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Wenn viele von uns die Leistung und Strategie von Hillary Clinton im Jahr 2016 in Frage stellen und behaupten, sie hätte gewinnen sollen, drücken wir uns ungenau aus. Was wir wirklich meinen ist, dass sie mit größerem Abstand hätte gewinnen sollen. Wir meinen, dass sie mit so viel Abstand hätte gewinnen sollen, dass James Comeys eitle und unkluge Gewissensanwandlungen, die Einmischung Russlands, Mark Zuckerbergs Weigerung, für die Inhalte seiner Plattform Verantwortung zu übernehmen, sowie die Macken des Wahlkollegiums und der Vorteil, den die Republikaner davon hatten, keinen Unterschied hätten machen können.

Clinton erhielt fast drei Millionen Stimmen mehr als Donald Trump, wie sie nun auf dem Parteitag der Demokraten zu Recht erwähnte. Unserer Ansicht nach hätte sie angesichts dessen, was für ein erbärmlicher Mann Trump ist, was für ein widerwärtiger Kandidat er war und was für eine chaotische Kampagne er geführt hat, verdammt noch mal fünf Millionen mehr erhalten müssen. Wobei dann sicherlich auch genug Stimmen aus Wisconsin, Pennsylvania und Michigan gekommen wären, um das Wahlmännergremium zugunsten von Clinton zu drehen und uns vor den vergangenen, seelenzerstörenden Jahren zu bewahren.

Daran erinnerten nicht nur Clintons Äußerungen auf dem Konvent, sondern auch die vieler anderer Redner. Sie forderten die Wähler nicht einfach dazu auf, lediglich mehr Briefwahlzettel abzugeben als Trumps Anhänger und am Wahltag in größerer Zahl zu erscheinen, um Joe Biden und Kamala Harris den Sieg zu verschaffen.

Nein, sie drängten auf eine so gewaltige Machtdemonstration, dass es möglich wäre, trotz nicht zugestellter Post, geschlossener Wahllokale oder was auch immer Trump ausbrüten mag, zu gewinnen. Auf der anderen Seite pocht Trump darauf, dass jede Stimmenauszählung, die ihn nicht an die Spitze bringt, gefälscht und unrechtmäßig sein müsse. Was für eine erschreckend zynische Perspektive. Und was für eine völlig zutreffende.

Die Redner drängten auf eine so gewaltige Machtdemonstration, dass es möglich wäre, trotz nicht zugestellter Post, geschlossener Wahllokale, oder was auch immer Trump ausbrüten mag, zu gewinnen.

Der Parteitag der Demokraten war in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Er war körperlos und hatte eine einfallsreiche digitale Choreographie, beraubte aber große Momente wie die Rede von Kamala Harris ihres gewohnten Trubels und feierlichen Donners. Als Kontrapunkt zu Trumps giftigem Narzissmus stellten die Demokraten ihren Kandidaten Joe Biden nicht als einen Filmhelden, sondern als einen bescheidenen Botschafter der Güte dar, als ein Korrektiv im Stile eines Normalbürgers, der mit Eimer und Mopp im Weißen Haus eintrifft, bereit, den moralischen Makel zu beseitigen, den Trump, Jared Kushner und der Rest der Schurken hinterlassen.

Aber der ungewöhnlichste Aspekt des Parteitags war die Annahme, die ihm zugrundelag. Man ging von Betrug auf der anderen Seite aus und schlug daher eine neue Mathematik vor, einen arithmetischen Overkill. Und zwar deswegen, weil es schon viele Betrügereien oder Betrugsversuche gegeben hat.

Es gab natürlich das „perfekte“ Telefongespräch („perfect phone call) zwischen Präsident Donald Trump und seinem ukrainischen Amtskollegen, der mit dem „Gefallen“ beauftragt wurde, Bidens Ansehen zu vernichten. Es gab, laut John Boltons Memoiren, einen Hilfsappell an den chinesischen Präsidenten. Robert Müllers Untersuchung des Umgangs der Trump-Kampagne mit den Russen im Jahr 2016 hat den Präsidenten nicht gelehrt, nicht wieder einen heißen Ofen anzufassen. Sie hat ihn gelehrt, dass die Verbrennung nur eine Legende ist.

Seither hat er gedroht, Nevada, einen Staat, den er wahrscheinlich nicht gewinnen wird, zu verklagen, weil dieser seinen Bürgern das Wahlrecht erleichtert hat. Er hat sich lautstark die Aushöhlung des US-Postdienstes gewünscht, damit die Briefwahl vereitelt wird. Er hat die Idee einer Verschiebung der Wahl in Umlauf gebracht. Er hat zwar nicht die Macht dazu, aber er wusste, dass dieses Thema anzusprechen eine andere Art ist, den Wählern zu sagen: „Das ist alles ein Durcheinander. Messen Sie der Wahl keine Bedeutung bei und glauben Sie den Ergebnissen nicht.“ Und er weiß, dass die Wähler in einem Nebel des allumfassenden Misstrauens nicht richtig zwischen den guten und den schlechten Akteuren wie ihm unterscheiden können.

Trump weiß, dass die Wähler in einem Nebel des allumfassenden Misstrauens nicht richtig zwischen den guten und den schlechten Akteuren wie ihm unterscheiden können.

Ein fairer Kampf? Trumpf ist das präsidiale Äquivalent der hinterlistigen Boxerin, die Hilary Swank in „Million Dollar Baby“ gelähmt zurückgelassen hat. Diejenigen von uns, denen die amerikanische Demokratie am Herzen liegt, sind Swank.

Die Situation ist so pervers, dass sich Facebook bereits auf Trumps wahrscheinlichen Versuch, das soziale Netzwerk zu nutzen, um nicht genehme Wahlergebnisse für ungültig zu erklären, einstellt und überlegt, wie darauf zu reagieren sei. Facebook wurde bereits mit Desinformationen überschüttet, die den Menschen falsche Angaben darüber machen, wann, wo und wie sie wählen sollen.

Das Präsidentschaftsrennen im Jahr 2020 ist nicht das erste Mal, dass eine oder beide Seiten schmutzige Tricks der anderen Seite entdeckt oder prophezeit haben. Sie müssen nur bis zum Wettstreit zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahr 2000 und der Neuauszählung in Florida zurückgehen, um massenhaft Vorwürfe der Illegitimität zu finden.

Aber diese Wahl wird die Wahl von 2000 wie ein Kinderspiel aussehen lassen. Die Demokraten sind dafür entsprechend gerüstet. Und so haben sie in den vier Nächten ihres Kongresses Appelle zur Stimmabgabe abgegeben, die mehr wie Tutorials oder Wahlanleitungen aussahen und die in ihrer wiederholten Aussage, man müsse einen „Plan zur Stimmabgabe“ erstellen, bemerkenswert spezifisch waren.

So sagte Michelle Obama am Eröffnungsabend des Kongresses: „Wir müssen uns unsere bequemen Schuhe schnappen, unsere Masken aufsetzen, ein kleines Abendessen und vielleicht auch das Frühstück einpacken, denn wir müssen bereit sein, die ganze Nacht Schlange zu stehen, wenn es sein muss.“ Wann war das letzte Mal, dass eine Führungsfigur, die die Amerikaner zur Abstimmung aufrief, dazu auch Mode- und Feinschmeckertips gab? Ich schätze, noch nie. Aber das ist der Stand der Dinge.

Weit über den Konvent hinaus höre ich Leute, die sich Sorgen darüber machen, dass ihre Stimmen weggeworfen werden.

Zwei Abende später warnte Barack Obama davor, dass Trump und seine Unterstützer „auf Ihren Zynismus zählen. Sie wissen, dass sie Sie mit ihrer Politik nicht überzeugen können. Deshalb hoffen sie, es Ihnen so schwer wie möglich zu machen, abzustimmen, und Sie davon zu überzeugen, dass Ihre Stimme keine Rolle spielt“.

„Lassen Sie sich von denen nicht Ihre Macht wegnehmen“, fügte er hinzu. „Lassen Sie nicht zu, dass sie Ihnen Ihre Demokratie wegnehmen.“ Wann haben Sie jemals gehört, dass ein zurückhaltender ehemaliger Präsident dem jetzigen nicht nur schlechte Amtsführung, sondern auch ein Komplott zur Zerstörung des amerikanischen Projekts selbst vorgeworfen hat? Das haben Sie so noch nicht gehört. Dann kam Trump.

Am letzten Abend des Kongresses warnte die Komikerin Sarah Cooper die Wähler, dass Trump „keinen von uns wählen lassen will, weil er weiß, dass er nicht fair und ehrlich gewinnen kann“. Julia Louis-Dreyfus, die Moderatorin, sagte: „Wenn wir alle wählen, können Facebook, Fox News und Wladimir Putin nichts tun, um uns aufzuhalten.“

Weit über den Konvent hinaus höre ich Leute, die sich Sorgen darüber machen, dass ihre Stimmen weggeworfen werden; darüber, was passiert, wenn Trump am Wahltag vorne liegt und erst bei der Auszählung der Briefwahlzettel zurückfällt; darüber, wie groß der Abstand bei der Gesamtheit der Stimmen sein muss, um einen Triumph im Wahlkollegium zu garantieren; darüber, wie durchschlagend der Triumph im Wahlkollegium sein muss, damit Trump den Mund hält.

Diese Fragen sind nicht das Ergebnis von Trumps Gestörtheitssyndrom. Sie sind die Früchte der Auseinandersetzung mit ihm. Sie sind auch das Vermächtnis von Clintons Niederlage im Jahr 2016, als man das starke Gefühl hatte, dass der Mehrheitswille verrückten, ausgeflippten Wendungen zum Opfer fiel. Eine Lektion wurde gelernt, und die Demokraten beherzigen sie jetzt: Um zu gewinnen, braucht man einen Erdrutschsieg.

(c) The New York Times