Westlichen Medienberichten zufolge ist der afghanische Präsident Hamid Karzai aktueller Favorit für den Ehrentitel „größter politischer Hasardeur des Jahres“. Erst weigert sich Karzai das rettende bilaterale Sicherheitsabkommen mit Washington zu unterschreiben, dann entließ er Mitte Februar 65 mutmaßlich gefährliche Taliban aus der Haft und komplettierte das Bild des undankbaren ehemaligen Vorzeigepartners. Der US-Senat, allen voran der einflussreiche republikanische Senator Lindsey O. Graham, hatten zuvor unverhohlen mit drastischen Mittelkürzungen und Nachteilen für Afghanistan gedroht.
Doch anders als die westliche Öffentlichkeit es wahrhaben möchte, eignen sich Afghanistans Realitäten kaum für eine simple Schwarz-Weiß-Betrachtung. Die Entlassung der 65 Gefangenen aus dem 50 km nordöstlich von Kabul gelegenen Gefängnis in Bagram ist nur das jüngste Beispiel einer Reihe von tiefgreifenden Streitthemen um die Zukunft des Landes. Vordergründig geht es um eigenwillige Rechtsauffassungen der USA. Im Hintergrund jedoch steht die alles überschattende Frage nach dem Charakter des Anti-Terror-Kriegs am Hindukusch und um die sensible Frage nach der Souveränität Afghanistans. Und hier scheinen westliche Staaten immer mehr Opfer ihrer unklaren Interventionspolitik zu sein.
Talibangefängnis als Altlast
Bagram ist, ebenso wie Guantanamo, eine unentsorgbare Altlast der Bush-Ära. Nach den Terrorattacken des 11. September hatten neokonservative US-Juristen den USA das Recht konstruiert, die Genfer Konventionen in ihrem Sinne interpretieren zu können. So konnten als „feindliche Kämpfer“ bezeichnete Akteure überall gefangen genommen werden, wo „Schlachtfelder“ des „Kriegs gegen den Terror“ ausgemacht wurden. Wie die internationale Kritik am Komplex Guantanamo immer wieder bemängelte, gelangten auf diese Weise hunderte von Personen in das intransparente exterritoriale Gefängnissystem der USA. Zu diesem gehörte bis zu seiner Übergabe an die afghanische Regierung auch das Gefängnis Bagram.
Die Entlassung der 65 Gefangenen ist nur das jüngste Beispiel einer Reihe von Streitthemen. Vordergründig geht es um eigenwillige Rechtsauffassungen der USA. Im Hintergrund jedoch steht die sensible Frage nach der Souveränität Afghanistans.
Längst ist bekannt, dass sich unter den Gefangenen etliche Bauern, Taxifahrer und Unbeteiligte befanden, denen im Grunde nichts vorzuwerfen war. Oft genug waren Geständnisse in den Anfangsjahren durch Folter erpresst worden. In anderen Fällen hielten die USA ihr Beweismaterial zurück und verwiesen auf deren Ursprung aus Geheimdienstquellen. Legale Zivilgerichtsprozesse waren unter diesen Umständen unmöglich – und oft genug auch unerwünscht. Das aber kommt einer groben Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips in westlichen Demokratien gleich: Der Unschuldsannahme bis zum Beweis des Gegenteils.
Einerseits ist durchaus verständlich, dass die USA und die europäischen Nationen wenig Vertrauen in das korrupte Rechtssystem Afghanistans haben. Verständlich ist auch, dass kein NATO-Staat, der am Hindukusch das Leben seiner Soldaten riskiert, festgenommenen Taliban eine zweite Terrorchance ermöglichen will. Doch zugleich gilt auch, dass der „Komplex Guantanamo“ und das Verbiegen rechtsstaatlicher Grundsätze durch die westlichen Demokratien ihr Ansehen in der islamischen Welt nachhaltig diskreditiert haben. Obgleich die USA die einzige Nation waren, die bis vergangenes Jahr dort ihre eigenen Gefängnisse betrieb, haben auch andere Nationen, darunter Deutschland, sich im Umgang mit den Taliban in eine problematische Grauzone begeben. Sie überstellen ihre Gefangenen routinemäßig an den afghanischen Geheimdienst (NDS), dem Menschenrechtsorganisationen zu Recht die Folterung von Gefangenen vorwerfen.
Auch Karzai steht unter öffentlichem Druck
Dabei hat die afghanische Regierung erstaunlich lange mit Washington an einem Strang gezogen. Trotz zahlreicher Streitpunkte unterstütze Karzai das Vorgehen der USA als Säule der Sicherheit in Afghanistan. Doch als die Empörung über US-Nachtrazzien und zunehmende „Kollateralschäden“ im Drohnenkrieg immer heftiger wurde, stieg auch der Unwille in Kabul das Treiben der internationalen Truppen noch länger zu ertragen. Dazu gehörte auch der Transfer afghanischer Staatsbürger in das Bagramer US-Gefängnis. Die Zahl anti-westlicher Demonstrationen und der gesellschaftliche Druck auf Präsident Karzai wuchsen dramatisch.
Die USA übergaben schließlich, nach jahrelangen Verzögerungen, im vergangenen Jahr das Bagramer Gefängnis und mit ihm 889 Insassen an die afghanische Regierung. Gegen 760 lagen kaum Beweise vor, sie wurden bereits kurz nach der Übernahme durch afghanische Gerichte frei gesprochen und entlassen. Dabei ist bedauerlich, dass das im Mai 2013 nach langen Verhandlungen unterzeichnete Übergabe-Abkommen mit schwammigen juristischen Begriffen operiert und entscheidende Anschlusslücken an die afghanische Verfassung aufweist. Denn damit schafft die Verantwortungsübergabe neue Keimstätten für Streit und widersprüchliche Interpretationen über den vereinbarten Umgang mit den Gefangenen.
So dreht sich der aktuelle Streit um 88 Männer, die die USA bei der Übergabe als „anhaltende Sicherheitsrisiken“ klassifizierten und deren unbeschränkte Inhaftierung – ohne Gerichtsprozess - verlangte. Laut US-Befehlshabern liegen gegen die Personen handfeste Beweise vor. Wenn diese tatsächlich existieren, ist jedoch kaum nachvollziehbar, weshalb die US-Amerikaner diese Fälle nicht selbst juristisch klärten, was bis 2013 ja durchaus möglich gewesen wäre. Die afghanische Seite sieht das alles ganz anders: Ein vom Präsident einberufenes – und in Afghanistan durchaus umstrittenes – administratives Review Board konnte bei 65 der 88 Männer keine ausreichenden Haftgründe erkennen – und empfahl deren Freilassung. Karzai bezeichnete die Männer daraufhin propagandistisch als Opfer der amerikanischen Unterdrückung und Bagram als „Taliban Herstellungsfabrik“.
Es ist die verfahrene Ausgangslage eines Krieges, der eigentlich eine Hilfsmission sein möchte, und das wachsende Misstrauen beider Seiten, das einen konstruktiven Umgang mehr und mehr unmöglich macht.
Es ist die verfahrene Ausgangslage eines Krieges, der eigentlich eine Hilfsmission sein möchte, und das wachsende Misstrauen beider Seiten, das einen konstruktiven Umgang nicht nur im Falle Bagrams mehr und mehr unmöglich macht. Natürlich segelt Karzai dabei zuhause auf einer Welle anti-westlicher Gefühle und nutzt diese populistische Chance in dem nun einsetzenden Machtkampf um seine Nachfolge und sein Erbe.
Ausgesprochen klarsichtig und wohldosiert instrumentalisiert er dabei die desaströse Schwäche der US-Position und das juristische Schlammassel des Westens im „Kampf gegen den Terror“. Er verkörpert dabei nur, was frustrierte Afghanen längst denken – und hält dabei die Tür für Hinterzimmerdeals mit dem Westen offen. Ob sein Kabuler Poker langfristig eine sinnvolle Strategie für Afghanistan ist, sei dahingestellt. Für den Westen ist dies vorerst eine bittere Lektion, die lehrt, dass eigene Prinzipien bei der Verteidigung von Freiheit und Sicherheit eingehalten werden müssen, um glaubhaft zu bleiben. Ob diese Lehre gezogen wird, ist unklar. Statt Karzai politischen Amoklauf vorzuwerfen, sollten westliche Staaten zunächst Fehler gegenüber Kabul offen eingestehen und sich bemühen, das Vertrauen zurückzugewinnen, dass ihnen die Afghanen anfänglich entgegenbrachten. Denn klar ist auch: Hamid Karzai und seine Mitstreiter sind Vieles aber sicher keine politischen Hasardeure.