Am vergangenen Donnerstag hat das Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil in Sachen Klimawandel, Freiheit und Menschenrechte gesprochen. Ausgehend vom ersten von vier entschiedenen Verfahren (in dem die Verfasserin und der Verfasser die Klägerseite vertraten) kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Klimawandel eine doppelte Gefährdung für die Freiheit darstellt: Sowohl der Klimawandel als auch die Klimapolitik können für die menschenrechtlichen Freiheitsgarantien höchst relevant werden. Und Freiheitsrechte sind etwas, das auch zukünftigen Generationen und Menschen weltweit – nicht nur in Deutschland – zusteht.

Der Gesetzgeber muss daher den Weg zu Nullemissionen – die das Gericht als verfassungsrechtliches und völkerrechtliches Erfordernis betrachtet – so vorausschauend und freiheitsfreundlich wie möglich organisieren. Dabei muss jede Generation einen angemessenen Beitrag leisten, wenn der Komplettumstieg auf nicht fossile Energieträger – in Bereichen wie Stromerzeugung, Gebäudewesen, Verkehr, Zementherstellung, Kunststoffe und Landwirtschaft – und die massive Reduktion der Viehhaltung rechtzeitig gelingen sollen. Nach dem Urteil ist das im Pariser Abkommen vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, jedenfalls auf dem besten Wege, eine verfassungsrechtlich verbindliche Norm zu werden.

Das Bundesverfassungsgericht machte deutlich: Der Gesetzgeber darf nicht zulassen, dass das vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) errechnete Restbudget für Treibhausgasemissionen innerhalb der nächsten paar Jahre aufgebraucht wird, wie die deutsche Regierung es mehr oder weniger vorhatte. Das Gericht verpflichtete die Regierung formell, die Emissionsreduktionsziele für die Zeit nach 2030 konkreter festzulegen.

De facto wird die Regierung jedoch ihre gesamte Klimapolitik – nicht nur das Klimaschutzgesetz – auf den Prüfstand stellen müssen, weil Deutschlands Budget andernfalls eben nach wenigen Jahren komplett aufgebraucht wäre. Die Bundesregierung hat stets camoufliert, dass ihre Klimaschutzbemühungen mit dem deutschen Emissionsbudget nicht vereinbar sind – unabhängig von den teils kontroversen Fragen danach, wie genau dieses Budget berechnet wird.

De facto wird die Regierung jedoch ihre gesamte Klimapolitik auf den Prüfstand stellen müssen.

In dem ersten der vier entschiedenen Verfahren, das vom Solarenergie Förderverein Deutschland (SFV), dem BUND und Einzelklägern wie Josef Göppel, Hannes Jaenicke und Volker Quaschning angestrengt wurde, haben wir nicht einmal einen besonders expliziten Budgetansatz gewählt. Wir haben kein genaues Budget berechnet und in unserer Klage sogar darauf hingewiesen, dass das vom IPCC angegebene Budget immer noch zu groß ist.

Das liegt nicht nur an naturwissenschaftlichen Fakten, die zum Beispiel mit der Klimasensitivität zu tun haben, sondern dafür gibt es auch rechtliche Argumente: Der Budgetansatz des IPCC basiert auf der Annahme, dass es nur zu 50 bis 67 Prozent wahrscheinlich zu sein braucht, dass die Obergrenze von 1,5 Grad Celsius eingehalten werden muss. Angesichts der Verbindlichkeit des Pariser Klimaziels ist dies in keiner Weise überzeugend. Emissionsneutralität muss daher deutlich vor 2040 und erst recht deutlich vor 2050 erreicht werden.

Natürlich gibt es auch die umgekehrte Kritik am Emissionsbudgetansatz des IPCC, basierend auf dem Glauben, dass vor allem die nächste Generation eine höhere Last werde tragen müssen als die heutige, weil der Klimaschutz möglicherweise billiger und einfacher werde. Das war der Standpunkt, auf den sich seit der Präsidentschaft von George W. Bush die US-Regierungen stellten – zumindest bis Januar 2021. Doch erscheint das wenig plausibel. Vor allem die volkswirtschaftlichen Folgen des Klimawandels verursachen gewaltige Kosten und haben verheerende soziale Verteilungswirkungen.

Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht durchaus erkannt, dass sich wegen der unsicheren heutigen Kenntnislage kein genaues Emissionsbudget angeben lässt. Doch diese Genauigkeit war für das Urteil des Gerichts nicht erforderlich.

Welche Maßnahmen muss die nächste deutsche Bundesregierung, deren Wahl im Herbst ansteht, ganz oben auf ihre Agenda setzen? Die wichtigste Aufgabe wird sein, dass endlich aufgehört wird, aus einer rein deutschen Perspektive heraus zu agieren. Deutschland muss in der EU sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, statt in der EU wie bisher klimapolitisch auf die Bremse zu treten. Wir brauchen keine bessere CO2-Bepreisung für Deutschland, sondern eine bessere CO2-Bepreisung auf EU-Ebene. Dort muss Deutschland der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen Druck machen.

Vor allem die volkswirtschaftlichen Folgen des Klimawandels verursachen gewaltige Kosten und haben verheerende soziale Verteilungswirkungen.

Wir brauchen bis 2035, 2030 oder früher null Emissionen weltweit und null fossile Brennstoffe in allen Wirtschaftszweigen, einschließlich der Bereiche Landwirtschaft, Kunststoffe und Zement. Dies wird die Gretchenfrage für die neue Bundesregierung sein: Ist sie bereit, auf europäischer Ebene die richtige Rolle zu spielen und (finanzielle) Lösungen zu finden, bei denen auch die Länder des globalen Südens eingebunden werden.

Direkte Auswirkungen auf andere Länder hat das Klimaurteil nicht, aber mit Sicherheit wird es international mit Interesse zur Kenntnis genommen werden, weil das Bundesverfassungsgericht ein hohes Renommee genießt und mit seiner Entscheidung das bisher weitreichendste Urteil weltweit gesprochen hat. Ähnliche Entscheidungen sind definitiv auch in anderen Ländern denkbar.

Zum Teil baut das Verfassungsgerichtsurteil auf einem vergleichbaren niederländischen Urteil auf. Es geht jedoch darüber hinaus. Der ganze Rechtsansatz und die beiden Urteile tragen der Tatsache Rechnung, dass die EU klimapolitisch bereits aus eigenem Antrieb einen Gang höher geschaltet und neue Klimaziele festgelegt hat – unabhängig von Grundrechtsverfahren. Deutschland ist also aufgerufen, nicht auf der Bremse zu stehen, sondern noch mehr Ehrgeiz einzufordern.

Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich eine ähnliche Beschwerde abgewiesen. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – einer Institution des Europarates – sind indes einschlägige Verfahren anhängig. Es kann auch sein, dass die Beschwerdeführer in unserem ersten Klimaprozess, der jetzt in Karlsruhe entschieden wurde, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Wir freuen uns sehr über das Urteil, aber angesichts der oben erwähnten Kritik am Budgetansatz des IPCC geht es in Sachen Klimaschutz nicht weit genug.

So oder so wird die Entscheidung enorme Auswirkungen auf Gerichtsverfahren haben, in denen es um Einzelprojekte geht – etwa um die Genehmigung und den Fortbestand von Braunkohletagebauen. Die Chancen, dass Braunkohleunternehmen in Deutschland eine Genehmigung erhalten, sind auf einen Schlag drastisch gesunken.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld