„Die Welt ist zweigeteilt: in das, was Kalabrien ist, und das, was Kalabrien werden wird“, so erklärte es ein älterer Boss der kalabrischen ’Ndrangheta, Italiens mächtigstem Mafiaexport, seinem jüngeren Kollegen. Die vier großen italienischen Mafiaorganisationen – neben der ’Ndrangheta sind dies die sizilianische Cosa Nostra, die kampanische Camorra und die apulische Sacra Corona Unita – operieren allesamt inzwischen transnational. Von den Vieren zeigt die ’Ndrangheta den ausgeprägtesten Expansionsdrang – so kontrolliert sie bereits einen Großteil des Kokainhandels in Europa und ist mit einem Jahresumsatz von mehr als 50 Milliarden Euro zu einem der wichtigsten Spieler weltweit im Bereich der organisierten Kriminalität avanciert. Als Profiteur der Globalisierung hat sie über den Erdball verteilt Dependancen gegründet und agiert wie eine global operierende Holding, die in einer Reihe von Geschäftsfeldern aktiv ist.
Allerdings vermeidet die ’Ndrangheta – anders als beispielsweise die lateinamerikanischen Kartelle oder aber die sizilianische Cosa Nostra der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre – allzu medienwirksame Gewaltexzesse und fliegt daher in vielen Ländern, inklusive der Bundesrepublik, unter dem Radar. Die Politik ignoriert das Thema größtenteils, die Medien ebenso und die Bevölkerung nimmt daher an, das Problem existiere gar nicht. Neben der weitverbreiteten Apathie in Politik und Bevölkerung stellte staatliche Souveränität lange Zeit einen weiteren Hemmschuh für die effektive grenzübergreifende Bekämpfung der Mafia dar. Denn Strafverfolgung wurde traditionell als zentrale souveräne Prärogative angesehen, daher wurden ’Ndrangheta und Co. – obgleich sie global agieren – primär lokal bekämpft.
Die Politik ignoriert das Thema größtenteils, die Medien ebenso.
Das aktuelle Serious and Organized Crime ThreatAssessment der EU erkennt jedoch an, dass das organisierte Verbrechen eine zentrale Bedrohung für die innere Sicherheit der EU darstellt. Es mangelt also nicht an Problembewusstsein. Lange Zeit fehlte es aber an einem angemessenen Instrumentarium, um diesem europäischen Problem auch mit gemeinsamen europäischen Lösungen zu begegnen. Neuere Entwicklungen zeigen jedoch, dass erfolgreich Anstrengungen unternommen wurden, koordiniert über Ländergrenzen hinweg die Expansion von ’Ndrangheta und Co. in der EU einzudämmen. Hier ist an erster Stelle die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) zu nennen, die vor gut einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen hat und bereits in ihrem ersten Fall zu einem Umsatzsteuerkarussell unter mutmaßlicher Beteiligung der ’Ndrangheta ermittelt hat. Auch das Instrument der sogenannten joint investigation teams (JITs) – gemeinsamer Ermittlergruppen aus mehreren europäischen Ländern, die vereint gegen das organisierte Verbrechen und andere Formen der Kriminalität vorgehen – lässt Hoffnung aufkeimen.
Zwischen beiden Instrumenten – der EUStA einerseits und den JITs andererseits – gibt es allerdings wichtige Unterschiede. Die JITs sind ein Instrument, um effektiv grenzüberschreitend zu ermitteln – dies war vorher nicht möglich, da es keine Form der institutionalisierten Kooperation zwischen den Polizeien der verschiedenen europäischen Staaten gab. Die Etablierung der JITs erleichtert daher Ermittlungen und Strafverfolgung unter der Beteiligung mehrerer Länder. Ein besonders prominenter Fall ist das JIT, welches aktuell internationale Kernverbrechen in der Ukraine untersucht. Ihm gehören neben diversen europäischen Staaten auch der Internationale Strafgerichtshof an.
Doch auch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen haben JITs beeindruckende Erfolge erzielt: So wurden 2018 im Rahmen der Operation Pollino fast einhundert ’Ndranghetisti in Deutschland, Belgien, Italien und den Niederlanden festgenommen. Die Operation wurde als Zukunft der Verbrechensbekämpfung in Europa bezeichnet. Ein Teil der Verdächtigen steht aktuell in Düsseldorf im sogenannten „Mafia-Mammutprozess“ vor Gericht.
Doch JITs haben auch Nachteile, wie Oliver Huth, Mafiaexperte und NRW-Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, konstatiert: „Bis ich einen JIT-Vertrag unterschrieben habe, vergeht in Deutschland ein Jahr, bis alles durcheskaliert ist.“ Daher begrüßt er nachdrücklich die Schaffung der EUStA, die kürzlich ihr Einjähriges feierte und ein Novum in der europäischen Integrationsgeschichte darstellt, da teilnehmende Staaten fundamentale souveräne Prärogativen im justiziellen Bereich abtreten. Die in Luxemburg ansässige Behörde ist mandatiert, Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zu verfolgen und kann zu diesem Zwecke unmittelbar in allen beteiligten Mitgliedsstaaten ermitteln und Verdächtige vor nationalen Strafgerichten anklagen. Sie fußt auf einer hybriden Konstruktion, das heißt dass jeder der 22 beteiligten Staaten einen Staatsanwalt nach Luxemburg entsendet und gleichzeitig eine bestimmte Anzahl sogenannter delegierter europäischer Staatsanwälte vor Ort in den Mitgliedsstaaten bereitstellt – Deutschland beispielsweise verfügt über elf solcher delegierter Staatsanwälte, die in fünf großen deutschen Städten angesiedelt sind.
So werden immer wieder die paradiesischen Zustände für Geldwäscher in Deutschland moniert.
Justizexperten setzen große Erwartungen in die EUStA. „Das Instrument ist einfach grandios, Sie können sich diese ganze internationale Rechtshilfe sparen“, so Huth. Gleichzeitig betont er allerdings auch die Begrenzungen der EUStA, die nur dort Jurisdiktion über organisiertes Verbrechen hat, wo dies zu Lasten des EU-Haushalts geht, wie beispielsweise im Falle des bereits erwähnten mafiösen Umsatzsteuerkarussells. „Ich würde mir wünschen, dass wir das noch ausdehnen auf andere Bereiche der OK“, so Huth – Währungsdelikte, die Strafverfolgung von kriminellen Vereinigungen et cetera. „Da muss die Europäische Staatsanwaltschaft aufs Tableau, die Verfolgung dieser Delikte darf nicht im Gusto der Mitgliedsstaaten liegen.“
Allerdings gibt es auf europäischer Ebene nach wie vor keinen Strafverfolgungszwang, und auch andere normative Divergenzen in den Mitgliedsstaaten – im Bereich von Datenschutzregelungen und Verteidigungsrechten beispielsweise – behindern die Effektivität von gemeinsamen Ermittlungen. Auch im Bereich der Geldwäsche und der Vermögensabschöpfung operieren Ermittler in den verschiedenen Mitgliedsstaaten unter stark variierenden gesetzlichen Rahmenbedingungen – so werden in diesem Zusammenhang immer wieder die paradiesischen Zustände für Geldwäscher in Deutschland moniert. Daher betonen die Verfasser der EU-Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität 2021–2025, dass der Kampf gegen kriminelle Finanzströme verstärkt und der EU-Rahmen zur Eindämmung von Geldwäsche verbessert werden müsse.
Doch nicht nur zum Teil unzureichende Vorschriften seien problematisch, ebenso sei die Implementierung existierender Vorschriften in manchen Mitgliedsstaaten zu lax. So würde beispielsweise das Instrument der Finanzermittlungen nicht ausreichend angewendet, obgleich man damit ’Ndrangheta und Co. an einem empfindlichen Punkt treffen kann.
Kapazitätsprobleme sind ein wichtiger Grund, warum solche Ermittlungen oftmals nicht durchgeführt werden. Daher sei „die weitere Beförderung einer Kultur der frühzeitigen Finanzermittlungenin allen Mitgliedsstaaten als auch der Ausbau der Ermittlerkapazitäten notwendig“. Gleichzeitig wären die Bemühungen im Bereich der Vermögensabschöpfung „durch einen nochmals verstärkten Rechtsrahmen auf EU-Ebene und stärkere operative Kapazitäten der Vermögensabschöpfungsstellenzu intensivieren“, so die Verfasser der EU-Strategie. Insgesamt beinhaltet der europäische Werkzeugkasten zur Bekämpfung von ’Ndrangheta und Co. also mittlerweile eine Reihe effektiver Instrumente, allerdings müssen einige davon noch geschärft und vor allem europaweit einheitlicher angewendet werden.