Herr Präsident, seit Ende des Jahres dreht sich in Europa einiges um Investitionen. Doch reichen die Schritte – etwa das aktuelle Arbeitsprogramm der Kommission – aus?

Eines vorweg: Nachhaltige Haushaltssanierung ist zwingend erforderlich. Das bezweifelt ernsthaft auch niemand. Jahrelang hieß es jedoch, wir müssten nur die Haushalte sanieren, und schon kommen die Investoren von ganz allein. Dies war offensichtlich nicht der Fall. Die einseitige Kürzungspolitik hat zu dramatischen Verwerfungen in vielen Ländern geführt. Jetzt endlich ist die die Erkenntnis da, dass wir einen intelligenten Politikmix aus Haushaltskonsolidierung, strukturellen Reformen und Zukunftsinvestitionen brauchen, der zu nachhaltigem Wachstum führt.

Wir brauchen einen intelligenten Politikmix aus Haushaltskonsolidierung, strukturellen Reformen und Zukunftsinvestitionen.

Ohne Investitionen kein Wirtschaftswachstum und keine Beschäftigung. Und ohne Beschäftigung keine Sanierung der Haushalte. Das propagiert das Europäische Parlament seit langem. Ich bin froh, dass die Juncker-Kommission dies erkannt hat und mit ihrem 315 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm hier einen wichtigen Schritt getan hat, der Europa weiterhelfen wird.

Die Staats- und Regierungschefs beraten sich im Februar zur Frage der „Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion“. Was erwarten, was erhoffen Sie sich?

Die dramatische Krise, die Europa in den vergangenen sechs Jahren durchlebt hat, zeigt eindeutig, dass wir an einer Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht vorbeikommen, wollen wir in Zukunft gefährliche Turbulenzen oder gar ein Scheitern unserer gemeinsamen Währung verhindern. Die EU hat bereits wichtige und richtige Schritte getan, etwa die Schaffung der Bankenunion. Aber vieles, das beschlossen wurde, geschah durch den Druck der Ereignisse und blieb oft auch Stückwerk. Auf Dauer wird eine gemeinsame Währung ohne eine koordinierte Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht funktionieren können.

Auf Dauer wird eine gemeinsame Währung ohne eine koordinierte Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht funktionieren.

Wir können nicht eine gemeinsame Währung haben, aber weiterhin 19 rein nationale Politiken betreiben. Die Krise hat uns allen drastisch vor Augen geführt, dass spanische eben nicht nur spanische, irische eben nicht nur irische oder deutsche eben nicht nur deutsche Politik ist, sondern uns alle betrifft und Folgen hat für jedes Mitglied der Währungsunion.

Bekanntlich ist das nicht die einzige Krise. In den vergangenen Tagen hat sich die Lage in der Ukraine wieder verschärft. Ist jetzt der Zeitpunkt, die Sanktionen gegen Russland zu lockern?

Die EU-Außenminister haben ja gerade beschlossen, die Sanktionen beizubehalten. Ich halte das auch für richtig. Das Problem ist doch: Russland als permanentes Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist verpflichtet, das internationale Völkerrecht zu verteidigen. Was es macht, ist, es permanent zu brechen. Der Schaden, der daraus für die Weltordnung entsteht, ist dramatisch.

Solange dies so weitergeht, kann Russland kein Partner sein. Die russische Regierung muss endlich wieder Vertrauen zurückgewinnen. Wladimir Putin muss die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer innerhalb der eigenen Grenzen garantieren. Außerdem muss er zu einem vernünftigen Abkommen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bereit sein. Wenn all das geschieht, wird man über eine Lockerung der Sanktionen reden können.

Wie kann eine weitere Eskalation in den Beziehungen zu Moskau verhindert werden?

Indem wir eine Binsenweisheit beherzigen: Es ist besser miteinander, als immer nur übereinander zu reden. Bei allen Konflikten, Problemen und unterschiedlichen Auffassungen dürfen wir die Tür für den Dialog nicht zuschlagen. Wir müssen gesprächsbereit und -fähig bleiben. Funkstille hilft niemandem. Und verbale Eskalation schon gar nicht.

Die Flüchtlingspolitik bleibt umstritten. Wie kann Europa hier künftig an einem Strang ziehen? Und was ist von den aktuellen Vorschlägen zu halten, die Freizügigkeit einzuschränken?

Die Freizügigkeit ist eine der Grundfreiheiten der EU, ihre Einschränkung steht nicht zur Debatte und wäre auch der völlig falsche Weg. Kein einziges Problem würde dadurch gelöst, im Gegenteil: Der Schaden, wenn Menschen an Grenzen kontrolliert würden und direkt daneben rauschen die Lkws unbehelligt über die Grenze, wäre immens.

Wir brauchen in der EU endlich eine gemeinsame Flüchtlings- und Migrationspolitik. Darüber reden wir seit 20 Jahren, und nichts geschieht.

Ganz abgesehen davon, sind bereits heute Einschränkungen durchaus erlaubt, insofern wird hier eine populistische Debatte geführt, die unnütz und schädlich ist. Zur Flüchtlingspolitik: Wir brauchen in der EU endlich eine gemeinsame Flüchtlings- und Migrationspolitik. Darüber reden wir seit 20 Jahren, und nichts geschieht. Europa muss sich als ein Kontinent begreifen, der vor einer Herausforderung steht, die wir gemeinsam meistern müssen. Deswegen ist es gerecht und richtig, dass alle europäischen Länder ihren Beitrag leisten, wenn es um die Aufnahme von Menschen geht, die bei uns Schutz suchen. Wir haben es hier mit einem europäischen Problem zu tun, das nach einer europäischen, solidarischen Lösung verlangt. Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas ist der richtige Weg.

In der kommenden Woche jährt sich zum 70. Mal die Befreiung von Auschwitz. Welche Lehre, welchen Auftrag, leiten Sie in diesen krisengeschüttelten Tagen aus dem Vermächtnis der Opfer ab?

Auschwitz war der zentrale Ort des organisierten Massenmordes, des schlimmsten Zivilisationsbruchs der Menschheitsgeschichte. Die persönliche Schuld mögen die Täter mit ins Grab genommen haben. Aber die Verantwortung, den Schwur „Niemals wieder“ einzulösen, tragen wir als nachkommende Generationen für alle Zeit. Wenn heute, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Juden in Europa wieder um ihre Sicherheit fürchten und um ihr Leben bangen, dann muss uns das verstören und wachrütteln.

Wir müssen gegen die Angst zusammenstehen, uns nicht anstecken lassen von dem Hass etwa der Attentäter von Paris, nicht dem Hass mit noch mehr Hass begegnen und nicht auf Gewalt mit noch mehr Gewalt antworten. Wir müssen all jenen die Stirn bieten, die Hetze betreiben und Menschen gegeneinander in Stellung bringen. Wir müssen ein wachsendes Misstrauen bekämpfen, die Freiheit aller verteidigen und die Würde eines jeden Menschen schützen.

 

Die Fragen stellte Michael Bröning.