Der Optimismus für eine Reform der EU und vor allem der Eurozone scheint in diesen Tagen mit Händen greifbar. Doch während „Fake News“ in den USA vor immer weniger wissenschaftlichen Erkenntnissen Halt macht, droht Europa eine technokratische Renaissance, die zutiefst politische Fragen mit vermeintlich objektiver Expertise beantworten will. Stattdessen braucht die Eurozone eine verstärkte politische Steuerung, ergänzt um technische Maßnahmen, die das bisherige System verbessern.
Das Dilemma der EU und der Eurozone besteht darin, dass sie im Moment nicht mehr als die Summe ihrer Einzelteile ergibt. Das sollte sie aber, denn genau davon hängt die Sicherung des europäischen Gemeinwohls ab.
Es ist fraglich, ob noch mehr automatische Mechanismen und Expertenräte wirklich die Antwort auf die politischen Herausforderungen unserer Zeit geben können.
Nun aber kommt Bewegung in die Debatte um die Reform der Eurozone, die hoffen lässt, dass genau dieses Problem adressiert wird. Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Ansätze immer deutlicher ab. Die Reformvorschläge des ersten Ansatzes wollen die Funktionsweise der Währungsunion durch mehr oder weniger technische Mittel verbessern.
Der technische Weg
Besonders weit entwickelte Reformvorschläge, die diesem Ansatz zuzurechnen sind und für einiges Aufsehen gesorgt haben, wurden gerade von einer Gruppe führender französischer und deutscher Ökonomen vorgelegt. Das Argument besteht darin, dass bestimmte Instrumente der Risikoteilung auf europäischer Ebene nur in Kombination mit Marktmechanismen richtig funktionieren können. So schlagen sie zum Beispiel im Bereich der Fiskalpolitik einfachere, aber auch strengere Fiskalregeln vor, deren Einhaltung durch die Mitgliedstaaten von unabhängigen Experten überwacht werden soll. Das fiskalpolitische Instrument der Risikoteilung soll in Form einer Rückversicherung die Mitgliedstaaten vor großen wirtschaftlichen Schocks schützen, greift aber nur dann, wenn objektiv überprüfbare Bedingungen erfüllt sind.
Dieser kurze Auszug aus einer langen Liste von Vorschlägen zeigt, dass hier die Eurozone vor allem durch rechtlich verbriefte Regeln, die Kontrolle durch unabhängige Experten sowie durch eine Reihe von Mechanismen der Risikoteilung, die Transferzahlungen unterbinden und Marktmechanismen stärken, weiterentwickelt werden soll. Explizit nicht thematisiert werden von den Autoren Vorschläge, deren Funktion von „politischen Entscheidungen“ abhängt, wie zum Beispiel ein Eurozonen-Budget. Auch ein Europäischer Finanzminister soll nur dann eingeführt werden, wenn die Kontrolle der Einhaltung der Fiskalregeln unabhängig und institutionell getrennt erfolgt.
Politische Steuerung der Eurozone
Im Gegensatz zu diesem Ansatz gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die versuchen, europäische Gemeinschaftsgüter durch mehr politische Steuerung der Eurozone zu schützen. Dazu zählt zum Beispiel der des französischen Ökonomen Thomas Piketty, der zusammen mit einigen Kollegen eine Regierung für die Eurozone und ein Eurozonen-Parlament fordert. Ähnlich gerichtet, wenn auch etwas weniger ambitioniert, sind Forderungen nach einer demokratischen Debatte über die Neu-Besetzung des EZB-Direktoriums, die auch vom deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger unterstützt werden. Anders als im zuvor diskutierten Ansatz wird hier bewusst die Politisierung unabhängiger Institutionen gefordert.
Von politischer Seite ist es vielleicht der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich in seiner Sorbonne-Rede am deutlichsten für einen politischen Ansatz ausgesprochen hat: „Ein Haushalt [der Eurozone] kann nur einhergehen mit einer starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen Minister und eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene.“ Damit würde die Eurozone einen wichtigen Schritt hin zu einer politischen Union gehen.
Beide Ansätze haben Schwachstellen
Das Problem bei einer verstärkten politischen Steuerung der Eurozone ist, dass sich die dafür notwendige demokratische Kontrolle auf europäischer Ebene nicht einfach realisieren lässt. Ein europäischer Finanzminister müsste zum Beispiel von einer Eurozonen-Kammer im Europäischen Parlament effektiv kontrolliert werden, damit sich seine politischen Entscheidungen überhaupt rechtfertigen lassen. Der europäischen Demokratie aber fehlt immer noch ein „europäischer Demos“. Denn demokratische Legitimation erfolgt zum allergrößten Teil über nationale Parlamente und das wird auch erstmal so bleiben.
Auf der anderen Seite steht der eher technische Ansatz. Diese Vorschläge adressieren zwar eine Reihe der Schwachstellen in der bisherigen Governance der Eurozone. Das Grundproblem, dass sich europäische Güter auch durch ausgefeilte Regelwerke im Kontext national gewählter Politiker nur bedingt schützen lassen, bleibt jedoch bestehen. Noch problematischer ist allerdings, dass diese Ansätze oft unterstellen, dass eine „objektive“ Governance der Währungsunion in zentralen Aspekten überhaupt möglich ist. Aber funktionieren Marktmechanismen tatsächlich immer nach rein technischen Prinzipien? Man denke nur an die Frage, was eine nachhaltige Verschuldung in welchem Kontext und für wen ist, oder an die Frage, was Strukturreformen in welchem Kontext und für wen sind.
Wie kann es weitergehen?
In den letzten knapp zehn Jahren Euro-Krisenpolitik wurden viele wirksame Mechanismen für die Steuerung der Eurozone eingeführt. Sie zeigen aber auch, dass die Governance basierend auf Regeln und zwischenstaatlicher Abstimmung an ihre Grenzen stößt. Es ist fraglich, ob noch mehr automatische Mechanismen und Expertenräte wirklich die Antwort auf die politischen Herausforderungen unserer Zeit geben können.
Vielmehr scheint der Zeitpunkt gekommen, die politische Steuerung der Eurozone zu stärken. So ist Berlin zum Beispiel zu höheren Zahlungen, Frankreich zu mehr gemeinsamen Kompetenzen bereit. Es wäre geradezu fahrlässig, diese Chance für eine im Kern technokratische Reform der Eurozone zu vertun.
Natürlich werden aber durch mehr politische Steuerung die erwähnten Grundprobleme der Gemeinschaft nicht automatisch gelöst. Deshalb sollte zum Beispiel eine gemeinsame Fiskalkapazität in Form eines Eurozonen-Budgets, das zum Beispiel durch eine Haushaltslinie im EU-Haushalt eingerichtet werden kann, nicht nur für mehr Investitionen genutzt werden, sondern eben auch Anreize für nationale Reformbestrebungen setzen.
Und warum sollte über eine verstärkte Koordinierung nationaler Reformen und einen kleinen Teil des gemeinsamen Budgets nicht ein Europäischer Wirtschafts- und Finanzminister entscheiden? Rechtlich ist das bereits heute ohne größeren Aufwand möglich. Und auch das Interesse an seiner demokratischen Kontrolle und damit auch seine politische Legitimation nimmt in dem Moment zu, wo er oder sie auch tatsächlich „etwas zu sagen“ hat, zum Beispiel bei Investitionsentscheidungen oder Haushaltshilfen in kleinerem Umfang.
Europäische Institutionen werden so mittel- und langfristig ein Interesse entwickeln, nicht nur das Geld der Mitgliedstaaten auszugeben, sondern eben auch auf die Einhaltung gemeinsamer Fiskalregeln zu achten. Bis es so weit ist, braucht es aber auch die Weiterentwicklung des technischen Instrumentariums für die Einhaltung von Regeln. So können Reformfortschritte für eine stärker politische Steuerung sinnvoll um einige der hier benannten technischen Vorschläge ergänzt werden. Das allerdings sollte die Reihenfolge sein – und nicht umgekehrt.