Die ökonomischen Auswirkungen der Krise auf Griechenland sind gut dokumentiert. Die im Jahr 2008 einsetzende Rezession hat dazu geführt, dass das griechische BIP um ein Viertel schrumpfte, während die Arbeitslosigkeit auf über 27 Prozent anstieg. Auch Versuche einer finanziellen Konsolidierung haben viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein allgemeines  Regierungsdefizit von 15,6 Prozent im Jahr 2009 wurde im Jahr 2013 in einen kleinen Überschuss verwandelt. Dies war eine der schärfsten Anpassungen, die die Welt je gesehen hat.

Was jedoch oft unbemerkt bleibt, sind die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Menschen und ihr alltägliches Leben. Diese sozialen Kosten der Krise bleiben oft auch Besuchern und Beobachtern verborgen. Doch sie lauern hinter den Bildern anscheinend entspannt im Sonnenschein Kaffee trinkender Athener, oder hinter zumindest scheinbar sorgenfreien Inselbewohnern, die mit dem zweiten oder dritten Glas Ouzo anstoßen.

Wenn man Teile von Athen und anderen großen Städten außen vor lässt,  sind die Zeichen der Krise tatsächlich nicht immer so deutlich erkennbar. Vielleicht haben die häufigen Medienbilder von protestierenden oder randalierenden Demonstranten und über Armut dazu geführt, dass diese in unseren Gedanken abgespeicherten Bilder nun den Standard darstellen, anhand dessen wir beurteilen, ob Menschen durch eine Krise gehen oder nicht.

Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb die Anzeichen der Krise so trügerisch sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass die soziale Wirkung nur selten auf den öffentlichen Straßen, am Strand, in Cafés oder Restaurants beobachtet werden kann. Denn die Auswirkungen sind an den Orten am offensichtlichsten, die vor direkten Einblicken verborgen sind: Den Wohnzimmern, Büros, Fabriken, Krankenhäusern und in den tiefsten und dunkelsten Untiefen der Gedanken der Menschen. An diesen Orten ist die Krise sehr real und sehr verstörend.

Auswirkungen der Rezession in Griechenland

Die Rezession, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 einsetzte, hat zu enormen Belastungen für die griechische Gesellschaft geführt. Eine wachsende Zahl von Griechen ist sozial ausgeschlossen.

Nach den aktuellsten Zahlen der griechischen Statistikbehörde ELSTAT waren  34,6 Prozent der Griechen im Jahr 2012 von Armutsrisiko oder sozialem Ausschluss bedroht. Dies ist der höchste Anteil in der Europäischen Union. Im Jahr 2010, als die Krise ausbrach, stand diese Zahl bei 27,7 Prozent.

Die Daten zeigen auch, dass 19,5 Prozent der Griechen von umfassendem materiellem Mangel bedroht sind. Verglichen mit 8,6 Prozent in Portugal, 5,8 Prozent in Spanien und 2,3 Prozent in den Niederlanden ist dies bei weitem die höchste Rate in der Eurozone.

Das verfügbare Haushaltseinkommen im Land ist um mehr als 30 Prozent gesunken. Das bedeutet, dass heute sogar Selbstverständlichkeiten für viele griechischen Familien eine Herausforderung darstellen.

Eine Umfrage des Kleinunternehmerinstituts der Hellenischen Konföderation für Berufstätige, Handwerker und Händler (IME-GSEVEE) verweist darauf, dass etwa ein Drittel der griechischen Haushalte (34,8 Prozent) in ihren Zahlungen an den Staat, an Banken, Sozialversicherungen oder an andere öffentliche Einrichtungen im Rückstand stehen. Mehr als 40 Prozent (41,7) werden ihren finanziellen Verpflichtungen in diesem Jahr nicht nachkommen können. In der Konsequenz stellen die griechischen Elektrizitätswerke jeden Monat 30.000 Häusern und Geschäften den Strom ab.

Die größte Sorge: Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist im Augenblick sicher die größte Sorge Griechenlands. In den vergangenen vier Jahren ist die Zahl der Arbeitslosen um mehr als 150 Prozent gestiegen. In der Konsequenz müssen aktuell circa 3,5 Millionen Beschäftigte mehr als 4,7 Millionen Arbeitslose finanziell unterstützen. Es gibt keine Wirtschaft und keinen Arbeitsmarkt der Welt, die so eine Situation lange durchhalten könnte. Und erst recht nicht, ohne dass diese Belastungen für die Gesellschaft sichtbar werden.

Arbeitslosigkeit ist auch deshalb ein Schlüsselfaktor, weil sie eine große Zahl von Griechen dem Risiko des sozialen Ausschlusses aussetzt. 52 Prozent der Männer ohne Arbeit drohen in Armut zu rutschen. Aber auch diejenigen in Beschäftigung sind nicht immer wirklich abgesichert. Mehr als 47 Prozent der in Teilzeit Beschäftigten sind nach wie vor von Armut bedroht. Und das Gleiche betrifft sogar 13,4 Prozent derjenigen, die in Vollzeitbeschäftigung stehen. Hier muss auch darauf hingewiesen werden, dass circa einer von vier griechischen Arbeitern Gehälter nicht rechtzeitig erhält, sondern zum Teil mehrere Monate auf die Bezahlung warten muss.

Für all diejenigen ohne Beschäftigung ist das Fehlen einer umfassenden Wohlfahrtsvorsorge ein enormes Problem. Arbeitslose erhalten pro Monat lediglich 360 € - allerdings nur für die ersten zwölf Monate, in denen sie ohne Beschäftigung sind. Das führt dazu, dass nur 15 Prozent der 1,4 Millionen arbeitslosen Griechen aktuell tatsächlich finanzielle Unterstützung vom Staat erhält. Hinzu kommt, dass bislang kein Sicherheitsnetz für Selbstständige existiert, die immerhin bis zu 25 Prozent des griechischen Arbeitsmarktes ausmachen. Die Regierung hat nun ein System vorgeschlagen, nachdem Selbstständige in den ersten neun Monaten 360 € pro Monat erhalten – sofern sie zuvor 15 Jahre Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben.

Ausgabenkürzungen

Einschnitte in den öffentlichen Ausgaben haben dazu beigetragen, dass mehr und mehr Griechen den Auswirkungen der Krise schutzlos ausgeliefert sind. Ohne Sozialtransfers wäre etwa die Hälfte der griechischen Bevölkerung von Armut bedroht. Doch die Sozialausgaben sind in den vergangenen Jahren stark beschnitten worden. Sozialtransfers wurden zwischen 2012 und 2013 um 6,8 Prozent reduziert. Sie sollen weiter verringert werden: Von 17 Milliarden € im Jahr 2013 auf 14 Milliarden € in diesem Jahr. Das entspricht einer Reduzierung von mehr als 18 Prozent.

Doch Griechen haben nicht nur eingeschränkt Zugang zur Arbeitslosenunterstützung. Sie werden auch von unentgeltlicher oder subventionierter Gesundheitsvorsorge abgeschnitten. Denn die steht den meisten arbeitslosen Griechen nur zwei Jahre lang zu. Im Jahr 2011 zahlte Griechenland 11,6 Prozent seines Budgets für Gesundheitsdienstleistungen (verglichen mit einem Durchschnitt in der OECD von 14,5 Prozent). Die pro-Kopf Ausgaben für Gesundheit wurden zwischen 2009 und 2011 um 11,1 Prozent reduziert. Dies ist der größte Einschnitt aller OECD-Staaten.

In diesem Zeitraum sind die Zahlen der HIV-Fälle, der Tuberkulose-Erkrankungen und die Anzahl von Stillgeburten beträchtlich gestiegen. Die Nachfrage nach psychologischer Betreuung ist um mehr als 100 Prozent angestiegen. Einer Studie der Universität Athen zufolge leiden 12,3 Prozent der Griechen unter klinischen Depressionen. 2008 waren dies lediglich 3,3 Prozent.

Ein aktueller Bericht von Wissenschaftlern der Universitäten Oxford und Cambridge, der in der britischen Fachzeitschrift The Lancet erschienen, wirft der griechischen Regierung vor, den Einfluss der Austeritätspolitik auf dem Gesundheitssektor zu „leugnen“.

Familie und Almosen

Beschäftigungsmangel und das Zusammenkürzen sozialer Dienstleistungen haben zur Folge, dass sich viele Griechen nur auf das Sicherheitsnetz der Familie verlassen können.

Die oben erwähnte Studie von IME-GSEVEE verweist darauf, dass für 48,6 Prozent der Familien Renten und Pensionen die Haupteinnahmequelle darstellen. Die durchschnittliche Grundrente in Griechenland liegt knapp unter 700 € pro Monat. Seit 2010 ist sie um 25 Prozent reduziert worden und soll in den kommenden Jahren halbiert werden.

Spenden und freiwilligen Helfer sind daher mittlerweile für viele Griechen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind, lebenswichtig geworden.

Die Stadt Athen etwa versorgt jeden Tag circa 1400 Personen mit Lebensmitteln, während Ärzte mehr als 4000 Patienten jedes Jahr in einer Freiwilligen-Klinik in Elliniko im Süden Athens unentgeltlich versorgen.

Daneben existieren zahllose andere Programme, die von Individuen oder Gruppen organisiert werden, um Mitbürgern zu helfen. Dieses von Familienmitgliedern, Freiwilligen und wohltätigen Organisationen gespannte Sicherheitsnetz ist der Hauptgrund dafür, dass die Schwierigkeiten der griechischen Gesellschaft auf der Oberfläche nicht so dramatisch erscheinen mögen.

Tatsächlich ist das Erwachen dieses Solidaritätsgeistes der einzige Hoffnungsschimmer in der sozialen Einöde, die durch die griechische Krise ausgelöst worden ist. Doch sollten wir uns nicht in die Irre führen lassen: All das ist nicht mehr als ein einziger heller Fleck in einer sozialen Landschaft, die sehr viel dunkler ist, als das für ein entwickeltes europäisches Land akzeptabel ist.

 

Dieser Text ist Teil eines Vortrags, der am 12. März in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin unter der Überschrift „Die soziale Krise der EU: Wer trägt die Kosten?“ gehalten wurde. Weitere Informationen über die Krise in Griechenland finden Sie unter: www.macropolis.gr