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„Die Welt schaut auf uns“ – mit diesem Satz begann ich meinen Redebeitrag vor dem EU- Parlament, als dort über den mit Spannung erwarteten Europäischen Aufbauplan debattiert wurde. Mit ein paar Wochen Verspätung – der Europäische Rat hatte eine Frist bis zum 23. April gesetzt – legte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen endlich eine klar strukturierte und ambitionierte Strategie zur Wiederankurbelung der Wirtschaft in der EU vor. Diese Strategie beinhaltet ein neues Aufbauinstrument namens „Next Generation EU“, einen überarbeiteten Mehrjährigen Finanzplan, ein angepasstes Arbeitsprogramm und weitere Maßnahmen zur Abmilderung der gravierendsten Folgen der Covid-19-Pandemie.

Außerdem sollen die gesundheitspolitische Agenda der EU gestärkt und ihre zentralen Forschungsprogramme erheblich intensiviert werden. Dieses Maßnahmenpaket wird derzeit von den Mitgesetzgebern – also dem EU-Parlament und dem Rat – geprüft und muss dann noch beim nächsten EU-Ratstreffen am 18. Juni von den Staats- und Regierungschefs abgesegnet werden.  

Die Welt schaut auf uns und ist gespannt, ob unsere Union, die auf dem Rechtsstaatsprinzip und einem einzigartigen Sozialmodell beruht, die aktuelle Krise überstehen wird. Auf dem Spiel steht nicht nur Europas wirtschaftlicher Wohlstand, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Sie ist in dieser besonderen historischen Situation gefordert, sich mächtig ins Zeug zu legen und Führungsstärke, visionäre Kraft, Verantwortungsbewusstsein und Solidarität zu zeigen. 

Der Kommissionsvorschlag ist qualitativ und quantitativ ein bedeutender Schritt nach vorne, wie es ihn in der Geschichte der Europäischen Union noch nie gegeben hat, und nach dem zuletzt oft ernüchternden Bild, das die EU als Krisenmanager abgegeben hat, auch durchaus eine Überraschung. 

Der Kommissionsvorschlag ist qualitativ und quantitativ ein bedeutender Schritt nach vorne, wie es ihn in der Geschichte der Europäischen Union noch nie gegeben hat.

Das Konjunkturpaket „Next Generation EU“ soll die öffentlichen und privaten Investitionen ermöglichen, mit denen nach dem heftigen symmetrischen Schock die Realwirtschaft gestützt werden muss. Dies ist umso wichtiger, als dieser symmetrische Schock, den die Pandemie für die ganze Welt bedeutet, sich innerhalb der EU asymmetrisch auswirken wird, wenn die nationalen Regierungen ihre politischen und vor allem ihre fiskalpolitischen Gegenmaßnahmen nicht aufeinander abstimmen. Schließlich gibt es zwischen den EU-Mitgliedstaaten nach wie vor tiefgreifende makroökonomische Divergenzen, die sich durch ein unkoordiniertes Vorgehen noch weiter verschärfen würden. Die Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes war mit Sicherheit notwendig, um angesichts der Gesundheitskrise die Liquiditätsversorgung der Mitgliedstaaten zu sichern.

Die Entscheidung, „zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben“ die EU-Beihilferegeln zu lockern, war auf der einen Seite ebenfalls eine notwendige Sofortmaßnahme. Auf der anderen Seite ist sie aber keine tragfähige Dauerlösung. Um die Größenordnung deutlich zu machen: Von den Staatshilfen im Gesamtwert von rund zwei Billionen Euro, die von der Kommission bewilligt wurden, entfallen fast die Hälfte auf Deutschland – mehr als doppelt so viel wie auf Italien oder Frankreich.

Das Problem: Wenn die Möglichkeiten der EU-Mitgliedstaaten, mit Staatsgeldern zu intervenieren, dermaßen unterschiedlich sind, führt dies zu erheblichen Schieflagen und Verzerrungen im EU-Binnenmarkt und unterbricht die für Industrie und Handel wichtigen Wertschöpfungsketten. Das schadet der EU-Wirtschaft insgesamt. Letztlich verdüstern sich dadurch auch die wirtschaftlichen Perspektiven für die Länder mit höheren Staatsschulden – vor allem deswegen, weil sie infolge der höheren Spreads mehr Zinsen für ihre Kredite zahlen müssen. Dadurch wächst die Ungleichheit noch weiter – sowohl in den einzelnen EU-Ländern als auch zwischen ihnen.  

Deshalb braucht es dringend einen europäischen Aufbauplan, der auf Gemeinschaftlichkeit basiert, wie ihn das Europäische Parlament und eine von Italien, Frankreich und Spanien angeführte Koalition von neun Ländern vor der Ratssitzung im März in einem Brief an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel gefordert hatten. In diese Richtung ging später auch der stärker zielgerichtete deutsch-französische Vorstoß, der sicherlich dem Vorschlag der Kommission den Weg ebnete. 

Von den Staatshilfen im Gesamtwert von rund zwei Billionen Euro, die von der Kommission bewilligt wurden, entfallen fast die Hälfte auf Deutschland.

Nun muss vor allem beurteilt werden, ob das Maßnahmenpaket wirksam dafür sorgen kann, dass die Rezessionsrisiken in Europa bis zu einem gewissen Grad von der Gemeinschaft geschultert werden. Vor dem Hintergrund, dass für die sparsamen Nordländer die Vergemeinschaftung von Staatsschulden ein Tabu und politisch inakzeptabel ist, erscheint der Vorschlag der Kommission als tragfähiger politischer Kompromiss.

Er sieht vor, mit Garantien aus dem EU-Haushalt abgesicherte Gemeinschaftsanleihen auszugeben und die dadurch ermöglichten Finanzhilfen in Form von Zuschüssen zu gewähren. In Kombination mit dem Vorhaben, die aufgebrachten Mittel mit neuen Eigenmitteln zurückzuzahlen, erscheint mir der Aufbauplan als glaubwürdiger Kompromiss, der die richtige Botschaft in die Welt sendet. 

Die Auszahlung der Mittel wird mit nationalen Aufbauplänen verknüpft. Dahinter steckt ein radikal anderes Konzept als das Modell, das man in der Krise 2012 mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gewählt hat und das auf einer zwischenstaatlichen Vereinbarung basierte. Das jetzt vorgeschlagene zielorientierte Konzept unterscheidet sich sehr stark von dem 2012 praktizierten Vorgehen und soll bewirken, dass die einzelnen Mitgliedstaaten in Ökologie, Nachhaltigkeit, den digitalen Wandel und die Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaften investieren. Die Verknüpfung mit dem Europäischen Semester – dem wirksamsten Konvergenzinstrument auf EU-Ebene – würde, wenn sie passgenau auf die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte abgestimmt wird, außerdem die soziale Aufwärtskonvergenz fördern. 

Beim kommenden EU-Ratsgipfel im Juni sind jetzt mutige Entscheidungen gefragt, denn bei der Ausgestaltung des Aufbauplans sind in den kommenden Monaten noch dicke Bretter zu bohren – insbesondere die Überarbeitung des Mehrjährigen Finanzplans, die Frage der neuen EU-Eigenmittel (eine absolute Schlüsselfrage, bei der es insbesondere darum geht, ein für alle Mal die Abhängigkeit vom System der nationalen Beiträge zu beenden) und die Verordnung zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität. Es gilt die Wirtschaft zu retten und ein politisches Projekt zu verwirklichen – die Europäische Union. Uns steht also ein heißer Sommer bevor.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld