Bei der bevorstehenden Parlamentswahl in Georgien, die als richtungsweisend für die Zukunft des Landes gilt, steht viel auf dem Spiel. Die pro-europäische und pro-westliche Opposition betrachtet diese Wahl als entscheidend für die Fortsetzung der EU-Integrationsbestrebungen Georgiens. Die regierende Partei Georgischer Traum behauptet zwar, dieselben Ziele zu verfolgen, steht jedoch in der Kritik, eine engere Bindung zu Russland anzustreben. Angesichts der zunehmenden Spannungen ist damit zu rechnen, dass es nach der Wahl, unabhängig vom Ergebnis, zu Konflikten kommen wird. Obwohl Umfragen die Partei Georgischer Traum derzeit als stärkste Partei sehen, ist die Opposition überzeugt, dass sie die Wahl gewinnen kann, wenn es ihr gelingt, gemeinsam mehr Stimmen als die Regierungspartei auf sich zu vereinen.
Der Druck von außen durch die EU und die USA verstärkt die Polarisierung zwischen Regierung und Opposition zusätzlich. Sowohl die EU als auch die US-Regierung reagierten zuletzt mit harten Maßnahmen auf die politische Rückwärtsentwicklung und die anti-westliche Rhetorik Georgiens. Insbesondere das „Gesetz über die Transparenz ausländischer Einflussnahme“ und die sogenannte „Anti-LGBT-Propaganda“-Gesetzgebung haben scharfe Kritik hervorgerufen. Die EU hat den Beitrittsprozess Georgiens gestoppt, und sowohl die EU als auch die USA haben Finanzhilfen in Millionenhöhe ausgesetzt. Darüber hinaus denkt die EU über Sanktionen nach, während die Biden-Regierung dieses Mittel bereits jetzt einsetzt. Einige georgische Politiker wurden bereits ins Visier genommen; Personen, die beschuldigt werden, die Demokratie zu untergraben, haben Visabeschränkungen auferlegt bekommen. Außerdem hat die Biden-Regierung eine Überprüfung der amerikanisch-georgischen Beziehungen eingeleitet und mit weiteren Einschränkungen gedroht, falls Georgien seinen derzeitigen Kurs fortsetzen sollte.
Der Westen äußert die Befürchtung, dass sich Georgien in Sachen Demokratie zurückentwickeln könnte. Hinzu kommt die Befürchtung, Russland könnte die Führung des Landes übernehmen. In den Resolutionen, die das EU-Parlament in diesem Jahr gegen den Georgischen Traum verabschiedet hat, wird das Vorgehen der Regierung scharf verurteilt. Die Resolution geht über bloße Kritik hinaus und drängt auf Maßnahmen, wie es sie noch nie gab – erst recht nicht gegen ein Land, das eine EU-Mitgliedschaft anstrebt. Das Europäische Parlament drohte damit, jegliche finanzielle Unterstützung einzustellen (30 Millionen Euro wurden bereits eingefroren). Mit diesem entschiedenen Schritt macht das Parlament klar, für wie undemokratisch es die georgische Regierung hält und dass sie für weitere Hilfen nicht infrage kommt. Dies zeigt deutlich, dass die Kluft zwischen beiden Seiten zusehends größer wird.
In der Resolution wurden auch persönliche Sanktionen gegen den Milliardär Bidsina Iwanischwili, den Mann hinter der Partei Georgischer Traum und gegen diverse Amtsträger gefordert. Iwanischwili wird als Schlüsselfigur beschrieben, die die Regierung beeinflusse und die Verbindungen zum Kreml habe. In der Debatte des EU-Parlaments wurde die georgische Führung des Weiteren beschuldigt, das Land in einen russischen Satellitenstaat zu verwandeln, und es wurde auf das Gesetz über ausländische Agenten verwiesen, das mit einem 2012 in Russland verabschiedeten Gesetz verglichen wurde. Die Botschaften einiger EU-Vertreter drehten sich nicht nur um Reformen, sondern enthielten auch eine deutliche Warnung: Sie deuteten an, dass Georgien der EU möglicherweise nie beitreten würde, sollten die Georgier den Georgischen Traum nicht abwählen. Auch die US-Botschaft in Georgien warnte in den sozialen Medien eindringlich vor den Folgen einer Isolation.
Der Georgische Traum stellt sich als pro-europäische Partei dar.
Während die USA den Druck auf Georgien durch Sanktionen erhöhen, geht Russland einen anderen Weg. Es hat die Visabeschränkungen aufgehoben und bereits im Frühling 2023 den direkten Flugbetrieb zwischen beiden Ländern wiederaufgenommen. Zudem hat Moskau seine potenzielle Bereitschaft signalisiert, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Georgien und den (von Russland besetzten und als unabhängige Staaten anerkannten) abtrünnigen Gebieten Südossetien und Abchasien zu unterstützen, nachdem sich Iwanischwili für eine Versöhnung ausgesprochen hatte. Damit stellt sich Russland offen hinter die Politik und Rhetorik der Partei Georgischer Traum.
Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili ist zu einer Schlüsselfigur der Opposition geworden und fordert ihre ehemaligen Verbündeten der regierenden Partei Georgischer Traum offen heraus. Nachdem ihr noch bei ihrer eigenen Wahl eine pro-russische Haltung vorgeworfen worden war, gewann sie Oppositionsgruppen für die pro-europäische und pro-demokratische „Georgische Charta“. Wer eine Partei wähle, die diese Charta unterstützt, so Surabischwili, stimme für die europäische Zukunft Georgiens. Damit stellte sie den Georgischen Traum in die anti-europäische und anti-demokratische Ecke. Die Charta schlägt vor, dass eine „technische Regierung“ übernehmen und bis 2025 die Auflagen der EU zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen umsetzen solle. Sofern die Charta breite Unterstützung fände, sollten im Herbst 2025 vorgezogene Wahlen abgehalten werden.
Der Georgische Traum stellt sich als pro-europäische Partei dar und wirbt mit dem Slogan „Mit Würde in Richtung Europa“. Was in diesem Fall als pro-europäisch verstanden wird, ist jedoch wenig eindeutig und weicht von der vorherrschenden pro-europäischen Perspektive ab. In letzter Zeit schwenkte die Partei um und orientiert sich an sehr konservativen Kräften innerhalb Europas.
Während sich die Berichterstattung über die demokratische Rückwärtsentwicklung des Georgischen Traums weitgehend auf die Kontrolle von NGOs konzentrierte, kritisiert die EU auch Georgiens Gesetze gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“. Georgien ist eine strukturell konservative Gesellschaft, traditionelle Botschaften finden bei vielen Bürgerinnen und Bürgern Anklang. Laut einer UN-Studie aus dem Jahr 2021 meinten 55,9 Prozent der Georgier, dass es der LGBT-Community mehr um Propaganda als um Gleichberechtigung gehe – gegenüber 2016 ein deutlicher Rückgang von 20,6 Prozent. Die Zustimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe ist nach wie vor gering: Nur zehn Prozent der Befragten befürworten sie uneingeschränkt oder teilweise, während die Mehrheit sie weiterhin ablehnt.
Die drängenden wirtschaftlichen Herausforderungen und die hohe Arbeitslosigkeit in Georgien werden in den Debatten meist ausgeblendet.
In diesen Zahlen drückt sich ein kultureller Konservatismus aus, den es bereits gab, bevor der Georgische Traum die Anti-LGBT-Stimmung für sich instrumentalisiert hat. Dass das Eintreten für LGBT-Interessen als Propaganda wahrgenommen wird, ermöglicht es der Regierungspartei, diese Ansichten für die Einführung LGBT-feindlicher Gesetze zu nutzen. Allerdings ist es dem Georgischen Traum nicht gelungen, wirtschaftspolitisch fortschrittliche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die bei der Allgemeinheit wirklich Anklang finden. Ihre nennenswertesten Maßnahmen für die Arbeitnehmerschaft beschränkten sich auf die Erhöhung des Mindestlohns für Beschäftigte im Gesundheitswesen und die Verdopplung der Mutterschaftsunterstützung. Einige Oppositionsparteien geben zu diesen Themen lediglich Lippenbekenntnisse ab, legen aber keine konkreten Pläne vor und werben unter dem Vorwand, man müsse sich an die EU angleichen, für eine neoliberale Agenda.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden in Georgien oft Diskussionen über Themen aufgezwungen, die für ihr tägliches Leben nicht relevant sind. Vielen ist es gleichgültig, ob ihr Land der EU beitritt oder nicht. Die drängenden wirtschaftlichen Herausforderungen und die hohe Arbeitslosigkeit in Georgien werden in den Debatten meist ausgeblendet. Ein Großteil der georgischen Bevölkerung wünscht sich zwar eine progressive Wirtschaftspolitik, aber keine der großen politischen Parteien kann ihnen ein entsprechendes Politikangebot machen. In den letzten Jahren vertraten die Parteien meist rechte politische Konzepte wie Sparmaßnahmen und Reformen zur Begrenzung von Sozialleistungen. Die Beschäftigten fordern wiederum Gehaltserhöhungen, um mit der Inflation und den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt zu halten. Viele haben mit hohen Zinssätzen sowie Überschuldung zu kämpfen, und ihre Einkommen sind nicht ausreichend, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Darüber hinaus erwarten die Beschäftigten mehr Unterstützung im Agrarsektor sowie eine strengere Regulierung der Lebensmittelpreise, um die Erschwinglichkeit von Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Sie fordern zudem höhere Investitionen in die Jugendförderung, eine verbesserte Bildung und niedrigere Gesundheitskosten. Weitere dringende Anliegen sind soziale Sicherheit und höhere Renten für Rentnerinnen und Rentner mit Behinderungen sowie für Pflegekräfte. Zudem wächst die Besorgnis über die Abwanderung von Fachkräften und die steigende Emigration, die auf eine mangelhafte langfristige Wirtschaftsplanung der Regierung zurückzuführen ist. Ein weiteres Problem stellt die systemische Gewalt dar, die von der Bekämpfung der Gewerkschaften über autoritäre Führungsstile bis hin zu institutionellen Ungerechtigkeiten reicht.
Im Vorfeld der Wahlen in Georgien werden die Probleme der einfachen Leute von geopolitischen Diskussionen überlagert. Sowohl die Regierung als auch die Opposition räumen den Beziehungen zur EU und außenpolitischen Belangen Priorität ein und vernachlässigen dabei entscheidende Themen wie niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und wirtschaftliche Instabilität. Dieser politische Ansatz geht jedoch vorbei an den wirklichen Problemen, mit denen die Mehrheit der Georgier zu kämpfen hat. Wahlen kommen und gehen, doch solange die Bedürfnisse der Arbeiterklasse ignoriert werden und die Einmischung aus dem Ausland anhält, werden die wichtigen Probleme des Landes ungelöst bleiben.
Aus dem Englischen von Christine Hardung