der Arbeiterklasse im ländlichen Amerika. Viele Menschen dort fühlen sich von den politischen Institutionen und wirtschaftlichen Strukturen im Stich gelassen. Viele haben hart gearbeitet, um ihren Kindern ein College-Studium zu ermöglichen. Doch diese besser gebildeten Kinder sehen nun, wie sie zunehmend durch künstliche Intelligenz ersetzt werden: Der Kreislauf der sozialen Enttäuschung setzt sich fort – ohne Aussicht auf Besserung. Die MAGA-Bewegung fängt diesen Frust auf. Sie verspricht die Rückkehr der Industrie und ein „Amerika für Amerikaner“, was in gewisser Weise an die ursprüngliche Idee des American Dream anknüpft. Viele jüngere MAGA-Anhänger, aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, eint ein gemeinsames Ziel: Sie glauben, einen Rebellen gewählt zu haben, der das System und die Institutionen umstürzen werde, die sie bisher klein gehalten haben.
Wenn sich die Strukturen nicht ändern, werden die Bürgerinnen und Bürger die Dinge zunehmend selbst in die Hand nehmen, um tiefsitzende Missstände zu beseitigen. Das kann auf zwei Wegen geschehen: durch den Anschluss an die einzige wirklich aktive Anti-System-Bewegung im Land – MAGA – oder durch individuelle Akte der „Selbstjustiz“. Ein Beispiel für Letztere ist der Mord an Brian Thompson, dem CEO der Versicherung UnitedHealth, am 4. Dezember 2024. Der Attentäter, Luigi Mangione, wurde von einigen als Märtyrer gefeiert oder erfuhr zumindest eine „gewisse Sympathie“ von rund 27 Prozent der Befragten. Der Wandel, nach dem sich dieses Land sehnt, geht offensichtlich über den politischen Raum hinaus: Er betrifft auch grundlegende Institutionen wie das Gesundheitswesen, Unternehmen und Banken.
Es braucht eine mutige Zukunftserzählung – eine, die beim amerikanischen Volk Anklang findet und auch den Willen zur Umsetzung mitbringt.
Die USA streben stets nach Superlativen – größer, besser, schneller. Und das Land ist darauf ausgerichtet, sie auch zu erreichen. Innovation und Wandel werden hier seit jeher mit einer gewissen Radikalität betrieben. Joe Biden und Kamala Harris repräsentierten als Team einen letzten Versuch, ein System zu retten, das auf einem überholten amerikanischen Traum beruht – einem Traum, von dem 41 Prozent der erwachsenen Amerikaner behaupten, er sei nicht mehr erreichbar. Anstatt lediglich Reformen anzustreben, die von einer Regierung zur nächsten wieder rückgängig gemacht werden können, muss die Demokratische Partei den Mut aufbringen, einen neuen Traum zu entwerfen. Gerade jetzt, da die Partei führungslos und visionsarm wirkt, sind es die progressiven Kräfte, die auf einen systemischen Wandel drängen müssen. Was es braucht, ist eine mutige Zukunftserzählung – eine, die beim amerikanischen Volk Anklang findet und auch den Willen zur Umsetzung mitbringt.
Es braucht nun eine progressive Anti-Establishment-Alternative zu MAGA. Eine Alternative, die wohl mit einem linkspopulistischen Touch geführt werden müsste, und die die breite Öffentlichkeit durch eine strategische, eigenständige Medienkommunikation erreichen muss. Sie sollte Politik jenseits von Identitäten und Identitätspolitik machen und eine echte Meinungsvielfalt zulassen, von der radikalen Linken bis zur Mitte. Und vor allem: Sie müsste ihre Reichweite über das akademisch-urbane Milieu hinaus erweitern – zu jenen, die bislang kaum gehört wurden. Zu den Vergessenen, den Abgehängten, den Übersehenen. Jetzt ist der Moment für wahrhaft große Träume.
Aus dem Englischen von Tim Steins