Deutschland fördert den Bau einer Halbleiterfabrik in Dresden mit fünf Milliarden Euro, während der Bund und Schleswig-Holstein 700 Millionen Euro in die Batteriezell-Gigafabrik von Northvolt investieren. Schlagzeilen wie diese prägen die europäische Presse und sorgen für kontroverse Diskussionen. Grundsätzlich sind Staatsbeihilfen nach EU-Recht verboten, doch seit der Coronakrise wurden die entsprechenden Regeln gelockert. Dies markiert einen Paradigmenwechsel in der Industriepolitik: Statt auf horizontale, branchenübergreifende Maßnahmen zur Schaffung gleicher Rahmenbedingungen setzt die Politik nun verstärkt auf gezielte vertikale Fördermaßnahmen, die einzelne Schlüsselindustrien direkt unterstützen.
Kritiker gezielter Fördermaßnahmen argumentieren, dass der Staat kein guter Unternehmer sei und dass solche Eingriffe den Markt verzerren könnten. Sie plädieren daher dafür, auf die Unterstützung einzelner Branchen oder Unternehmen zu verzichten und stattdessen den Marktkräften freien Lauf zu lassen. Diese Sichtweise prägte über lange Zeit die Ausrichtung der Industriepolitik in der EU und anderen großen Volkswirtschaften, die sich vor allem auf branchenübergreifende, horizontale Maßnahmen konzentrierten.
Inzwischen setzen China, die USA und zunehmend auch Europa auf eine gezielte industriepolitische Förderung strategisch wichtiger Branchen. Die folgenden vier Punkte verdeutlichen, warum der Fokus auf vertikale Industriepolitik angesichts aktueller Herausforderungen sinnvoll ist und wie die EU mögliche Risiken abfedern kann.
Erstens: Wer auf den Märkten der Zukunft an der Spitze stehen will, muss Schlüsseltechnologien frühzeitig entwickeln und gezielt ausbauen. Oft sind die dafür notwendigen Investitionen mit langen Zeithorizonten und hoher Unsicherheit verbunden. Für private Investoren bedeutet dies ein erhebliches Risiko bei oft ungewissen Profitaussichten. Um diese Hürde zu überwinden, können staatliche Investitionen eine entscheidende Rolle spielen – wie die Erfindung des Internets oder Erfolge in der Raumfahrt zeigen. Ein breit aufgestelltes Portfolio öffentlicher Investitionen in vielversprechende Technologien ermöglicht es, Erfolge zu fördern und Misserfolge abzufedern. Auf diese Weise schließt der Staat eine Lücke bei hochriskanten zukunftsweisenden Innovationen und schafft die Grundlage, damit der private Sektor von modernsten Technologien profitieren kann.
Russlands Angriffskrieg hat die Abhängigkeit vieler EU-Mitgliedstaaten von russischem Gas schmerzhaft offenbart.
Zweitens: Angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen ist die gezielte Förderung strategisch wichtiger Industrien unerlässlich. Russlands Angriffskrieg hat die Abhängigkeit vieler EU-Mitgliedstaaten von russischem Gas schmerzhaft offenbart. Ebenso hat die Erkenntnis einer wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von Ländern wie China das Ziel der strategischen Autonomie auf die EU-Agenda gebracht. Diese politische Zielsetzung wird in der Regel jedoch nicht von Unternehmen in Entscheidungsprozessen berücksichtigt. In einer Umfrage unter deutschen Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten, die im produzierenden Gewerbe tätig sind, gaben 23 Prozent an, darüber nachzudenken, ihre Produktion nach China zu verlagern. Die in Deutschland traditionell starke Chemieindustrie ist ein Beispiel für eine strategisch wichtige Branche, die sich zunehmend in Richtung China orientiert. Das verdeutlicht, dass eine rein horizontale Industriepolitik Gefahr läuft, riskante Handelsabhängigkeiten aufzubauen.
Drittens: Subventionen und protektionistische Maßnahmen der Konkurrenz zwingen Europa zunehmend zu einer aktiven Industriepolitik. Die EU steht vor Handelsbeschränkungen, Zöllen und gezielter Subventionspolitik in China und den USA. Besonders der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) setzt die europäische Wirtschaft unter Druck: Laut einer Studie gaben 38 Prozent der deutschen Unternehmen im produzierenden Gewerbe an, aufgrund des IRA ihre Investitionsentscheidungen in Deutschland und Europa zu überdenken. Auch China greift massiv in den Markt ein, indem es nationale Unternehmen subventioniert und so die Preise auf wichtigen Exportmärkten künstlich senkt – etwa bei Elektroautos. Um in diesen strategischen Branchen wettbewerbsfähig zu bleiben, ist es für Europa notwendig, gezielte Fördermaßnahmen bereitzustellen und auf eine faire Wettbewerbsumgebung hinzuwirken.
Viertens: Neu entstehende Branchen in wirtschaftlich schwächeren Regionen benötigen zeitlich begrenzten Schutz vor dem freien Markt, um sich nachhaltig entwickeln und international wettbewerbsfähig werden zu können. Obwohl die EU eine Angleichung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse anstrebt, bestehen weiterhin erhebliche Unterschiede in Technologie, Infrastruktur, Fachkräfteausbildung und anderen Standortfaktoren.
Aufstrebende Branchen in vielen EU-Regionen können im freien Wettbewerb oft nicht mithalten – insbesondere in Sektoren, in denen technologische Innovationskraft wichtiger ist als reine Kostenvorteile. So bieten südeuropäische Regionen aufgrund der guten Verfügbarkeit von Sonnenenergie zwar wirtschaftliche Potenziale für energieintensive Industrien, doch bleiben diese häufig ungenutzt. Gründe dafür sind unter anderem Netzwerkeffekte und die Standortvorteile etablierter Regionen. Eine gezielte, zeitlich begrenzte staatliche Förderung kann diesen Branchen helfen, ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit auszubauen und sich langfristig am Markt zu behaupten.
Aufstrebende Branchen in vielen EU-Regionen können im freien Wettbewerb oft nicht mithalten.
Doch wie kann eine vertikale Industriepolitik gestaltet werden, die ihre Vorteile nutzt, aber gleichzeitig das Risiko ineffizienter staatlicher Investitionsentscheidungen minimiert? Ein häufiges Gegenargument gegen gezielte Förderung ist, dass Regierungen nicht immer die richtigen Unternehmen oder Technologien auswählen. Um dieses Risiko zu reduzieren, sollten Fördermaßnahmen an klare Bedingungen geknüpft, marktbasierte Mechanismen integriert und verschiedene Interessengruppen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Staatliche Unterstützung kann einer gesamten Branche zur Verfügung gestellt und dann kontinuierlich neu evaluiert werden. Die Fortführung der Unterstützung ist dann an das Erreichen von vorher definierten Zielen gebunden, die sich zum Beispiel auf Produktivität und Marktanteile oder sozial-ökologische Aspekte beziehen können. Alle Unternehmen, die die definierten Ziele nicht im Ansatz erreichen, bekommen nach einem gewissen Zeitraum keine weitere staatliche Förderung.
Dieser Ansatz, der im industriellen Aufstieg ostasiatischer Länder eine entscheidende Rolle spielte, schafft einen Race to the Top-Wettbewerb, bei dem nur die besten Unternehmen bestehen, und sichert die Effektivität der Förderungen. Wo weiterhin auf eine Förderung im Voraus gesetzt wird, sollten Marktmechanismen die Auswahl von förderungswürdigen Unternehmen oder Projekten bestimmen, zum Beispiel durch Auktionen, bei denen das beste Angebot den Zuschlag erhält.
Bestehende Beispiele dafür sind die Hydrogen Bank oder die Auktionen für erneuerbare Energien. Die Hydrogen Bank nutzt EU-weite Auktionen, um Finanzmittel an die effizientesten und zukunftsfähigsten Projekte zu vergeben und gleichzeitig staatliche Unterstützung auf das notwendige Minimum zu begrenzen.
Wichtig ist jedoch, dass die Vergabekriterien in den Auktionen nicht rein preislicher Natur sind. Belohnt werden sollen nicht nur die günstigsten Angebote, sondern Projekte, die auch soziale, ökologische oder strategische Ziele unterstützen. Ein Beispiel dafür sind Auktionen für erneuerbare Energien, für die der Net-Zero Industry Act der Europäischen Union Vorgaben für den Anteil nicht-preislicher Vergabekriterien macht. Dieser Ansatz stellt sicher, dass die positiven Kräfte des Wettbewerbs für alle Ziele der vertikalen Industriepolitik wirken.
Belohnt werden sollen nicht nur die günstigsten Angebote, sondern Projekte, die auch soziale, ökologische oder strategische Ziele unterstützen.
Um alle relevanten Akteure in wichtige industriepolitische Entscheidungen einzubinden, ist eine mehrstufige Governance-Struktur mit einem ortsbezogenen Ansatz anstelle eines rein zentralisierten Vorgehens entscheidend. Diese Struktur ermöglicht es, Expertise und Entscheidungsprozesse auf verschiedene Ebenen zu verteilen und regional angepasste Entscheidungen zu treffen. Durch die Einbindung verschiedener Akteure kann der Staat besser auf die spezifischen Bedürfnisse und Stärken der Unternehmen und Regionen eingehen und die Gefahr reduzieren, „auf die falschen Pferde zu setzen“.
Zunächst müssen industriepolitische Verantwortlichkeiten innerhalb der Europäischen Kommission gebündelt werden, um ein effektives, koordiniertes Vorgehen zu gewährleisten. Aktuell sind sie über verschiedene Generaldirektionen verteilt, was einen kohärenten Ansatz behindert.
Zudem ist es von großer Bedeutung, dass Regionen und Mitgliedstaaten eine aktivere Rolle in der Gestaltung und Umsetzung der Industriepolitik übernehmen. Eine zentralisierte, rein top-down-gesteuerte Industriepolitik kann die Heterogenität der europäischen Wirtschaft nicht ausreichend berücksichtigen. Regionale Akteure verfügen über lokales Wissen und spezifische Kompetenzen, die notwendig sind, um das Potenzial von Unternehmen besser einschätzen zu können.
Eine solche Multi-level Governance-Struktur sollte auf den Prinzipien der Effective Governance basieren, mit Entscheidungen auf solider Evidenzbasis und aktiver Beteiligung. Außerdem sind die richtigen Kapazitäten und Kompetenzen innerhalb der Administration unabdingbar, um eine inklusive und wirksame Governance zu gewährleisten.
Das Streben nach strategischer Autonomie, die Sorgen um Europas Wettbewerbsfähigkeit und die Dringlichkeit einer grünen und gerechten Transformation verleihen der vertikalen Industriepolitik in der EU neue Bedeutung. Angesichts der ernst zu nehmenden Risiken von vertikaler Industriepolitik benötigt die EU eine industriepolitische Strategie, die diese Risiken adressiert, die aber gleichzeitig die Vorteile vertikaler Industriepolitik nutzt.
Dies beinhaltet nicht nur die Auswahl von Branchen mit strategischer Bedeutung, sondern auch industriepolitische Instrumente, die den Staat als guten Unternehmer und kosteneffizient agieren lassen. So könnte die EU im nächsten Mandat von 2024 bis 2029 strategisch autonom werden, ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken, ökonomische Konvergenz zwischen Regionen und Mitgliedstaaten fördern und dem eigenen Anspruch gerecht werden, Vorreiter einer grünen und gerechten Transformation zu sein.