Herr Präsident, EU-Bashing feiert angesichts der anhaltenden Flüchtlingskrise fröhliche Urstände. Ist die Kritik an der europäischen Antwort auf die Krise gerechtfertigt?

Die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt, was passiert, wenn es weniger Europa gibt: Das Mittelmeer wird zum Massengrab, an den Grenzen spielen sich grauenhafte Szenen ab, es gibt gegenseitige Schuldzuweisungen - und bei all dem wird den Menschen, die in größter Not Schutz bei uns suchen, nicht geholfen. Das ist beschämend.

Angesichts der Flüchtlingsbewegungen stehen wir Europäer aber vor einer historischen Bewährungsprobe, die wir nur gemeinsam meistern können. Ein globales Problem können wir nicht national, im Alleingang lösen. Das wird nicht funktionieren. Sondern nur mit Solidarität nach innen und mit Solidarität nach außen. Daran hat es zuletzt gefehlt, mit dem Beschluss des Europäischen Parlaments und der Innenminister zur Verteilung von 160 000 Flüchtlingen und den Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs haben wir aber jetzt Schritte in die richtige Richtung gemacht.

In einigen europäischen Hauptstädten – und einer deutschen Landeshauptstadt – gilt Bundeskanzlerin Merkel als Mitverursacherin der Krise. Der konservative Spectator schreibt: Merkel habe sich das politische Äquivalent zu einer Open-House Party Ankündigung auf Facebook geleistet. Haben Sie für diese Auffassung Verständnis?

Nein, für derartigen Zynismus habe ich kein Verständnis. Wir reden hier von Menschen, die vor der Gewalt Assads oder des sogenannten Islamischen Staates flüchten, um ihr Leben zu retten. Deutschland leistet genau wie etwa Schweden, Österreich oder Italien Beachtliches. Und was die Menschen leisten, die auf Bahnhöfen, auf Märkten und an Grenzübergängen Wasser und Lebensmittel, Kleidung und Spielsachen an die Flüchtlinge verteilen, ist beispielhaft.

Vieles, was die Briten wollen, ist doch Konsens in Europa. Und das müssen wir auch so kommunizieren.

Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist gewaltig. Manche behaupten, es kämen zu viele Menschen nach Europa. Es sei gar nicht mehr zu bewältigen. Das Europäische Parlament ist jedoch davon überzeugt, dass sich die Aufgabe bewältigen lässt, wenn man sie gemeinsam anpackt.

In Sachen „Grexit“ verkündete die Bundeskanzlerin: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Nun warnt sie, die Flüchtlingskrise werde die europäische Politik noch weit stärker beschäftigen. Ist die Flüchtlingskrise eine existentielle Bedrohung für das europäische Projekt?

Was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, war ein Europa des nationalen Egoismus. Dieser nationale Egoismus droht unsere Union zu zerreißen. Wenn jeder eine Politik betreibt, die auf Kosten des anderen geht, dann wird das Europa zerstören.

Wir müssen eine Spaltung oder einen Bruch Europas um jeden Preis verhindern. Denn getrennt sind wir schwach. Aber vereint sind wir stark. Diese Lektion mussten wir während der Finanzkrise auf schmerzhafte Art lernen. Doch dieses Mal steht noch mehr auf dem Spiel. Ging es bei der Finanzkrise um Geld und um die Stabilität unseres Bankensystems, so geht es jetzt darum, Leben zu retten, und auch darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

In Großbritannien liegen Befürworter eines „Brexits“ in Umfragen erstmals vorne. Wie kann, wie muss Europa darauf reagieren?

Da bleibe ich erst einmal gelassen. Umfragen sind Momentaufnahmen, und bis zum Referendum ist es noch lange hin. Vieles, was die Briten wollen, ist doch Konsens in Europa. Und das müssen wir auch so kommunizieren. Wir alle wollen eine effizientere EU, eine EU, die liefert und das Leben der Menschen besser macht.

Ein wichtiger Bestandteil meines Europawahlkampfs 2014 war die Reform der EU. Die EU muss lernen sich zurückzunehmen. Sie soll nicht alles regeln, sondern sie muss sich auf das Wesentliche konzentrieren und die Dinge regeln, die sie besser macht als der Nationalstaat, etwa im Bereich der weltweiten Handelsbeziehungen, beim Kampf gegen die Spekulation, gegen Steuerflucht und gegen Steuervermeidung, bei der Bekämpfung des Klimawandels, im Bereich der Migrationsfragen oder bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Was wir nicht brauchen, sind langwierige Debatten über Vertragsänderungen. Wir sollten erst einmal schauen, was innerhalb der Verträge möglich ist.

Zumindest auf eine Antwort auf die Flüchtlingskrise können sich bislang Entscheidungsträger jeglicher Couleur verständigen: Die Fluchtursachen müssen bekämpft werden. Gehört dazu – wenn es denn einer friedlichen Beilegung des Konflikts in Syrien dient – auch eine Einladung des syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad nach Brüssel?

Unser Ansatz zur Lösung der Krise muss ein dreifacher sein: wir müssen uns für einen Waffenstillstand in Syrien einsetzen, wir müssen Jordanien, den Libanon und die Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen, und wir müssen die Flüchtlinge innerhalb Europas gerecht verteilen.

Klar ist: Solange der Krieg in Syrien andauert, werden Menschen weiterhin flüchten und nicht in der Lage sein, nach Hause zurückzukehren. Es muss dringend ein Waffenstillstand ausgehandelt werden. Und wir können auf einen frischen Erfolg unserer EU-Diplomatie bauen: den Abschluss einer internationalen Vereinbarung über das iranische Atomprogramm.

Mit dieser Vereinbarung bieten sich neue Möglichkeiten, um gemeinsam mit anderen Großmächten und einflussreichen regionalen Akteuren dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Dazu müssen alle relevanten Akteure eingebunden werden, so schwierig das auch sein mag.

 

Die Fragen stellte Michael Bröning.