In diesen Tagen und Wochen erleben wir in Deutschland hautnah, wie wichtig die Bekämpfung von Fluchtursachen nicht nur in Syrien, sondern auch in Afghanistan und in vielen Ländern Afrikas ist. Millionen von Schicksalen. Abertausende Bürgerkriegsflüchtlinge harren in riesigen Lagern in den syrischen Anrainerstaaten Jordanien, Libanon und der Türkei nahe der Heimat aus. Wir müssen erkennen, dass sich Flüchtlinge in Not von keiner Grenze aufhalten lassen. Was uns alle völlig überrascht und zugleich überfordert, ist nicht nur die gewaltige Anzahl an Flüchtlingen, sondern wie schnell uns die Realität, die wir bislang nur von den Bildschirmen aus verfolgt haben, eingeholt hat.

Wer von Südfinnland nach Kalabrien reisen will, braucht heute seinen Ausweis nicht mehr vorzuzeigen. Die durch den Vertrag von Schengen erzielte Freizügigkeit ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Einigung. Dieser Wert ist für die Bürgerinnen und Bürger persönlich erfahrbar: keine Wartezeiten an Schlagbäumen und keine Passkontrollen. Deshalb müssen wir die offenen Grenzen innerhalb der EU mit allen Mitteln verteidigen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, die Außengrenzen besser zu schützen. Dies kann nicht nur eine Aufgabe der Grenzstaaten sein. Es ist ein gesamteuropäischer Kraftakt notwendig. Auch wenn Deutschland nur von Mitgliedstaaten umgeben ist, muss es die Länder an der Außengrenze unterstützen.

Wer Binnengrenzen immer offen halten will, muss Außengrenzen auch schließen können. Wir wollen keine Zaunanlagen wie sie zwischen den USA und Mexiko bestehen. Ein Blick auf die Europakarte zeigt, dass ein solcher Schutzring um die Europäische Union schon aufgrund der Geographie nicht möglich wäre. Allerdings sind die gemeinschaftlichen Außengrenzen, dort wo möglich, entsprechend zu sichern.

Von unserem Land geht eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Mit bis zu 1,5 Million Menschen ist zu rechnen. Auch wenn Deutschland ökonomisch sehr stark ist, die Aufnahmekapazität ist nicht unendlich. Wir benötigen deshalb dringend eine geordnete Zuwanderung. Sowohl für die am Limit arbeitenden Behörden und die Bevölkerung, aber gerade auch die Flüchtlinge ist es ein untragbarer Zustand, wenn Abertausende unregistriert in Europa umherirren. Für deren Versorgung, ihre Unterbringung, die rasche Bearbeitung der Asylanträge und die Sicherheitslage in Europa ist eine schnelle und flächendeckende Registrierung der Schlüssel. Die Einrichtung sogenannter Hotspots in den Grenzstaaten ist daher absolut notwendig und richtig.

Von unserem Land geht eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Mit bis zu 1,5 Million Menschen ist zu rechnen. Wir benötigen deshalb dringend eine geordnete Zuwanderung.

Dabei ist die Einigung beim informellen Europäischen Rat Ende September ein erster Schritt in die richtige Richtung. Eine Verteilung wie von der EU-Kommission vorgeschlagen nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, Bevölkerungszahl und bereits aufgenommenen Flüchtlingen halte ich für sinnvoll. Schwieriger wird es, diese Verteilung auch wirklich umzusetzen. Nicht nur die Mitgliedstaaten müssen bereit sein, den Verteilungsschlüssel anzuwenden, sondern auch die Flüchtlinge. Schließlich will ein Großteil der zu uns Kommenden nach Schweden und Deutschland, aber nicht nach Ungarn oder in die Slowakei. Hierzu bedarf es eines klugen Anreizsystems und gemeinsamen europäischer Standards für Flüchtlinge, damit sie auch im ihnen zugewiesenen Land dauerhaft bleiben und nicht bei nächster Gelegenheit weiterreisen. Doch wenn wir jetzt Solidarität von unseren Partnern in der EU einfordern, dann müssen wir uns auch solidarisch gegenüber der Situation in Griechenland und Italien verhalten.

Mit dem umfangreichen Asyl-Gesetzespaket und der Einigung zwischen Bund und Ländern über wichtige Finanzierungsfragen sind wir ein gutes Stück weiter gekommen, um die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Aufnahmebereitschaft weiterhin hoch bleibt. Auch die personelle Neuordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge macht Hoffnung, dass die Anträge in Zukunft deutlich schneller und effizienter bearbeitet werden. Nur so können anerkannte Asylbewerber schnell Integrationsangebote erhalten, aber auch abgelehnte Asylbewerber zurückgeführt werden, um Aufnahmekapazitäten frei zu machen. Ansonsten schließe ich mich den Worten unseres Bundespräsidenten an: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“

Bei all den Herausforderungen, vor denen wir stehen, sehe ich gleichzeitig eine große Chance in der Zuwanderung. Bereits seit Jahren reden wir über einen bevorstehenden Fachkräftemangel und einen dramatischen Rückgang der Bevölkerung in vielen Regionen. Viele Menschen sind in den vergangenen Monaten zu uns gekommen, die bei gelungener Integration eine große Bereicherung sein können. Dabei dürfen Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Entscheidend ist, dass für diejenigen, die dauerhaft bei uns bleiben, sofortiger Spracherwerb, Schulbildung, berufliche Qualifizierung und Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Auch die Stärkung der Arbeit von Kulturdolmetschern und der Wohnungsbau für alle sind wichtige Bausteine.

Wir müssen die Gesellschaft mitnehmen, eine positive Stimmung erzeugen. Aber auch Sorgen und Nöte ernst nehmen. Denn die Zahl an Schutzsuchenden ist gewaltig auch für ein Land mit der Größe und Stärke von Deutschland. Heribert Prantl hat Recht, wenn er wie zuletzt in der Süddeutschen Zeitung schreibt, dass die Herausforderungen, mit denen sich Gesellschaft und Politik konfrontiert sehen, „mit bisherigen Erfahrungen nicht zu bewältigen sind.“ Nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Beteiligten werden wir das schaffen – ins Gelingen verliebt.