China ist in den vergangenen zehn Jahren mächtiger geworden und engagiert sich verstärkt geopolitisch, das ist bekannt. Besonders deutlich zeigt sich dies in Mittel- und Osteuropa (MOE). Dort wurde Chinas Präsenz in den vergangenen Jahrzehnten trotz der großen geografischen Entfernung immer sichtbarer. Nun aber scheinen die Beziehungen ins Stocken zu geraten.

Seit 2012 finden regelmäßige Treffen zwischen dem chinesischen Ministerpräsidenten und den Regierungschefs von 17 mittel- und osteuropäischen Staaten statt. Ziel dieser Zusammenkünfte ist der Ausbau der geschäftlichen Beziehungen und die Verbesserung des Investitionsklimas für chinesische Unternehmen. Im vergangenen Jahr wuchs Chinas Handel mit den teilnehmenden Ländern um acht Prozent und damit fast dreimal so stark wie der chinesische Außenhandel insgesamt. Zum ersten Mal überschritt das Gesamthandelsvolumen die 100-Milliarden-Dollar-Marke.

Chinas Versuche, in die MOE-Region vorzustoßen und dort nicht nur Fuß zu fassen, sondern in der EU für Konfusion und Dissens zu sorgen, lösen erwartungsgemäß Diskussionen aus. Westeuropa und insbesondere die „Großen Drei“ Deutschland, Frankreich und Großbritannien (die seit dem Brexit zu den „Großen Zwei“ geschrumpft sind) verfolgen misstrauisch, wie die MOE-Länder ihre Kooperation mit China vertiefen und institutionalisieren. Anscheinend haben diese Länder sich durch ihre EU-Mitgliedschaft nicht davon abhalten lassen, ihre eigenen außenpolitischen Prioritäten zu verfolgen und die Partnerschaft mit der aufstrebenden Großmacht für ihre eigenen Interessen zu nutzen. Noch akuter stellt sich die Frage, wie Chinas eigene langfristige Interessen sich mit denen der EU unter einen Hut bringen lassen.

Kein Land reichte in den vergangenen 30 Jahren so nah an die USA heran, was die Militärausgaben angeht.

Die Rivalität zwischen China und den USA dürfte in den kommenden Jahren zum wichtigsten Faktor der internationalen Politik avancieren. Dadurch bekommt auch das Verhältnis der MOE-Länder zu Peking eine neue geopolitische Bedeutung.

Der Konflikt zwischen den USA und China ist sowohl von materiellen Faktoren als auch von unterschiedlichen Wahrnehmungen bestimmt. Wenn man das Bruttoinlandsprodukt kaufkraftparitätisch gegenüberstellt, hat China die USA bereits hinter sich gelassen. Das Verteidigungsbudget der Volksrepublik steigt Jahr für Jahr. Genaue Zahlen sind zwar nicht zugänglich, aber die Schätzungen bewegen sich in der Größenordnung von 178 bis 261 Milliarden US-Dollar. Letztere Summe entspräche beinahe 35 Prozent der amerikanischen Militärausgaben. Kein Land reichte in den vergangenen 30 Jahren so nah an die USA heran, was die Militärausgaben angeht – und erst recht gab es kein Land, das die USA in Sachen Wirtschaftsvolumen überholt hätte.

Chinas dynamische Wirtschaftsentwicklung lässt sich nicht auf einen einzelnen Nenner bringen. Die Strukturprobleme und der spezielle Charakter der chinesischen Volkswirtschaft, die Umweltsituation, die regionalen Entwicklungsdefizite – all das müssen wir in Rechnung stellen, wenn wir die Machtbalance richtig beurteilen wollen. Trotzdem stehen die Chancen, dass China die USA mittelfristig überholt, recht gut, wenn wir die genannten Indikatoren zum Maßstab nehmen.

Der Wettlauf um Verbündete ist bereits in vollem Gange, und die USA haben in diesem Wettlauf einen deutlichen Vorsprung.

Das bestimmende Merkmal dieses Konkurrenzkampfes wird in Zukunft nicht mehr die Rivalität zweier Gegenspieler sein. Der Wettlauf um Verbündete ist bereits in vollem Gange, und die USA haben in diesem Wettlauf einen deutlichen Vorsprung. Das Netz der US-Bundesgenossen umspannt neben der euro-atlantischen Gemeinschaft auch wichtige Regionen Asiens – darunter einige, die für China von entscheidender Bedeutung sind. Die Biden-Regierung hat den zukünftigen ideologischen Frontverlauf bereits abgesteckt: die Demokratie im Kampf gegen den Autoritarismus. Dies verschafft dem Weißen Haus die Möglichkeit, den eigenen Vorsprung beim Ringen um Verbündete noch weiter auszubauen und Chinas Optionsspielraum einzuengen.

Diese Entwicklung wird auch die MOE-Länder vor schwierige Entscheidungen stellen. Chinesische Investitionen und Infrastrukturprojekte und Chinas Markt – all das ist für die MOE-Länder ausgesprochen attraktiv. Wenn sie dafür aber die Gefahr in Kauf nehmen müssen, dass ihre Beziehungen zu den USA zersetzt werden, fällt die Einschätzung schon anders aus.

Allem Anschein nach haben diejenigen MOE-Länder, die zur 17+1-Plattform gehören, bereits begonnen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Manche Länder haben sogar schon die Antwort auf diese Fragen parat – und über diese Antwort dürfte Peking alles andere als erfreut sein.

Für viele der MOE-Länder war 2020, was die potenzielle Zusammenarbeit mit China angeht, ein frustrierendes und enttäuschendes Jahr. Das Gesamtvolumen der chinesischen Investitionen in den EU-Mitgliedstaaten sackte auf das Niveau von 2012/2013 ab – und die MOE-Länder wurden von dieser Abwärtsentwicklung nicht verschont. Hinzu kommt, dass die Länder Mittel- und Osteuropas für China keine Priorität haben; Nordeuropa und die „Großen Zwei“ stehen auf der chinesischen Agenda viel weiter oben. Insgesamt investierte China in den 17+1-Ländern gerade einmal magere 3,1 Milliarden US-Dollar.

Beim jüngsten 17+1-Gipfel wurde die Größenordnung der Probleme in aller Deutlichkeit sichtbar.

2012 hatte Europa noch große Hoffnungen und Erwartungen in die 17+1-Plattform gesetzt. Industrielle Entwicklung, groß angelegte Infrastrukturvorhaben, Chinas Tor zu Europa – all das schien realisierbar. Heute – neun Jahre nach ihrer Gründung – wird die 17+1-Initiative von vielen belächelt, in deren Augen dieses Format nur noch ein Gebilde ist, das Foren, Messen und Austauschprogramme veranstaltet.

Der jüngste 17+1-Gipfel wurde zunächst wegen der Corona-Pandemie vertagt und fand schließlich im Februar 2021 als Online-Veranstaltung statt. Bei dem Treffen wurde die Größenordnung der Probleme in aller Deutlichkeit sichtbar. Slowenien, Rumänien, Lettland, Litauen und Estland ließen sich auf dem Gipfel nur von Ministern vertreten, während China mit Xi Jinping seinen höchsten Repräsentanten schickte. Er übernahm beim Gipfel den Vorsitz.

Der chinesische Präsident musste sich von den europäischen Teilnehmern allerhand unangenehme Fragen anhören – zum Beispiel die Frage, warum die Öffnung des chinesischen Marktes für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus MOE sich so lange hinzieht. Die Europäer zeigten sich einigermaßen pessimistisch: Das chinesische Investitionsvolumen fiele gering und die Infrastrukturprojekte bedeutend bescheidender aus, als ursprünglich angekündigt, und die Kooperation bleibe ungleich. Der chinesische Präsident versprach daraufhin, die logistischen Möglichkeiten auszubauen, die MOE-Länder schneller mit chinesischem Impfstoff zu versorgen und die Agrareinfuhren aus der Region auf 170 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Angesichts der neuen geopolitischen Gesamtsituation dürfte dies für die Europäer zu wenig sein.

China wird für seine Partnerschaft mit Mittel- und Osteuropa mehr Aufwand treiben und einen höheren Preis zahlen müssen.

Die Aktivitäten chinesischer Investoren werden in den MOE-Ländern inzwischen zunehmend eingeschränkt. Im Mai 2020 zum Beispiel blies Rumänien den mit China vereinbarten Bau zweier neuer Atomreaktoren in Cernavoda ab. Dem Beispiel Washingtons folgend, wollen Polen, die Tschechische Republik, Rumänien und Estland die Tätigkeit von Huawei in ihren Ländern beschränken. Zudem äußert die Region inzwischen deutlichere Kritik an Chinas Minderheiten-, Hongkong- und Menschenrechtspolitik.

China hat es nicht eilig, den Wohlstand seiner Partner zu mehren. Peking bekennt sich zwar zum Prinzip des gemeinsamen Wohlstands für die Welt, verfolgt aber hauptsächlich seine eigenen Ziele: Lieferketten zu etablieren und für die eigenen Handelsinteressen zu werben. Chinas Bereitschaft, seine Märkte zu öffnen, ist sicherlich nicht besonders ausgeprägt. Auch das Projekt „Neue Seidenstraße“ ist für China eher ein Türöffner für den eigenen Zugang in die Welt der modernen entwickelten Volkswirtschaften als ein Instrument, die anderen an diesem Megaprojekt beteiligten Länder am Wohlstand teilhaben zu lassen.

Der europäische Markt ist für China zweifellos hochinteressant und die zentralasiatischen und osteuropäischen Länder haben als Durchgangsrouten und Korridore eine wichtige Funktion. Doch in Zeiten sich verändernder geopolitischer Realitäten steigt der Preis politischer Probleme dramatisch.

China wird für seine Partnerschaft mit Mittel- und Osteuropa mehr Aufwand treiben und einen höheren Preis zahlen müssen. Es könnte sein geografisches Betätigungsfeld vergrößern oder die Gewinne teilen, damit in Europa nicht noch stärker der Eindruck entsteht, es wolle nur in solche Projekte Geld investieren, bei denen es den Löwenanteil der Gewinne einstreicht – so wie bei der Übernahme des Hafens von Piräus in Griechenland. Eine andere Möglichkeit wäre, den Ländern in der Region etwas anzubieten, das über Handel und Infrastrukturvorteile hinausgeht.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld