Der nun zu Ende gehende Wahlkampf war in mindestens zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Einerseits hat er eine enorme Volatilität der Umfragewerte offenkundig werden lassen und andererseits ein sehr hohes Maß der Personalisierung des Wettbewerbs um die Macht. Beides hängt sicherlich miteinander zusammen: Geht es weniger um Parteien mit ihren relativ fixen programmatischen und ideologischen Positionen, sondern eher um die Wahrnehmung persönlicher Qualitäten und Charaktereigenschaften, dann können einzelne Eindrücke – ein Lachen zur unpassendsten Gelegenheit, eine Buchveröffentlichung mit viel „nicht deklarierter Fremdware“ – große Auswirkungen auf die persönlichen Popularitätswerte haben, die dann auch schnell auf die Parteien durchschlagen.
Aber mit Sicherheit sind die Amplituden, mit denen diesmal die Umfragewerte der Parteien innerhalb kürzester Zeit nach oben oder unten ausschlugen, für das deutsche Parteiensystem ohne Beispiel. Die Union war noch im Sommer letzten Jahres im Umfragehimmel, knapp unter 40 Prozent, nachdem ihr die Bürgerinnen und Bürger zurechneten, sie gut durch die erste Welle der Pandemie geführt zu haben. Das wäre von Merkels triumphalstem Wahlergebnis nicht so weit entfernt gewesen. 2013 verpasste die CDU/CSU mit 41,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Bundestagssitze nur knapp – am Ende fehlten fünf Sitze.
Die Amplituden, mit denen diesmal die Umfragewerte der Parteien innerhalb kürzester Zeit nach oben oder unten ausschlugen, sind für das deutsche Parteiensystem ohne Beispiel.
Nun befindet sich die Union mit knapp über 20 Prozent in einem noch nie gekannten Umfrageelend – fast eine Halbierung innerhalb von zwölf Monaten, ein spektakulärer Absturz. Der Status als Volkspartei scheint gefährdet zu sein. Es wirkt, als durchlebten die Christdemokraten mit einer Zeitverschiebung von drei bis vier Legislaturperioden nun das Schicksal der Sozialdemokraten, inklusive der internen Streitigkeiten, die ja bislang vornehmlich als Aushängeschild der SPD galten.
Auch die Grünen erlebten innerhalb nur weniger Monate erst Hoch- und dann Katerstimmung. Von Juni bis jetzt waren bei den Zustimmungswerten Änderungen im zweistelligen Bereich zu verzeichnen. Kurz nach der Kandidatennominierung von Annalena Baerbock im April schien der Weg ins Kanzleramt frei zu sein. Nun geht es für die Partei nur noch darum, vor der FDP ins Ziel zu kommen. Jeder Anspruch auf die Kanzlerschaft ist abgeschrieben. Hinzu kommt die wundersame Wiederauferstehung einer seit Langem für tot erklärten politischen Kraft, der Sozialdemokratie. Wenig überraschend wird dieser Trend in fast allen Kommentaren einer Person zugerechnet, nämlich ihrem Kanzlerkandidaten.
Die Bedeutung von Personen nimmt durch die Medialisierung der Politik deutlich zu.
Beide Entwicklungen, eine gesteigerte Volatilität und Personalisierung der Politik, bedingen sich aber nicht nur gegenseitig, sie sind auch langfristiger Natur und jeweils eigengetrieben. Mit abnehmenden Parteibindungen orientieren sich die Wählerinnen und Wähler immer kurzfristiger und votieren immer unberechenbarer. Da die Handlungsspielräume nationaler Regierungen immer kleiner werden, schrumpfen die programmatischen Unterschiede zwischen den (etablierten) Parteien. Die Bedeutung von Personen nimmt durch die Medialisierung der Politik dagegen deutlich zu. Diese Erkenntnisse sind nicht neu.
Ist also gar nichts besonders bemerkenswert an der gegenwärtigen Lage? Doch, denn ein langfristiger Trend wurde bislang noch wenig beachtet: die bedeutsamen Verschiebungen im Gefüge des politischen Systems der Bundesrepublik, die vor allem in den Krisen der jüngsten Vergangenheit offenkundig wurden. In den Lehrbüchern der Politikwissenschaft kann man bis heute von der Trias aus Kanzler-, Kabinetts- und Ressortprinzip lesen, die das deutsche Regierungssystem prägen würden. Das politische Management der Euro- und Migrationskrise und nun auch der Pandemie schien davon wenig zu halten. Der zentrale Krisenbewältigungsakteur wurde jeweils sehr schnell das Bundeskanzleramt. In der Migrationskrise führte das sogar zur offenen Entmachtung eines der mächtigsten Ressorts überhaupt, des Innenministeriums: Im Kanzleramt wurde kurzerhand ein „Flüchtlingskoordinator“ installiert.
Vor allem in den Krisen der jüngsten Vergangenheit wurden bedeutsame Verschiebungen im Gefüge des politischen Systems der Bundesrepublik offenkundig.
Die sogenannte Ressortfreiheit des Kanzleramts, das ursprünglich als rein koordinierender Akteur ohne Zuständigkeit für inhaltliche politische Festlegungen gedacht war, ist längst passé. In der Eurokrise konnte das ebenfalls mächtige Bundesfinanzministerium letztlich nur innerhalb des Rahmens agieren, den die Kanzlerin vorgab. Man könnte in diesem Fall noch geneigt sein, dies dem europäischen Charakter dieser beiden Krisen zuzuschreiben, da die jeweiligen Regierungschefs in den Brüsseler EU-Ministerratsrunden die zentralen politischen Entscheidungen treffen mussten. Die Corona-Pandemie zeigt jedoch, dass das deutsche Regierungssystem ganz unabhängig davon in diesen Krisenbewältigungsmodus fällt.
Auch die Pandemie wurde quasi aus dem Kanzleramt heraus gesteuert: durch die von Kanzleramtsminister Helge Braun geleiteten Konferenzen der Chefs der Staatskanzleien der Länder und durch die Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz der Kanzlerin, ein informelles und bislang kaum genutztes föderales Steuerungsgremium. Die Fachministerkonferenzen der Gesundheitsminister aus Bund und Ländern spielte keine Rolle. Eine auf Bundesebene via Ressortabstimmung gesicherte Pluralität der Problemsichten entfiel nach und nach. Von Kabinettsprinzip konnte also keine Rede mehr sein. Fachminister Jens Spahn hatte sich unter Gefahr seiner Entmachtung im Rahmen dessen zu bewegen, was im Kanzleramt als generelle Linie im Umgang mit der Pandemie festgelegt wurde.
Eine auf Bundesebene via Ressortabstimmung gesicherte Pluralität der Problemsichten entfiel nach und nach.
Die Ministerpräsidentenkonferenz war im praktischen Abstimmungsmodus ganz ähnlich aufgestellt wie die europäischen Ministerratsrunden. Sie entsprach daher ideal einem Führungsstil, der die Umgehung lästiger parlamentarischer und koalitionärer Abstimmungszwänge auch schon vorher zu schätzen gelernt hatte. Dieser verstand es, routinehaft alle in einem quasi „intergouvernementalen“ Setting potenziell auftretenden Interessenkonflikte mit vielen Bundesmitteln stillzustellen. Ein föderales System, in dessen Selbstlegitimierung der Wettbewerb um die beste Lösung immer eine ganz zentrale Rolle spielte, fiel so erstaunlich schnell in den Modus der Selbstgleichschaltung. Eine der Schattenseiten war die Diffusion von politischer Verantwortung. Als die Zustimmung zum Pandemiemanagement dramatisch einbrach, ermöglichte sie es den Ministerpräsidenten, sich davon zu distanzieren, was sie am Vortag kollektiv beschlossen hatten. Auch diese „blame games“ sind ein bekanntes Muster europäischer Mehrebenen-Politik.
Das Bundeskanzleramt scheint sich zur „Superinstitution“ im deutschen Regierungssystem entwickelt zu haben. Ein Wahlkampf, der fast ausschließlich darüber geführt wird, welche Person demnächst dort einziehen darf, gibt somit bereits einen Vorgeschmack auf die Verteilung politischer Macht und die Einflussmöglichkeiten der Politik in den nächsten vier Jahren.