Kriege, Pandemien, Waldbrände, Dürren, Fluten, Hitzewellen, Kältewellen, Erdbeben, Tsunamis, Terroranschläge, Horror. Die Welt gibt nicht mehr nur ein trostloses, sondern vor allem ein hoffnungsloses Bild ab. Wenn man es nicht ändern kann.
Was hat das mit der argentinischen Grünen Welle („la ola verde“) zu tun, der lateinamerikanischen Frauenbewegung, die sich unter anderem für das Recht auf Abtreibung engagiert? Der Feminismus ist nicht die Lösung aller Probleme. Aber er ist ein Beispiel für eine Art der Organisierung und des Widerstands – und der Hoffnung, dass soziale und politische Beteiligung nie umsonst ist. Ihr Slogan – „Der Kampf lohnt sich!“ – lässt sich auf verschiedene Länder und Szenarien übertragen.
Die „Ni Una Menos“-Bewegung kann als Epizentrum des lateinamerikanischen Feminismus gesehen werden. 2015 wehrten sich Künstlerinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen gegen geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen. Ihr Aktivismus führte zu zahlreichen Demonstrationen aus. Zwei Jahre später folgte #MeToo. Mit der Grünen Welle gipfelte die Bewegung 2018 in der kollektiven Forderung nach dem Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung.
Aus der grünen Welle und dem Streit für die Legalisierung der Abtreibung in Argentinien ist 2018 ein Tsunami geworden, in dem das grüne Kopftuch das Symbol für Autonomie, sexuelle und reproduktive Rechte und dem Bündnis zwischen Frauen und sexueller Vielfalt ist. Das grüne Kopftuch ist nicht mehr nur ein Objekt der Identität, des gemeinsamen Kampfes und des Verbündetseins. Es ist eine Flagge und ein Zeichen für die plurinationale Idee der lateinamerikanischen Feminismen inmitten einer territorialen Fragmentierung.
Das grüne Kopftuch ist eine Flagge und ein Zeichen für die plurinationale Idee der lateinamerikanischen Feminismen inmitten einer territorialen Fragmentierung.
Das grüne Tuch wurde in Argentinien geboren, als Erbe des Einsatzes der Mütter und Großmütter vom Plaza de Mayo. Seit 1977 protestieren diese dort jede Woche mit einem Schweigemarsch für die Aufklärung des gewaltsamen Verschwindens ihrer Söhne, Töchter und Enkelkinder durch die damalige Militärregierung. Alle trugen ein weißes Kopftuch, um sich vor der Verfolgung durch das Regime zu schützen.
Die Kampagne für einen legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch hat bei einem Frauentreffen in der Stadt Rosario im Jahr 2003 die Farbe Grün als Zeichen der Hoffnung gewählt und sich damit ein unverwechselbares Symbol gegeben. Der Unterschied zwischen einem legalen Schwangerschaftsabbruch und einem illegalen, der im Untergrund stattfinden muss, ist einer zwischen Leben und Tod. Es ist der Unterschied zwischen einem erfüllten Leben einerseits und dem Tod durch Sex oder der Nötigung zum Sex andererseits. Dieser Unterschied zwischen Vergnügen oder Leiden, zwischen Enge und Freiheit ist himmelweit.
Aber es ist nicht der einzige. Der größte Unterschied ist die Art und Weise, wie die Grüne Welle Politik macht. Es geht nicht nur darum, Recht zu bekommen, eine Agenda durchzusetzen oder ein Urteil oder ein Gesetz zu erreichen. Es ist eine Art, politische Rechte zu erstreiten, in der Hoffnung, die Welt zu einer lebenswerten zu machen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Der feministische Kampf fördert ein aktives Bürgerengagement jenseits der Stimmabgabe. Die Demokratie wird durch den aktiven Feminismus vollkommener. Die Formen der Partizipation, der gesellschaftlichen Konsensbildung und der legislativen Auseinandersetzungen sind ein Lichtblick in einer Welt, die zu Entmutigung, Autoritarismus und Repression aufruft.
Der Unterschied zwischen einem legalen Schwangerschaftsabbruch und einem illegalen, der im Untergrund stattfinden muss, ist einer zwischen Leben und Tod.
Ayelén Mazzina ist Staatssekretärin für Frauen, Vielfalt und Gleichstellung in der Provinz San Luis. Sie ist erst 31 Jahre alt, offen lesbisch und trägt an den Seiten kahlgeschorene Haare. In formellen Kabinettssitzungen wirkt sie noch immer etwas „fehl am Platz“. „Wir müssen es schaffen“, fordert sie, „die Politik zu demokratisieren und zu humanisieren, wenn wir an Orten sitzen, an denen wichtige Entscheidungen getroffen werden.“
Die Partizipation von Frauen kann als gesellschaftliche Bremse für verschiedene Formen von Autoritarismus und sozialer Gewalt wirken. Geschlechtergerechtigkeit signalisiert „Ja, misch dich ein“, im Gegensatz zu „Nein, misch dich nicht ein“ – dem Motto, mit dem die argentinische Militärdiktatur durchsetzte, dass sich Bürgerinnen und Bürger aus Angst vor Folter und Verschwinden sich aus vielen Dingen einfach raushielten.
„Einmischung“ steht nicht für individuelle Gesten, sondern für Vernetzung unter Bürgerinnen und Bürgern: wenn Nachbarn ein junges Mädchen retten, das in einem Auto vergewaltigt wird; wenn eine Lehrerin zu Hause anruft, weil ein Mädchen sichtbar verprügelt in der Schule erscheint; wenn eine Fremde einer Teenagerin hilft, die im Zug belästigt wird; wenn eine Frau ein junges Mädchen nach Hause bringt, das vom Alkoholkonsum in einer Bar krank geworden ist.
Die Partizipation von Frauen kann als gesellschaftliche Bremse für verschiedene Formen von Autoritarismus und sozialer Gewalt wirken.
In einer Welt mit schwerwiegenderen Problemen, die noch vor drei Jahren nur der Stoff von Fernsehserien war, ist die feministische Agenda keine Nebensache. Sie ist mit Blick auf Kriege, Pandemien und Umweltkatastrophen nicht unbedeutend. Sie ist nicht etwas, das warten kann oder das auf der langen Liste der Dringlichkeiten nach unten rutscht. Die globalen Herausforderungen bedürfen der Teilhabe starker, selbstbestimmter Frauen.
Wir können die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Seit Beginn der Pandemie haben wir bereits Rückschritte erlebt. Nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) ist Lateinamerika bei der Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt um zehn Jahre zurückgefallen. Das ist schlicht inakzeptabel. Aber es geht um mehr.
Es geht um politische Sorgfalt und übergreifende Strategien. Und zwar nicht nur für Geschlechtergerechtigkeit, sondern als Motor für andere Bereiche. Kommen wir auf die Grüne Welle zurück. Die Bewegung konzentriert sich nicht nur darauf, dass die legale Abtreibung erreicht wurde. Ziel ist die Pflege des Grünen – der Welt, die uns umgibt.
„Sexualkunde, um zu entscheiden. Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben. Legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“
Auf den grünen Tüchern in Argentinien stand: „Sexualkunde, um zu entscheiden. Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben. Legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“ Heute stellen die Tücher ein Kleidungsstück dar, das einen aktiven Frieden propagiert. Ihre Farbe ist nicht weiß, nicht neutral, nicht kapitulierend – sondern aktiv. Nicht zu sterben bedeutet, für eine Welt zu kämpfen, in der das Grün der Hoffnung lebt. Der Kampfgeist lohnt sich.
Aus dem Spanischen von Svenja Blanke