Es ist Anfang 2020. Die US-Wirtschaft brummt, die Aktienmärkte verzeichnen fast täglich neue Höchststände und US-Präsident Donald Trump setzt darauf, die gute wirtschaftspolitische Lage zum zentralen Eckpfeiler seiner Wiederwahlkampagne im Herbst zu machen. Aus seiner Sicht hat er auch allen Grund für Optimismus: Der seit zehn Jahren andauernde Aufschwung war der historisch längste und setzte sich unter seiner Präsidentschaft fort. Die Wachstumsraten lagen im Schnitt bei mehr als zwei Prozent. Neue Arbeitsplätze entstanden – seit Anfang 2010 waren es mehr als 18 Millionen – und die Arbeitslosenrate sank auf Tiefstwerte, die es in fünf Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte.

In nur zehn Wochen hat sich das Blatt gewendet. Statt Wachstum und historisch niedriger Arbeitslosigkeit steht das Land vor der schwersten Rezession seit der Großen Depression. Die Wirtschaft brach im ersten Quartal 2020 um fünf Prozent ein, mit gravierenden Folgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Anfang Juni sind offiziell 21 Millionen Amerikaner ohne Job, 16 Millionen verloren bisher ihre Krankenversicherung. Doch warum waren die USA so schlecht auf einen externen Wirtschaftsschock wie durch die Corona-Pandemie vorbereitet?

Wer genauer hinschaut, konnte sehen, dass es zwar der US-Wirtschaft vor der Krise gut ging, nicht aber der Gesellschaft und den arbeitenden US-Amerikanern. Andrew Yang, Unternehmer und früherer Demokratischer Präsidentschaftskandidat, der mit seinem Vorschlag für ein universelles Grundeinkommen bekannt geworden war, sagt, dass die USA verletzlich gewesen seien. Die Ursachen dafür sieht er in strukturellen Problemen: „Bedauerlicherweise hatten die USA eine Reihe von Vorerkrankungen: eine massive finanzielle Unsicherheit, eine dysfunktionale Regierung, institutionelles Misstrauen, eine polarisierte Medienlandschaft und ein unzureichendes Gesundheitssystem.“ Zwei Zahlen machen dies besonders deutlich. Laut einer Studie der US-Zentralbank aus dem Jahr 2018 konnten vier von zehn Amerikanern keine 400 Dollar in bar aufbringen, um eine unerwartete Ausgabe zu begleichen. Und bereits vor Corona standen mehr als 27 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung da.

Eine weitere Vorerkrankung, unter der das Land vor der Pandemie litt, war die gesellschaftliche Spaltung anhand der Hautfarbe. So lag die Arbeitslosenrate für Afro-Amerikaner vor Corona fast doppelt so hoch wie die der Weißen. Auch die Einkommen und Armutsraten variierten stark zwischen den Bevölkerungsgruppen: Afro-Amerikaner hatten ein reales Medianeinkommen, das bei etwas mehr als der Hälfte dessen von Weißen lag, und ihre Armutsrate war mit 20 Prozent doppelt so hoch wie die der weißen Amerikaner.

Zwar macht das Virus bei der Infektion keinen Unterschied zwischen den Menschen, aber es offenbart und verschärft nun diese Spaltung. Die Ursache dafür ist so traurig wie einfach auszumachen: Rassismus. Die Demokratische Senatorin Elizabeth Warren drückte das so aus: „Jahrzehnte des strukturellen Rassismus haben so viele schwarze und braune Familien vom Zugang zu guter Gesundheitsversorgung, zu bezahlbarem Wohnraum und finanzieller Sicherheit ferngehalten, und die Coronakrise hat diese Ungleichheiten massiv verstärkt“.

So drastisch es klingen mag – viele Arbeitnehmer stehen vor der Wahl, ihren Beruf unter Einsatz ihrer Gesundheit oder gar ihres Lebens auszuüben oder auf die Mittel für die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens verzichten zu müssen.

So drastisch es klingen mag – viele Arbeitnehmer stehen vor der Wahl, ihren Beruf unter Einsatz ihrer Gesundheit oder gar ihres Lebens auszuüben oder auf die Mittel für die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens verzichten zu müssen. Das gilt vor allem für nicht-weiße Beschäftigte, die einen höheren Anteil der „essentiellen“ Arbeitnehmer ausmachen. Denn es gibt zwar auch in den USA Sozialleistungen, die Beschäftigte im Notfall absichern sollen, aber diese leiden selbst unter Vorerkrankungen: Sie sind landesweit nicht einheitlich geregelt, und die Infrastruktur zu ihrer Bereitstellung ist aus politischen Gründen in vielen Bundesstaaten vernachlässigt worden. Das betrifft vor allem die von Republikanern regierten Südstaaten.

Wie engmaschig und effektiv das soziale Netz ist, hängt in den USA zu einem wesentlichen Teil davon ab, in welchem Bundesstaat jemand wohnt. Die Programme der sozialen Sicherung werden fast ausschließlich von den Einzelstaaten verwaltet und teilweise auch finanziert. Das macht ihre Bereitstellung zu einem Roulette-Spiel. So hat man zum Beispiel bei Jobverlust in den USA durchschnittlich 26 Wochen Anspruch auf Arbeitslosengeld, das im Schnitt bei etwa 370 Dollar pro Woche liegt. In einzelnen Bundesstaaten wie North Carolina und Florida liegt die maximale Bezugsdauer aber nur bei zwölf Wochen.

Zwar werden im Rahmen der massiven staatlichen Hilfspakete im Umfang von beinahe drei Billionen US-Dollar auch zeitlich und finanziell großzügigere Leistungen für jeden anerkannten Arbeitslosen gewährt – zusätzliche 600 Dollar pro Woche bis Ende Juli 2020 – aber die Infrastruktur zu ihrer Bereitstellung ist in vielen Bundesstaaten so marode, dass die Hilfen nicht schnell genug da ankommen, wo sie gebraucht werden.

Ein eklatantes Beispiel ist der Bundestaat Florida: Zwischen Mitte März und Mitte April hatten sich 1,5 Millionen Beschäftigte arbeitslos gemeldet. Mehr als vier Wochen später hatten erst drei Prozent der Antragsteller Arbeitslosengeld erhalten. Zwar hat sich seither die Auszahlungsrate wesentlich verbessert, aber die Infrastruktur war so alt und unzuverlässig, dass die zuständige Behörde angesichts der Masse der Antragsteller auf Papieranträge zurückgreifen musste. Das Problem ist dabei hausgemacht. Gerade Republikanische Senatoren und Gourverneure, wie Ron DeSantis in Florida, vernachlässigen systematisch die Infrastruktur für Sozialleistungen – aus rein politischen Motiven.

Gerade Republikanische Senatoren vernachlässigen systematisch die Infrastruktur für Sozialleistungen – aus rein politischen Motiven.

Die Vorerkrankungen haben viel gesellschaftlichen Sprengstoff verursacht, der sich jetzt in den schwersten Unruhen seit Jahren entlädt. Dazu gehörten neben der Corona-Pandemie und ihren Ausgangsbeschränkungen auch die sich verschärfenden sozialen Spannungen, gepaart mit Polizeigewalt, Rassismus und einem Präsidenten, der unfähig und unwillig ist, das Land zu einen. „Ein Aufruhr (ist) die Sprache der Ungehörten“, wie der Bürgerrechtler Martin Luther King 1967 sagte. Der Satz hat heute traurigerweise nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren.

Das Problem des Rassismus wird noch einer langen Zeit der Heilung, Reflektion und Anstrengungen der gesamten US-Gesellschaft bedürfen. Aber viele der anderen Probleme wären vermeidbar gewesen, wenn die richtigen Lehren aus der letzten Krise gezogen und einige der Vorerkrankungen beseitigt worden wären. Eine Lektion, die viele Republikaner, aber auch einige Demokraten aus der letzten Wirtschaftskrise hätten lernen können, ist, dass stabile soziale Sicherungssysteme keinen Sozialismus bedeuten. Sie sind genau das, was das Wort eigentlich ausdrückt: eine Absicherung, die weitgehend automatisiert und geräuschlos abläuft und sich erst dann bemerkbar macht, wenn man sie wirklich braucht. Hier waren die USA doppelt unvorbereitet – die bestehenden Sozialprogramme waren minimal ausgestattet und es fehlte an Personal, Erfahrung und Infrastruktur, um sie in einer Krise hochzufahren.

Weitere staatliche Hilfen aber sind angesichts der Republikanischen Mehrheit im Senat unwahrscheinlich. Denn die Republikaner und Präsident Trump haben vor allem die Interessen der Unternehmen und der wohlhabenden Geldgeber im Auge, die ihnen die Wiederwahl im November sichern sollen. Beide Gruppen wurden mit Milliarden an Steuergeldern bedacht: Große Unternehmen erhielten im Rahmen des CARES Act mehr als 500 Milliarden an Krediten. Dazu kamen Steuervergünstigungen von 135 Milliarden, die ihnen und dem obersten einen Prozent der Einkommensbezieher zugute kommen, ganz egal, wie ihre tatsächliche wirtschaftliche Lage ist.

Der voraussichtliche Demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden, der als Pragmatiker angetreten war, vollzieht angesichts der riesigen Herausforderungen die Wende zu einer Agenda, die die Rolle des Staates erheblich erweitern würde. „Wir brauchen einige revolutionäre institutionelle Veränderungen", sagte er kürzlich. Das erinnert an Bernie Sanders, doch Biden sieht sich eher in einer anderen Tradition: der von Franklin D. Roosevelt, dessen New Deal-Programme die USA aus der Depression der 1930er Jahre führten. Vielleicht könnte eine Biden-Präsidentschaft transformativer sein, als manche das bisher für denkbar hielten.