Im Jahr 1999 begannen die Verhandlungen für ein biregionales Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten, das auf drei Säulen basierte: politischer Dialog, Zusammenarbeit und Handel. Das Abkommen, das 20 Jahre später schließlich als „politisches“ Abkommen unterzeichnet wurde, bezog sich jedoch fast ausschließlich auf den Handel. Als Gegenleistung für eine Marktöffnung erhielten die Mercosur-Länder lediglich zugesicherte Importquoten. Widerstände in Europa, vor allem aus der Landwirtschaft sowie klimapolitische Bedenken, führten jedoch schließlich zu Nachverhandlungen.

Während dieser sechs Verhandlungsrunden änderten sich die globalen Rahmenbedingungen erheblich. Die EU wurde zunehmend mit den Abhängigkeiten konfrontiert, die sich in Zeiten der Globalisierung entwickelt hatten, insbesondere in den Bereichen Energie (Russland), Sicherheit (USA/NATO) und Technologie (China). Angesichts dieser Herausforderungen sucht die EU nun verstärkt nach Autonomie und versucht, sich als middle power in einer zunehmend polarisierten geopolitischen Welt neu zu positionieren. In diesem Kontext rückte Lateinamerika wieder in den Fokus – als rohstoffreicher Subkontinent, der über das Gros der weltweiten Lithiumvorhaben zur Batterieproduktion verfügt und von seltenen Erden bis zu erneuerbarer Energie zur Produktion von grünem Wasserstoff viel zu bieten hat. Selbst kulturelle Wurzeln wurden bei der Fachkräftesuche neu entdeckt, denn Integration ist einfacher, wenn es in puncto Werte und Religion Übereinstimmungen gibt.

Lateinamerika erfuhr so ungewohnte Beachtung und dies nicht nur seitens der EU, sondern auch aus China und den USA. Man gewann neues Selbstbewusstsein, wobei Brasilien – als Filetstück aller Kooperationsbemühungen – seit dem Amtsantritt von Präsident Lula da Silva deutlich den Ton angibt. Ihm ist es nun gelungen, das am längsten verhandelte Abkommen der Welt abzuschließen, womit er seine globale und regionale Führungsrolle unterstreicht. Darüber hinaus kann der Abschluss als ein Mittel gesehen werden, den Zusammenhalt des regionalen Blocks zu sichern, insbesondere angesichts der Rückzugsdrohungen des argentinischen Präsidenten Javier Milei. Und schließlich wurde der Behauptung entgegengetreten, der Mercosur sei unfähig, die Verhandlungen erfolgreich abzuschließen, was seine Glaubwürdigkeit untergrub.

Das Abkommen, das pünktlich zum Nikolaustag unterzeichnet wurde, bleibt jedoch weiterhin in Teilen undurchsichtig. Forderungen nach mehr Transparenz und Partizipation wurden offenbar nicht erfüllt. Nach Angaben der brasilianischen Regierung sind die Inhalte aller Kapitel vollständig ausgehandelt und vereinbart. Der Vertragstext wird derzeit juristisch überarbeitet und übersetzt und geht dann in die Ratifizierung.

Bekannt ist, dass das Angebot der Europäischen Union zur Handelsöffnung für Waren im Wesentlichen unverändert gegenüber dem Abkommen von 2019 bleibt. Der Marktzugang für zentrale Mercosur-Exportgüter wurde nicht erweitert. Produkte wie Fleisch, Reis, Zucker, Honig, Ethanol und Orangensaft unterliegen weiterhin Importquoten. Dies kann demnach nicht der ausschlaggebende Grund für die überraschende Einigung gewesen sein. Vereinbarungen über das, was die Lula-Regierung das „Brasilia-Paket“ nennt, waren eher der Schlüssel dazu. In diesem Zusammenhang sind drei wesentliche Neuerungen hervorzuheben:

Umweltschutzauflagen des von der EU 2023 vorgelegten Zusatzprotokolls wurden gestrichen.

Erstens: Das Handelskapitel „Handel und nachhaltige Entwicklung“ wurde geändert. Die Umweltschutzauflagen des von der EU 2023 vorgelegten Zusatzprotokolls wurden gestrichen und auf die Forderung nach Einhaltung bestehender internationaler Verpflichtungen beschränkt, wie des Pariser Abkommens und des Übereinkommens über die biologische Vielfalt. Eingeführt wurde der Begriff der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung, ebenso wie die Verpflichtung, dass umweltpolitische Maßnahmen keine unnötigen Handelshemmnisse darstellen dürfen. Was Umweltschützer beunruhigt, stellt für Brasilien einen Punktsieg dar. Denn viele Importeinschränkungen des Zusatzprotokolls waren als „grüner Protektionismus“ kritisiert worden. Wer Glyphosat exportiere, solle nicht die alleinige Hoheit über Umweltzertifizierungen haben. Die Mercosur-Länder zertifizieren nun souverän und unter Einhaltung von gemeinsamen geltenden Umweltvorschriften in der Produktion. Auch mit der Vereinbarung über „nachhaltige Wertschöpfungsketten für die Energiewende“ wurde Neuland betreten. Sie sieht die Möglichkeit vor, den Export kritischer Mineralien für die Energiewende einzuschränken mit dem Ziel, die Wertschöpfung vor Ort zu erhöhen. Damit setzt der Mercosur ein Zeichen, nicht nur Rohstoffexporteur sein zu wollen, sondern das Anrecht auf Entwicklung, Beschäftigung und (Re-)Industrialisierung einzufordern.

Zweitens: Der Schutz des Automobilsektors des Mercosur wurde im Vergleich zu den 2019 ausgehandelten Bestimmungen erhöht. Die Fristen für die Handelsliberalisierung werden von 15 auf 18 bis 30 Jahre verlängert, abhängig vom Innovationsgrad der Fahrzeuge. Zudem erlaubt eine neue Klausel, zollfreie Einfuhren für bis zu fünf Jahre ohne Entschädigung auszusetzen, falls sie den Absatz der lokalen Automobilindustrie beeinträchtigen. Hierbei steht der Schutz von Arbeitsplätzen im Vordergrund. Zudem wurde ein noch nie dagewesenes Kapitel eingeführt, das Regelungen für Kompensationen bei gewährten Zugeständnissen vorsieht. Dies betrifft Fälle, in denen etwa Subventionen den Wettbewerb verzerren und den Gewinn einer Vertragspartei mindern. Ein Schiedsverfahren soll über das Ausmaß der Beeinträchtigung sowie geeignete Maßnahmen zur Abhilfe entscheiden.

Drittens: Eine weitere wesentliche Neuerung betrifft die Lockerung der Anforderungen im öffentlichen Beschaffungswesen. Insbesondere im Falle Brasiliens wird damit die Möglichkeit geschaffen, staatliche Aufträge gezielt zur Förderung der nationalen Industrie, von Klein- und Mittelunternehmen, der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie für technologische Innovationen einzusetzen. Darüber hinaus ist das öffentliche Beschaffungswesen im Gesundheitssektor besonders geschützt.

Die Bewertung dieser Entwicklungen ist aufgrund der unvollständigen Informationslage schwierig. So ist beispielsweise das ursprüngliche Marktzugangsangebot des Mercosur nicht bekannt und wird vermutlich auch nie offengelegt werden. Auf der anderen Seite blieb die EU strikt bei ihrem Angebot zur Handelsöffnung und wich in dieser Hinsicht keinen Millimeter ab. Gleichzeitig zeigte sie jedoch Bereitschaft, von Umweltauflagen zurückzutreten und den Mercosur-Staaten Spielraum für Industriepolitik im Automobilsektor und im öffentlichen Beschaffungswesen einzuräumen.

China hat sich in der Region als führender Handelspartner, bedeutender Kreditgeber und Investor etabliert.

Wie sich diese Vorteile für den Mercosur auswirken werden, ist unklar. In der langen Geschichte der Verhandlungen agierte der Mercosur immer auf der Grundlage der Summe nationaler Interessen. Sollte dieses Abkommen tatsächlich einen Wendepunkt markieren, dann möglicherweise in der Hinwendung zu einer stärkeren regionalen Politikgestaltung. Dies könnte die Grundlage schaffen, die Vorteile des Abkommens optimal zu nutzen und die vielfältigen Auswirkungen gemeinsam zu bewältigen.

Sollte jedoch keine Einigung innerhalb des Mercosur erzielt werden, droht ein anderes Szenario. Da es innerhalb des Blocks keine supranationale Entscheidungsstruktur gibt, könnte ein vorläufiges Inkrafttreten des Abkommens – zwischen der EU und einzelnen Mercosur-Staaten, die es ratifizieren – zu einer Spaltung des regionalen Marktes führen. Dieses Risiko unterstreicht die Bedeutung einer geschlossenen und koordinierten Vorgehensweise innerhalb des Mercosur.

Warum war die EU bereit, Zugeständnisse zu machen? Die geopolitischen Rahmenbedingungen lassen immer weniger Spielraum. China hat sich in der Region als führender Handelspartner, bedeutender Kreditgeber und Investor etabliert. Peking lieferte – ebenso wie Russland – Covid-Impfstoffe, als Europa dies nicht tat, und baut seine „Neue Seidenstraße“ in Form von Häfen und Bahntrassen weiter aus. Gleichzeitig werfen die möglichen Folgen einer zweiten Amtszeit von Donald Trump, einschließlich eines drohenden Handelskriegs, ihre Schatten voraus. Angesichts dieser Entwicklungen war es für Europa an der Zeit, ein starkes Zeichen zu setzen – auch gegen nationalistischen Widerstand innerhalb der EU.

Mit dem Abkommen eröffnet sich die EU den Zugang zu einem 260 Millionen Einwohner umfassenden Markt. Dass Bolivien – ein Land, das über 21 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen verfügt – dieses Jahr Vollmitglied des Mercosur wurde, dürfte zudem motiviert haben. Das Abkommen kann als erster wichtiger Schritt in Richtung einer echten Partnerschaft mit einer Region gesehen werden, die mit der EU Werte wie Demokratie und Multilateralismus teilt. Es könnte den Beginn einer Neuausrichtung markieren – weg vom rein handelspolitischen Fokus, hin zu einer umfassenderen Assoziierung, die auf den Säulen von Dialog, Kooperation und einer Partnerschaft auf Augenhöhe basiert. Ein Anfang ist gemacht.