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Wird es die Vereinigten Staaten von Amerika in 50 Jahren noch geben? Oder wird die Union bis dahin zerbrechen, sei es friedlich oder sogar gewaltsam und blutig? Dieses Szenario ist durchaus denkbar, so geschwächt ist das Land, so brutal sind die Konflikte, die mit anderen Begriffen besser beschrieben wären: Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung.

Nach der Ermordung Martin Luther Kings führte die Zeitschrift Esquire ein Interview mit James Baldwin, der in seinen Romanen und Erzählungen ungeschminkt und schmerzvoll beschrieb, wie sich Rassismus auf Unterdrückte und Unterdrücker auswirkte. „Wie können wir die Schwarzen dazu bringen, sich zu beruhigen?“ wurde Baldwin gefragt. Es ist nicht an uns, uns zu beruhigen, antwortete Baldwin.

Das war 1968. Zwei Monate nach dem tödlichen Attentat auf King wurde der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei Bobby Kennedy ermordet. In diesem Sommer schlug den Menschen, die anlässlich des Parteitags der Demokraten in Chicago demonstrierten, brutale Polizeigewalt entgegen. Man erkennt die gegenwärtigen Ereignisse in dem, was damals geschah, wieder. Auch 1968 waren den Unruhen und dem Aufstand heftige politische Konflikte, Gewalt in den Straßen und massenhafter Tod vorausgegangen, der so ungerecht wie brutal zugeschlagen hatte. 1968 war der unmittelbare Auslöser der Vietnamkrieg; heute ist es das Virus.

Nach Trumps Sieg haben viele europäische Linke die „Nation“ und die „Identitätspolitik“ neu bewertetet. Doch in Trumps Welt sind Nationalismus und Rassismus grundsätzlich Teil derselben Geschichte.

Mehr als 100 000 Amerikaner sind schon daran gestorben, und glasklar und erbarmungslos zeigt sich, wie eng der Tod und der Verlust von Lebensunterhalt, Krankenversicherung und Zukunftshoffnungen mit der Klassenzugehörigkeit zusammenhängen. Es trifft die Armen, und es trifft schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner. Dazu kommen die Lynchmorde an Ahmaud Arbery, Breonna Taylor und George Floyd. Und die lange Geschichte der Polizeibrutalität, die es schon immer gab, die aber dank Smartphone-Kameras nun sichtbar wird. Ist es da ein Wunder, was jetzt geschieht?

Der Sozialvertrag in den USA beruht seit jeher darauf, dass weiße Menschen Vorrang haben. Sicher, Barack Obama wurde zweimal zum Präsidenten gewählt. Doch wie der Autor Ta-Nahesi Coates richtig sagte, muss die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 auch als Folge der rassistischen Wut verstanden werden, die diese Präsidentschaft hervorgerufen hatte. Nach Trumps Sieg haben viele europäische Linke die „Nation“ und die „Identitätspolitik“ neu bewertetet. Man müsse „weiße Wähler der Arbeiterklasse“ unbedingt zurückgewinnen, heißt es. Doch diese Analyse zeugt von einem blinden Fleck, denn Trump verfolgt seit jeher die Politik, Rassismus zu schüren und Menschen aufzustacheln. In Trumps Welt sind Nationalismus und Rassismus grundsätzlich Teil derselben Geschichte.

Sklaverei und rassistische Unterdrückung sind die Erbsünden der USA. Diese Missstände gehören nicht der Geschichte an, sondern sie bestehen fort. Sie wurden nie „gelöst“: nicht durch den Bürgerkrieg, nicht durch Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung, nicht durch Obama. Wenn Trump gegen die Briefwahl antwittert, so will er damit verhindern, dass schwarze Wählerinnen und Wähler ihre demokratischen Rechte ausüben. Das ist nur ein kleines Beispiel von vielen.

Trump ist als Politiker Mittelmaß, als Propagandist aber ein großer Meister. Selbst jetzt hält ihm seine Kernwählerschaft die Stange. Es gibt in den USA keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr, keine gemeinsamen Wahrheiten.

Justizsystem, Polizei, Wohnungs- und Arbeitsmärkte diskriminieren das schwarze Amerika systematisch. Durch das politische und wirtschaftliche System verschlechtern sich die Lebensbedingungen der verbliebenen Mittelschicht, und der amerikanischen Arbeiterklasse mangelt es an grundlegender Sicherheit und Zukunftschancen. Armut, Verzweiflung und die Opioid-Epidemie führen dazu, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in vielen Bevölkerungsgruppen sinkt. Hinzu kommen das Virus und Trumps katastrophaler Umgang mit der Krise.

Früher erfüllte sich der „Amerikanische Traum“ für Angehörige vor allem der weißen Arbeiter- und Mittelschicht. Heute profitieren nur noch Tech-Milliardäre und andere Plutokraten. Das System funktioniert nicht mehr; wie sollte es auch? Die Vereinigten Staaten sind eine Demokratie, in der Bürgerinnen und Bürger Rechte haben, zumindest auf dem Papier. Aber langfristig kommt es auf Gerechtigkeit an, und Gerechtigkeit ist nur durch menschenwürdige Lebensbedingungen zu erreichen, durch Würde und echte Chancen.

Trump ist als Politiker Mittelmaß, als Propagandist aber ein großer Meister. Selbst jetzt, in der schlimmsten Krise der USA seit den 1930er Jahren, hält ihm seine Kernwählerschaft die Stange. Es gibt in den USA keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr, keine gemeinsamen Wahrheiten. „Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren“, sagte Trump, und er hat Recht. Er kennt sich aus in der Informationslandschaft von heute, weiß, dass Wut, Hass und Lügen in den „sozialen Medien“ am besten ankommen.

Aber das ist noch nicht alles: Trump hat aus Facebook-Chef Mark Zuckerberg einen persönlichen Botenjungen gemacht. In privaten Treffen lobte Zuckerberg den Präsidenten als „Nr. 1 auf Facebook“, und seine Datenanalysten unterstützten Trump bei der Optimierung seiner Wahlkampagnen. Kürzlich zensierte Twitter einen von Trumps gewaltverherrlichenden Tweets. Trump drohte daraufhin, die sozialen Netzwerke zu regulieren und sie für ihre Inhalte verantwortlich zu machen. Diese Drohung ist nicht ernst gemeint, denn wenn er sie wahr machte, würde das auch ihn und die anderen Hassprediger treffen. Wie die Soziologin und Tech-Forscherin Zeynep Tufekci darlegt, hat die Drohung gegen Twitter in Wahrheit nur einen Adressaten: Zuckerberg.

So überschneiden sich Überwachungskapitalismus und Trumpismus und verstärken einander. Die Pandemie hat 13 Millionen Amerikaner den Job gekostet; Zuckerberg konnte derweil sein Vermögen um 25 Milliarden Dollar erhöhen.

Zuckerberg, dessen Plattform noch viel größer und wichtiger ist, verteidigt mit hohlen Argumenten die „Meinungsfreiheit“ oder besser das Recht von Politikern, auf Facebook ungestraft zu lügen. Er weiß, dass es Trump ist, der am häufigsten lügt, und dass seine Lügen darauf abzielen, die Angst und den Rassismus Weißer anzustacheln und Schwarze am Wählen zu hindern. So überschneiden sich Überwachungskapitalismus und Trumpismus und verstärken einander. Die Pandemie hat 13 Millionen Amerikaner den Job gekostet; Zuckerberg konnte derweil sein Vermögen um 25 Milliarden Dollar erhöhen.

Die so genannte „Polarisierung“ in den USA, so die US-Historikerin Jill Lepore, ergibt sich weitgehend daraus, dass Menschen, die früher keine Teilhabe an der Demokratie hatten, jetzt ihren Platz und ihre Rechte beanspruchen. Darauf erfolgt der Backlash, und verstärkt wird diese Gegenreaktion dadurch, dass im öffentlichen Raum Hass regiert und die destruktivsten Neigungen der Menschen fördert. An dieser Kombination aus Rassismus und Facebook wird die amerikanische Republik zerbrechen.

Als Trump 2016 gefragt wurde, ob er bereit sei, einen Sieg Hillary Clintons zu akzeptieren, zögerte er. Die Frage lautet nun, was er tun wird, wenn er im Herbst verliert. Was passiert, wenn er das Wahlergebnis nicht annimmt? Eine von Rassismus durchdrungene Gesellschaft tut denjenigen, die ihm unmittelbar ausgesetzt sind, Gewalt an. Aber sie wirkt auf alle und jeden zersetzend. „Sind Sie es denn nicht, die die schlimmsten Verletzungen davontragen?“ wurde Baldwin im Esquire gefragt. „Nein“, antwortete Baldwin. „Wir sind nur diejenigen, die als Erste sterben.“

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal. Eine schwedische Version erschien im Aftonbladet.