Die Lage Griechenlands bleibt verworren: Ist das Land insolvent? Befindet es sich in einem Reformprozess? Oder verweigert Athen alle Reformvorschläge? Haben die europäischen Partner und die nun als „Institutionen“ bezeichneten Hauptgläubiger IWF und EZB nun andere Vorstellungen, Anforderungen und Vorschläge als die Griechen? „We agreed to disagree“, verkündete Finanzminister Schäuble. Oder aber eben nicht. „We did not even agree to disagree“, widersprach der griechische Finanzminister Varoufakis.

Wie dem auch sei, die Fakten sind: Ausgelöst von der Weltfinanzkrise nach 2008 hat sich Griechenland vom Land mit den höchsten realen Wirtschaftswachstumsraten in der Eurozone (zusammen mit Irland) und dem höchsten Wachstumspotential 2005 (laut OECD) zum kranken Mann der Eurozone entwickelt. Nirgendwo sonst in der Eurozone war der Wachstumseinbruch nach 2008 so tief und langanhaltend wie dort. Es erscheint wenig verständlich, dass das Land in so kurzer Zeit so massive Strukturprobleme entwickelt haben soll, dass plötzlich tiefgreifende Reformen in allen Wirtschaftsbereichen notwendig werden. Zumal es sich bei den „Reformen“ um die üblichen angebotspolitischen Maßnahmen handelt, die traditionelle Ökonomen bei krisenhaften Entwicklungen noch jedes Mal angemahnt haben.

Fakt ist aber natürlich auch, dass Griechenland die höchste Schuldenstandsquote in der Eurozone aufweist. Und dies nicht erst seit die Neuverschuldung im Zuge der Weltfinanzkrise auf 2-stellige Werte hochschnellte, sondern bereits in den ersten Jahren der 2000er. Damals war es Griechenland (neben Deutschland) als einzigem Land in der Eurozone trotz günstigem Wachstumsumfeld nicht gelungen, seine in den 1990er Jahren betriebene Haushaltskonsolidierung fortzusetzen. Ob allerdings diese finanzpolitischen Versäumnisse der Vergangenheit, kombiniert mit fehlerhaften Schuldenmeldungen im Zuge des europäischen Defizitverfahrens tatsächlich die wesentlichen Ursachen sind, weshalb Griechenland sich seit Ausbruch der Weltfinanzkrise nur noch zu prohibitiv hohen Zinssätzen auf den internationalen Finanzmärkten verschulden kann, muss äußerst fraglich bleiben.

Wenn es so wäre, wäre kaum nachvollziehbar, weshalb den Finanzmarktakteuren die Nicht-Nachhaltigkeit der griechischen Finanzpolitik – mit der Konsequenz der mittelfristigen Insolvenz – erst ab 2008 aufgefallen sein soll. Wahrscheinlicher ist, dass Griechenland nicht in erster Linie für seine Finanzpolitik vor, während und nach der Weltfinanzkrise mittels Risikoprämienaufschlägen bestraft wird, sondern für die Gefahr des Auseinanderfallens der Eurozone. Die aber ist ein kollektives Problem der Eurozone und kann nicht den Griechen allein angelastet werden.

Bei einem möglichen Grexit könnten die griechischen Gläubiger tatsächlich eine massive Entwertung ihrer Vermögenswerte erwarten. Das rechtfertigt eine hohe Risikoprämie, die Griechenland selbst aber kaum beeinflussen kann.

Die Gewährung von Finanzhilfen an Griechenland durch die „Institutionen“ entspricht also keiner mildtätigen Solidarität, sondern kollektiver Rationalität innerhalb einer unvollendeten Währungsunion, die auf die Größe der Herausforderungen der Weltfinanzkrise nicht vorbereitet war.

 

Recht und Pflicht von Konditionen

Zweifellos haben Gläubiger das Recht (und auch die Pflicht), die Gewährung von Finanzhilfen an Konditionen zu binden. Fraglich ist nur, ob die Konditionen, an die die Institutionen die Gewährung ihrer ersten beiden Hilfsprogramme gebunden haben, zielführend waren. Aus Sicht der Gläubiger muss das Ziel darin bestehen, Griechenland in die Lage zu versetzen, seinen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern nachzukommen. Aus Sicht Griechenlands muss es darüber hinaus darum gehen, dieses Ziel in einer Weise zu erreichen, die demokratisch vermittelbar ist. Tatsächlich muss in beiden Hinsichten – Zielführung und demokratische Legitimation – die bisherige Politik als gescheitert angesehen werden. Weshalb halten die Institutionen dennoch unbeirrt daran fest?

Obwohl Griechenland Haushaltskonsolidierungsprogramme in historisch einmaliger Größenordnung umgesetzt hat, ist es bislang nicht gelungen, den Anstieg der Schuldenstandsquote zu stoppen. Und dies nicht etwa, weil die Regierungen Griechenlands die Konditionen nicht erfüllt hätten. Natürlich sind hunderttausende von öffentlichen Bediensteten entlassen worden, wurden die Sozialausgaben drastisch gekürzt und, vollkommen unsinnig, die öffentlichen Investitionen mehr als halbiert. Schon im Jahr 2012 lag die strukturelle Neuverschuldung Griechenlands nur noch bei 0,6 Prozent des BIP (nach 9,8 Prozent im Jahr 2010 und 4,3 Prozent in Frankreich im selben Jahr). Die Maßnahmen aber haben, wie von Kritikern befürchtet, das Wirtschaftswachstum derart geschädigt, dass die konjunkturelle Komponente der Neuverschuldung emporschnellte und die Konsolidierung verhinderte. Die Begleiterscheinungen – extremer Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Unterversorgung – wurden billigend in Kauf genommen, aber verständlicherweise von den griechischen Wählern abgestraft. Die neue Regierung Griechenlands ist nicht befugt, einem dritten Hilfsprogramm zuzustimmen, das der alten schiefen Logik „Geld gegen Austerität“ folgt.

Statt des Palavers über ein „neues griechisches Wachstumsmodell“ muss endlich Schluss sein mit der Unsicherheit über den Verbleib Griechenlands in der Eurozone.

Gibt es denn eine Alternative? Natürlich, wenngleich bereits viel Zeit und Geld verloren wurde. Griechenland ist nicht insolvent, sondern nur illiquide. Es bedarf keiner Schuldenschnitte, die den künftigen Zugang zum internationalen Kapitalmarkt endgültig verbauen würden. Tatsächlich nämlich ist die Zinslast der gegenwärtigen Verschuldung keineswegs untragbar hoch – weder im historischen noch im Ländervergleich. Natürlich muss mittelfristig die Steuereffizienz und -gerechtigkeit gestärkt werden. Darüber scheint es zwischen „Institutionen“ und griechischer Regierung auch keinen Dissens zu geben. Die gegenwärtige Illiquidität muss aber durch weitere Hilfszusagen oder die einfache und endgültige Feststellung der EU-Regierungschefs überwunden werden, dass ein Auseinanderfallen der Eurozone nicht zur Diskussion steht. Ist diese Ankündigung glaubwürdig, würden die Zinssätze auf griechische Staatsschulden augenblicklich auf erträgliches Niveau purzeln. Die unabdingbare Konsolidierung des öffentlichen Haushaltes kann aber demokratisch legitimiert nur erfolgen, wenn Austeritäts- gegen Wachstumsmaßnahmen eingetauscht werden: Wirtschaftswachstum ist die Grundlage der Konsolidierung, nicht etwa die Konsolidierung die Grundlage für Wachstum.

Im westlichen Wirtschaftssystem sind es in erster Linie die privaten Investoren, die Wachstumsimpulse setzen können. Die Regierungen können dies nur unterstützen bzw. initiieren: Statt des Palavers über ein „neues griechisches Wachstumsmodell“ muss endlich Schluss sein mit der Unsicherheit über den Verbleib Griechenlands in der Eurozone. Wenn dann noch die finanziellen Bedingungen geschaffen werden, mit denen die Wirtschaftspolitik die Binnennachfrage stützt, könnte ein Entwicklungsumschwung eingeleitet werden. Und zwar ohne vorher den sozialen Kahlschlag und den weiteren Abbau von Arbeitnehmerrechten durchgesetzt zu haben. Wenn dies im Rahmen der restriktiven finanzpolitischen Vorgaben durch die EU auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist, dann ist hier ganz konkret die supranationale EU-Ebene gefordert. Voraussetzung hierfür aber ist, dass Kahlschlag und der weitere Abbau von Arbeitnehmerrechten nicht die eigentlichen Ziele der „Institutionen“ sind.