Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch oder Russisch.
Bei der Entscheidung für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten lassen sich die Demokraten im Kongress von mehreren Dingen leiten: von 200 Wörtern in der Verfassung, drei bedeutsamen Präzedenzfällen in der Geschichte, der Inbrunst der Impeachment-Befürworter, den Ängsten der Abgeordneten aus den Bundesstaaten, die bei Wahlen immer am meisten umkämpft sind – und von Daten aus allen Meinungsumfragen, die sich eine politische Partei heutzutage kaufen kann.
Nichts davon sagt ihnen leider, was sie tun sollen, wenn der betreffende Präsident im Grunde will, dass sie ihn anklagen.
Dass Trump es tatsächlich auf ein Impeachment anlegt, ist ein Argument, das Ben Domenech, Herausgeber des konservativen Online-Magazins The Federalist, schon seit längerer Zeit vertritt – der Präsident bettele zwar nicht darum, sei aber doch auf den Kampf erpicht.
Trump ist froh, seine offenkundigen Amtsmissbräuche gegen die weiche Korruption seiner Gegner auszuspielen.
Das zirkushafte Spektakel der Anhörungen im Kongress, die Szenen mit Joe Biden, der über Korruption statt über das Gesundheitswesen oder die Wirtschaft spricht, und die von verärgerten Abgeordneten und Wahlkreisen geleistete Überzeugungsarbeit, um zögerliche Demokraten im Repräsentantenhaus dazu zu zwingen, sich für ein Impeachment auszusprechen – das ist Domenechs Ansicht nach genau das, was Trump will.
Ich selbst dagegen denke, dass wollen wahrscheinlich übertrieben ist, denn ein Wille impliziert ein strategisches Ziel, eine dauerhafte Absicht und einen stabilen Geisteszustand. Nichts davon kann jedoch bei einer Analyse des US-Präsidenten vorausgesetzt werden. Aber in gewisser Hinsicht stimme ich Domenech zu: Ein Präsident, der unbeschadet aus einer Untersuchung hervorgeht, die geheimen Absprachen mit einer ausländischen Regierung während seines Wahlkampfs nachging, und gleich am Tag nach der Aussage von Sonderermittler Robert Mueller vor dem Kongress telefonisch mit einer anderen ausländischen Regierung darüber plaudert, ob sie seinen nächsten Wahlkampf unterstützen würde, scheint nicht sonderlich beunruhigt, des Amtes enthoben zu werden, oder? Wirkt er so, als gäbe er sich fürchterlich Mühe, Anklagen zu vermeiden, einem Verfahren im Senat und dem ganzen Prozedere zu entgehen? Mir scheint das nicht der Fall.
Und warum ist Trump so unbekümmert? Vielleicht denkt er nur – wie es auch Impeachment-Befürworter immer wieder sagen – dass die Demokraten gar nicht den Mut hätten, die Verfassung zu verteidigen, und zu schwach seien, um gegen seine Gesetzwidrigkeiten vorzugehen. Es wäre aber auch möglich (und ja, jetzt gehe ich doch von vernünftigem Denken bei ihm aus, obwohl ich gerade sagte, dass damit bei Trump nicht zu rechnen sei, sorry), dass er vier Vorteile in einem Impeachment-Verfahren sieht – vier Geschenke, die eine Anklage und ein Amtsenthebungsverfahren für seine Präsidentschaft und vielleicht auch für die Zeit nach seiner Präsidentschaft mit sich bringen könnten.
Erstens: Wenn die Demokraten ihn anklagen, tun sie etwas Unbeliebtes und nichts Populäres. Vielleicht wird die Popularität eines Amtsenthebungsverfahrens in Meinungsumfragen zunehmen, wenn mehr über die Ukraine-Affäre bekannt wird. Vielleicht werden öffentliche Anhörungen Dinge zutage fördern, die nicht nur die große Anti-Trump-, sondern auch die Anti-Impeachment-Wählerschaft davon überzeugt, dass seine beschleunigte Entfernung aus dem Amt wünschenswert und notwendig ist. Aber in der öffentlichen Meinung herrscht derzeit der Eindruck vor, dass Trump mehr Interesse an einem Impeachment-Verfahren hat als Nancy Pelosi: Das politische Programm der Demokraten ist beliebter als das der Republikaner (was auch immer deren Programm sein mag), die möglichen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten sind beliebter als Trump, weshalb alles, was die Demokraten in der Öffentlichkeit unbeliebter machen könnte, in Trumps Augen besser ist als der Status quo.
Zweitens: Trump ist froh, seine offenkundigen Amtsmissbräuche gegen die weiche Korruption seiner Gegner auszuspielen. Das ist ein Aspekt des Trumpismus, der die Kritiker des Präsidenten besonders erbost: die Art und Weise, wie er seine Gegner angreift, Gestalten aus dem Korruptionssumpf zu sein, während er sich selbst die wesentlich größere Blöße gibt. Ganz gleich, ob es um die Einflussnahme der Clinton-Stiftung geht oder um die jetzt von der Biden-Familie geleistete Variation desselben Themas: Trump verkauft sich selbst immer als Kandidat mit einer ehrlicheren Form der Gaunerei. Er stellt seinen offenen Zynismus als wünschenswert dar im Verglich zur gut versteckten Selbstbereicherung nach dem Motto: „Hey, es ist doch ganz normal für den Sohn eines Vizepräsidenten, von den Ukrainern oder Chinesen Hunderttausende Dollar zu kassieren, solange nur jedes Offenlegungsformular ausgefüllt wird und sein Vater nicht mit ihm über das Geschäft redet.“
Das Zirkusspektakel ist der Teil der Politik, den Trump am meisten genießt.
Diese Zwielichtigkeit der Elite ist in der Tat nicht gut, aber was Trump bietet, ist keineswegs besser: Was der Präsident offensichtlich getan hat, als er sich an die ukrainische Regierung wandte, ist viel schlimmer als Hunter Bidens Geschäftsvereinbarungen im Ausland. Aber es sollte niemanden überraschen, dass einige Wähler in unserem Zeitalter des Misstrauens, der Spaltung und der Verzweiflung die ehrliche Gaunerei bevorzugen. Dazu gehören viele aus Trumps Unterstützerbasis, aber auch einige aus den Reihen der in Mitleidenschaft gezogenen Mittelschicht.
Tatsächlich gab es in der Geschichte einige Politiker, die mit Korruption davonkamen, weil sie als eine rabiate, effektive Alternative zu einer selbstgefälligen, heuchlerischen Elite erachtet wurden. Trumps entscheidende Schwäche besteht allerdings darin, dass er vielen seiner Wähler kaum etwas geliefert hat. Das macht ihn womöglich besonders erpicht, sich erneut darüber zu streiten, wer unmoralischer ist: er oder seine Gegner. Er wird diesen Streit vielleicht nicht gewinnen, aber zumindest spielt er dabei eine Rolle, die ihm gut liegt.
Drittens: Der Kampf um das Impeachment würde Trump eine letzte Chance geben, seinen Einfluss auf die Seelen und den Ruf seiner möglichen republikanischen Nachfolger zu festigen. Um zu erklären, was ich damit meine, stütze ich mich auf die Erkenntnisse des Journalisten Jonathan V. Last. Er beleuchtet, warum so wenige der gewählten Republikaner bereit sind, mit Trump zu brechen – ganz gleich, wie sehr sich sein Verhalten dem Nixons annähert:
„Einer der Gründe, warum die Republikaner Nixon zum Rücktritt drängen konnten, war ihre Gewissheit, dass Nixon die Partei am Herzen lag. Zudem wussten sie, dass Nixon nach seinem Abgang in einem selbstauferlegten Exil Stillschweigen bewahren würde. Er würde die Jahre nach seiner Präsidentschaft nicht damit zubringen, 15 Mal am Tag auf Twitter gegen (Charles) Wiggins, Goldwater und Ford zu schießen. Aber diese Voraussetzungen treffen auf Trump nicht zu.“
Erzählt uns noch einmal, nur noch einmal, wie absolut Donald Trump der Große über eure Stimme, eure Prinzipien, eure Ehre verfügt.
Das erklärt nicht nur, warum Trump meint, er könne ein Amtsenthebungsverfahren überleben, sondern auch, warum er es genießen könnte. Er weiß, dass er bei den nächsten Wahlen womöglich verliert. Doch es gibt keinen Grund, warum eine Wahlschlappe ihn davon abhalten sollte, noch viele weitere Jahre via Twitter und andere Medien Macht über die Republikanische Partei auszuüben. Und welchen besseren Weg gäbe es, diese Macht (oder zumindest dieses Machtgefühl) im letzten Jahr seiner Regierung zu festigen, als zu erleben, wie all diese Möchtegern-Nachfolger, vor allem all diese intelligenten jüngeren Männer im Senat, sich runterbeugen und ein letztes Mal seinen Ring küssen?
Beug dich ruhig runter, Marco Rubio! Tritt vor, Ben Sasse! Tom Cotton, Josh Hawley, Ted Cruz, die Geschichtsbücher schauen zu: Erzählt uns noch einmal, nur noch einmal, wie absolut Donald Trump der Große über eure Stimme, eure Prinzipien, eure Ehre verfügt.
Das bringt uns zum letzten Grund, warum Trump der Gedanke eines Impeachments gefällt: Weil das Zirkusspektakel der Teil der Politik ist, den er am meisten genießt. Die gesamte Mueller-Untersuchung hindurch war mein Twitter-Feed voller liberaler Fantasien darüber, wie Trump sich aus Angst vor der Untersuchung des harten FBI-Mannes in die Hose macht oder Schweißausbrüche bekommt. Und vielleicht hat er das manchmal auch. Aber ich bin völlig sicher, dass er bei seinen Schimpftiraden auf Twitter gegen die „Zwölf verärgerten Demokraten“, gegen die „HEXENJAGD“, weit engagierter, lebendiger und viel mehr er selbst war als während der gesamten Gefechte um die Gesetzgebung zur Steuerreform und zur Aufhebung der von Obama eingeführten Gesundheitsversorgung.
Und dabei hatte die juristische Untersuchung von Robert Mueller das Potential, einige Leute aus Trumps innerem Kreis ins Gefängnis zu bringen. Ein rein politisches Verfahren, das schlimmstenfalls zu einem politischen Märtyrertum führen könnte, über das der Radiomoderator Sean Hannity bis zum Ende aller Zeiten berichten wird, scheint für Trump eine wesentlich stressreduziertere Variante dieser Erfahrung zu sein.
Ich sollte betonen, dass nichts von alldem ein stichhaltiges Argument dafür ist, dass die Demokraten die Anklage gegen Trump sein lassen sollten. Vor neun Monaten habe ich mich noch gegen Amtsenthebungsverfahren ausgesprochen.
Aber Politik ist ein Kampfsport, ein Schauplatz für Gefechte und Manöver; und nur weil jemand einen Kampf will, bedeutet das nicht, dass man dieser Person unter keinen Umständen einen Kampf zubilligen sollte. Die Maxime, es sei besser, Trump bei den Wahlen zu schlagen, als eine Abstimmung im Senat zu verlieren, gilt vermutlich nicht mehr.
Über weite Strecken der Trump-Ära warteten Politiker beider Parteien darauf, dass jemand anderes Trump den KO-Schlag verpasst. Deshalb hat es zumindest, was Initiative und Mut angeht, etwas für sich, wenn die Demokraten im Repräsentantenhaus jetzt selbst zum Schlag ausholen, wenn es auch nicht unbedingt strategisch ist.
Aber letztendlich denke ich, dass nichts davon eine so große Rolle spielt, wie es einige der für oder gegen ein Impeachment Argumentierenden annehmen. Ein Versuch, Präsident Trump des Amtes zu entheben, könnte von vornherein zum Scheitern verurteilt sein und dazu noch keinen großen Einfluss auf das Wahlergebnis von 2020 haben.
Die Trump-Ära zeichnet sich dadurch aus, dass gewaltige Ereignisse weitaus schneller verblassen als alle erwarten. So könnte es auch dem Impeachment-Vorhaben ergehen. Ob nun dafür oder dagegen gestimmt wird: Zu dem Zeitpunkt, an dem die US-Amerikaner zur Wahl gehen, werden wir über etwas ganz anderes streiten.
Aus dem Englischen von Ina Görtz
(c) The New York Times, 2019