Dass zu den Olympischen Spielen in Paris einzelne russische und belarussische Vertreter – wenn auch als neutrale Athleten – zugelassen wurden, ist in der Ukraine höchst emotional diskutiert worden, was an und für sich nicht verwundert. Erstens blieb das bis 2022 herzliche Verhältnis zwischen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), seinem Präsidenten Thomas Bach und Moskau nicht unbemerkt und geriet auch nicht in Vergessenheit. Zweitens zeigte die ukrainische Gesellschaft auch vor dem Krieg schon eine Neigung zu hitzigen und gefühlsintensiven Debatten, und dies hat sich durch die Dauertragödie der vergangenen zweieinhalb Jahre noch um ein Vielfaches verstärkt. Vor dem Hintergrund überrascht es nicht, dass die für Sport zuständigen Regierungsstellen in Kiew eine Zeitlang ganz klar die Position vertraten, dass die Teilnahme ukrainischer, russischer und belarussischer Sportlerinnen und Sportler an ein und demselben Turnier auf keinen Fall in Frage kam. Diese Haltung wurde Ende Juli 2023 durch eine Anordnung des Jugend- und Sportministeriums korrigiert. Demnach dürfen sich Ukrainerinnen und Ukrainer nun doch an Wettkämpfen beteiligen, an denen auch russische und belarussische Athleten teilnehmen – unter der Voraussetzung, dass diese unter neutraler Flagge antreten.

Der Sinneswandel vollzog sich nicht zuletzt unter dem Druck weiter Teile der ukrainischen Sport-Community, die einen Komplettboykott als irrationale Entscheidung werteten, mit der man sich ins eigene Fleisch schneide. Mit der Teilnahme von Sportlern, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Politik Wladimir Putins offen unterstützen, konnte Kiew jedoch auf keinen Fall einverstanden sein. Diese Frage stellte sich allerdings im Grunde nicht. Ein kategorisches Teilnahmeverbot für alle Russen und Belarussen inklusive einiger Tennisspieler, die ausdrücklich als Einzelpersonen an den Start gehen und von denen etliche schon lange im Ausland leben, war zu keinem Zeitpunkt eine realistische Option und stand nicht ernsthaft zur Diskussion. Der Fall der Fechterin Olha Charlan, die gleich am ersten Tag nach der neuen Anordnung des Sportministeriums der Russin Anna Smirnowa den Handschlag verweigerte und deshalb aus der Weltmeisterschaft ausgeschlossen wurde, damit aber die Sympathien und Herzen vieler Sportfans in aller Welt eroberte, zeigte in aller Deutlichkeit: Wenn man sich während des Krieges selbst die Möglichkeit nimmt, bei einem der wichtigsten Sportereignisse die Ukraine mit Anstand zu vertreten, hätte das eher nachteilige Auswirkungen und würde bedeuten, dass die Ukraine Chancen vertut.

Ein Komplettboykott hätte nur Sinn, wenn sich viele Länder anschließen würden – insbesondere wichtige westliche Staaten. Das war allerdings vor dem Hintergrund, dass eine uneingeschränkte Zulassung von Russen und Belarussen von vornherein undenkbar schien, höchst unwahrscheinlich. Umso besser ist es, dass die Ukraine letztlich den Weg der Sportdiplomatie beschritt. Damit erzielte sie ein Resultat, das nicht nur hier und heute, sondern auch für die Zukunft von Bedeutung sein wird. Die spezielle Prüfkommission des IOC, die sich mit der Zulassung russischer und belarussischer Athleten befasst und sorgfältig darüber wacht, ob die konkreten Sportler sich an die festgelegten Kriterien halten, arbeitet nicht ganz perfekt. Unter den anfangs 36 zugelassenen russischen Sportlern gab es etliche umstrittene Fälle, bei denen zum Beispiel das Liken kriegsbefürwortender Posts eine Rolle spielte. Diese Sportler haben übrigens fast alle die Einladung zur Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlagen. Vor diesem Hintergrund ist die Teilnahme von 15 Sportlern mit russischer und 17 Sportlern mit belarussischer Staatsbürgerschaft, die unter neutraler Flagge an den Start gehen, keine Katastrophe, obwohl es auch in diesem Kreis vereinzelte strittige Fälle gibt.

Die Arbeit der ukrainischen Sportdiplomatie unter der Federführung des seit November 2023 als Sportminister amtierenden Matvii Bidnyi, aber auch die aktive Haltung Frankreichs als Ausrichter der Olympischen Spiele sind noch aus einem anderen Grund wichtig. Durch unzählige persönliche und virtuelle Gespräche und durch öffentlich-institutionellen Druck – auch hinter den Kulissen – wurde erreicht, dass die IOC-Prüfkommission trotz allem mehrere hundert Sportlerinnen und Sportler einzeln akribisch unter die Lupe nahm. Das gibt der Ukraine Instrumente an die Hand, mit denen sie in Zukunft langfristig und planvoll Druck auf die betreffenden internationalen Verbände ausüben kann. Wenn bereits ein konkreter IOC-Beschluss über die Nichtzulassung einzelner Sportler zu Olympia vorliegt, können die für Sport zuständigen Stellen in Kiew diesen Beschluss auch im Vorfeld zukünftiger Wettkämpfe und Turniere als Präzedenzfall ins Feld führen. Das ist ein klarer strategischer Erfolg.


Angesichts der Besonderheiten der Sportpolitik und der internationalen politischen Großwetterlage muss die Ukraine weiterhin alles daransetzen, dass an diesen Entscheidungen auch in Zukunft nicht gerüttelt wird. Doch schon jetzt hat die Ukraine ein Fundament gelegt, das sich nur extrem schwer wieder aufkündigen lässt. Daran hat übrigens das Russische Olympische Komitee (ROC) selbst großen Anteil, weil es im Herbst 2023 die regionalen Sportorganisationen der teilbesetzten Gebiete Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson als Mitglieder aufnahm. Daraufhin konnte das IOC gar nicht anders, als die Mitgliedschaft des ROC zu suspendieren, weil gemäß den IOC-Statuten jedes Mitglied die territoriale Integrität aller anderen Mitglieder respektieren muss. Da aus politischen Gründen schwer vorstellbar ist, dass das ROC seine Entscheidung rückgängig macht, dürfte die Suspendierung der Mitgliedschaft des ROC in absehbarer Zukunft wohl kaum aufgehoben werden.

Obwohl bei den Olympischen Spielen absolute Stars wie die erwähnte Olha Charlan oder die neue Hochsprung-Weltrekordlerin Jaroslawa Mahutschich mit von der Partie sind, wird man von der Ukraine aufgrund der Kriegssituation wohl kaum eine glänzende Vorstellung erwarten können. Doch Olha Charlan, die hervorragend Englisch spricht und eine wahre sportliche Botschafterin der Ukraine ist, kann allein schon durch ihre Anwesenheit mehr bewirken, als wenn sie den Spielen fernbleiben würde.

Eine Strahlkraft über die Grenzen des Olympischen Dorfes hinaus wird in Paris auch das ukrainische Haus entfalten, das als Medien- und Kulturzentrum die Aufmerksamkeit auf die Ukraine lenken soll und dem Präsident Wolodymyr Selenskyj wahrscheinlich einen Besuch abstatten wird – potenziell ein weiteres Beispiel für Kiews erfolgreiche Sport- und Kulturpolitik. Doch trotz aller sichtbaren Erfolge muss die ukrainische Seite auf der Hut sein und wachsam bleiben. Denn mit Sicherheit wird das IOC dennoch seine traditionelle beliebige Agenda für alles Gute und gegen alles Schlechte verfolgen, die von den Realitäten des Russland-Ukraine-Kriegs sehr weit entfernt ist. Ein sichtbares Zeichen dafür ist bereits das Foto des IOC-Präsidenten Thomas Bach mit dem russischen Schwimmer Jewgeni Somow und einem „Give Peace a Chance“-Spruchband. Dieser Aufruf ist im Grunde genommen legitim und naheliegend, aber er darf nicht in den luftleeren Raum geschickt werden, sondern muss sich an den einzigen Menschen richten, der diesen Krieg wirklich beenden kann: Wladimir Putin.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld