Ein Sieg lässt sich im Krieg manchmal einfach definieren. Der Zweite Weltkrieg endete mit der Kontrolle alliierter Truppen über Berlin und Tokio und der Ausschaltung der deutschen und japanischen Führung. Der Vietnamkrieg andererseits endete für die USA mit einer klaren Niederlage: Nordvietnam eroberte Südvietnam trotz des vergeblichen Opfers von 58 000 amerikanischen Menschenleben. Der Koreakrieg wird manchmal als Krieg ohne Sieger bezeichnet, weil er nie formell beendet wurde.
Jedoch können derartige Definitionen in die Irre führen. Im Irak haben die USA zwar Saddam Hussein beseitigt, aber weder Massenvernichtungswaffen gefunden (die Rechtfertigung für ihren Einsatz) noch das Land in eine funktionierende Demokratie verwandelt. Schlimmer noch: Einige Zyniker würden behaupten, dass der wahre Sieger der Iran war, der zur einflussreichsten politischen Kraft im Irak aufstieg.
Andererseits hat sich in Korea die Südhälfte der Halbinsel trotz der entmilitarisierten Zone zu einer lebendigen, wohlhabenden Demokratie mit jährlichem Pro-Kopf-Einkommen von 35 000 US-Dollar entwickelt, während Nordkorea eine gefährliche Diktatur mit geschätztem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 1 200 Dollar und wiederkehrenden Lebensmittelkrisen ist. Wer also hat den sieglosen Krieg gewonnen?
Dies bringt uns zur Ukraine, wo die Definition des Sieges von den Kriegszielen und Zeithorizonten der Beteiligten abhängt. 2014 marschierte Russland unter dem Vorwand des Schutzes der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim und in Teilen der östlichen Donbass-Region in die Ukraine ein. Acht Jahre später versuchte Russland, den Prozess durch die Vernichtung der Ukraine als unabhängigen Staat zu vollenden. Wie der russische Präsident Wladimir Putin im Jahr 2021 schrieb, betrachtete er die Ukraine nicht als unabhängige Nation, sondern als Teil der größeren russischen Welt. Er zog in großem Umfang Truppen an der Grenze zusammen, um Kiew in wenigen Tagen einzunehmen und die ukrainische Regierung zu ersetzen, so wie es die Sowjetunion 1956 in Budapest und 1968 in Prag getan hatte.
Gemessen an den ursprünglichen Kriegszielen Putins hat die Ukraine bereits gesiegt.
Er scheiterte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lehnte es ab, aus dem Land zu flüchten und eine Exilregierung zu bilden, sondern mobilisierte selbst Truppen, rettete die Hauptstadt und vereitelte Putins Plan. In der Folge nutzte Selenskyj die Soft Power der Anziehungskraft, um ausländische Unterstützung zu gewinnen und die militärische Macht der Ukraine zu stärken. Das Ergebnis von Putins Invasion war, die Stärkung der nationalen Identität der Ukraine sowie der NATO, die zwei neue Mitglieder – Finnland und Schweden – hinzugewann, welche zuvor eine langjährige Neutralitätspolitik verfolgt hatten. Gemessen an den ursprünglichen Kriegszielen Putins hat die Ukraine bereits gesiegt.
Das Problem ist freilich, dass russische Truppen noch immer rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets kontrollieren. Putin hat inzwischen seine Kriegsziele dahingehend geändert, dass er von der Ukraine die Anerkennung der Annexion von vier östlichen Provinzen fordert (die teils nicht vollständig von russischen Truppen kontrolliert werden). Es scheint eine Pattsituation vorzuliegen. Doch betreibt Putin nun einen Zermürbungskrieg. Die russischen Verluste sind enorm, aber angesichts der größeren Bevölkerung und Wirtschaftskraft Russlands setzt Putin womöglich darauf, dass die Zeit für ihn spielt. Irgendwann könnten der Kampfeswille der Ukraine und auch die Unterstützung des Westens bröckeln.
Laut einer aktuellen Umfrage sind 26 Prozent der Ukrainer offen für eine diplomatische Lösung. Aber sie sind nicht bereit, sich auf Scheinverhandlungen mit einem keinerlei Reue zeigenden Putin einzulassen. Etwa 86 Prozent der Ukrainer glauben, dass Russland selbst bei Unterzeichnung eines Friedensvertrags wahrscheinlich erneut angreifen wird. Obwohl sowohl Russland als auch die Ukraine ihre Verhandlungsbereitschaft bekundet haben, liegen sie noch weit auseinander. Im vergangenen Sommer reiste Ungarns Kreml-freundlicher Ministerpräsident Viktor Orbán nach Moskau, um zu vermitteln, doch es gelang ihm nicht, Putins Position zu ändern. Derweil behauptet Donald Trump weiterhin, er könne den Krieg an einem Tag beenden. Es ist allerdings schwer vorstellbar, wie dies anders als durch eine ukrainische Kapitulation erreicht werden könnte.
Wenn die Ukraine den Sieg als Rückgabe aller von Russland seit 2014 besetzten Gebiete definiert, ist ein Sieg nicht in Sicht.
Kürzlich erklärte der tschechische Präsident Petr Pavel, ein ehemaliger NATO-General, der die Ukraine nachdrücklich unterstützt, dass „von einer Niederlage der Ukraine oder Russlands zu sprechen, einfach nicht möglich sein wird. Das Ende wird also irgendwo dazwischen liegen.“ Pavel warnte, ein Teil des ukrainischen Staatsgebiets werde vorübergehend unter russischer Besatzung verbleiben, wobei „vorübergehend“ Jahre bedeuten könne. Wenn die Ukraine den Sieg als Rückgabe aller von Russland seit 2014 besetzten Gebiete definiert, ist ein Sieg nicht in Sicht. Wenn sie jedoch ihre Unabhängigkeit als mit Europa verbundene Demokratie bewahren will, die sich zugleich ihren Anspruch auf eine endgültige Rückgabe ihres Staatsgebiets vorbehält, bleibt ein Sieg möglich.
Dieser mögliche Sieg bedeutet aber auch, dass man es Putin nicht ermöglichen darf, seinen eigenen Sieg zu verkünden. Die Ukraine muss die Unterstützung erhalten, die sie zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition braucht. Selbst wenn sie ihre Maximalziele kurzfristig nicht erreichen kann, bliebe die Legitimität ihrer Position langfristig erhalten, solange die russischen Gewinne nicht anerkannt werden.
Dies wird manchmal als koreanische Lösung bezeichnet: Ein Waffenstillstand und eine entmilitarisierte Zone entlang der Kontrolllinie würden von internationalen Friedenstruppen überwacht werden, sodass Russland im Falle eines erneuten Angriffs viele andere Länder einbeziehen würde. Auch wenn es vielleicht nicht möglich ist, 32 NATO-Mitglieder dazu zu bewegen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer förmlichen Mitgliedschaft der Ukraine im Bündnis zuzustimmen, könnte eine Gruppe von NATO-Mitgliedern, die sich selbst als „Freunde der Ukraine“ bezeichnen, die Zone überwachen und zusagen, auf jeden neuerlichen Akt russischer Aggression zu reagieren.
Zu guter Letzt bräuchte die Ukraine auch Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Wirtschaft und beim Zugang zu den EU-Märkten. Während eine koreanische Lösung also die Maximalziele der Ukraine kurzfristig nicht befriedigen würde, könnte man sie doch mit Fug und Recht als ukrainischen Sieg bezeichnen.
© Project Syndicate
Aus dem Englischen von Jan Doolan