Im vergangenen Jahrzehnt wurde die Volksrepublik China zur führenden Nation bei der Entwicklung, Produktion und beim Absatz von „Grünen Technologien“ – Photovoltaik, Windenergie, Elektroautos und Batterien. So wurden dort 2023 über 80 Prozent der globalen Photovoltaik-Module und Batteriezellen für Elektroautos weltweit produziert. Damit läuft Chinas grüne Transformation ganz nach dem 1996 ausgerufenen Entwicklungsplan für erneuerbare Energien. Gleich mehrere Zielvorstellungen waren­­­­­ damit verbunden: Neben Maßnahmen zum Umweltschutz und zur Abmilderung des Klimawandels war dies vor allem ein Aufsteigen von Chinas Industrien in den globalen Wertschöpfungsketten, die anspruchsvolle und höher entlohnte Arbeitsplätze mit sich bringen sollten. Gleichzeitig sollten durch die Lokalisierung von Wertschöpfungsketten Produktionskosten gesenkt werden, um so die „grünen“ Alternativen wettbewerbsfähig gegenüber ihren fossilen Konkurrenten zu machen. Dies sollte die Nachfrage ankurbeln und die Grundlagen für einen grünen Markt schaffen. Das chinesische politische System erlaubt es durchaus, gezielt gesetzliche Einschränkungen für fossile Energieträger mit staatlichen Förderungen für grüne Technologien abzustimmen und so eine hohe Dynamik zu initiieren.

Chinas globale Marktdominanz bei erneuerbaren Energien sieht die politische Elite der EU als Ergebnis von Marktverzerrungen durch unfaire staatliche Subventionen. Neben Strafzöllen für Importe von chinesischen E-Autos diskutiert sie derzeit ihre Wiedereinführung für chinesische Photovoltaik-Module. 2013 wurden sie schon einmal eingeführt und 2018 wieder abgeschafft. Sie führten nicht zu den erhofften europäischen technologischen Innovationen und Produktionssteigerungen. Viele deutsche Solarhersteller meldeten Insolvenz an.

Vorbei an der Diskussion geht, dass China nicht nur der größte Produzent, sondern mittlerweile auch Anwender beziehungsweise Markt für Grüne Technologien ist. Der Großteil der grünen Produkte, die in China hergestellt werden, wird mittlerweile auch dort nachgefragt – Tendenz steigend. So vervierzehnfachte sich Chinas lokal installierte Solarkapazität zwischen 2015 und 2023 von 44 Gigawatt auf 610 Gigawatt. China kann heute mehr als doppelt so viel Solarstrom produzieren wie die Europäische Union und viermal so viel wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Setzt China seinen Kurs fort, könnten seine installierten Solarkapazitäten um das Jahr 2030 den Strombedarf der gesamten USA decken.

Der Großteil der grünen Produkte, die in China hergestellt werden, wird mittlerweile auch dort nachgefragt – Tendenz steigend.

Den grünen Strom benötigt China aber dringend für sich selbst. Es wird geschätzt, dass das Land 2025 10 500 Terawattstunden Elektrizität verbrauchen wird, die USA 4 500 Terawattstunden, die EU 2 700 Terawattstunden. Der Ausbau von sauberer und erneuerbarer Energie half, den Anteil der Kohleverstromung in China im Mai 2024 auf ein Rekordtief von 53 Prozent zu drücken. Derzeit bleibt die Deckung des steigenden chinesischen Energiebedarfs aber noch auf Kohleverstromung angewiesen – dem zentralen Faktor für die immensen CO2-Emissionen des Landes. Sowohl die natürlichen Schwankungen der Strommengen bei erneuerbaren Energien als auch ihr verlustreicher Transport über weite Strecken stellen Herausforderungen dar. Bis zur Klimaneutralität Chinas ist es also noch ein weiter Weg.

Das Beispiel von Ultrahochspannung zeigt jedoch, dass Chinas politische Elite es mit der grünen Wende ernst meint. Anfang der 2000er Jahre wurden erste Pilotprojekte zur großangelegten Nutzung von Solar- und Windkraft in Chinas wenig entwickeltem Westen, der gleichwohl reich an Wind und Sonne ist, errichtet. Die produzierte grüne Energie sollte zum einen dortige Regionen, in denen viele Haushalte noch immer ohne Stromversorgung auskommen mussten, elektrifizieren und dort für höheren Wohlstand sorgen. Zum anderen sollte der im Westen produzierte Strom den weit entfernten industrialisierten Südosten versorgen, dort werden etwa 70 Prozent des Stroms in China nachgefragt. Diese Situation ist jedoch problematisch: Die angepeilten Produktionsstätten liegen bis zu 3 000 Kilometer von ihren wichtigsten Verbrauchern entfernt. Über solche großen Distanzen ergibt Stromtransport aber keinen Sinn, die Verluste sind zu groß.

Daher wurden in China Pläne für ein neu zu entwickelndes landesweites Netz an Ultrahochspannungsleitungen entworfen. Denn der Energieverlust einer Ultrahochspannungsleitung mit 1 000 Kilovolt beträgt nur ein Drittel des Energieverlustes einer Höchstspannungsleitung mit 500 Kilovolt. Das beinahe dreimal höhere Übertragungsvermögen ermöglicht zudem eine größere Reichweite und benötigt auch weniger Platz. Nach erfolgreichen Tests, an denen auch die europäischen Elektronikunternehmen ABB und Siemens beteiligt waren, baut China seit 2015 eine Ultrahochspannungsleitung nach der anderen. Geht alles nach Plan, transportieren Ende des Jahres 2024 beinahe 52 000 Kilometer Ultrahochspannungsleitungen auch erneuerbaren Strom aus abgelegenen Gebieten in die Verbraucherzentren im Osten.

Der Aufbau eines nationalen Ultrahochspannungsnetzes war dennoch eine waghalsige Idee. Anfang der 2000er Jahre gab es weltweit nur sehr begrenzt kommerzielle Anwendungen. Die ehemalige Sowjetunion war in den 1970ern und 1980ern der Vorreiter in der Erforschung und Anwendung dieser Technologie. Auch die USA begannen in den 1970ern mit der Erforschung von Ultrahochspannungsleitungen und erarbeiteten Pläne für deren Netzaufbau. Eine Umsetzung erfolgte allerdings nie. Mit dem anvisierten Ultrahochspannungsleitungsnetz von 1 000 Kilovolt betrat China technologisches Neuland, auch bei der Übertragungskapazität, aber vor allem der enormen Dimension.

Das Problem der geografischen Trennung von Erzeugungs- und Verbrauchsregionen kennt auch Deutschland.

Das Problem der geografischen Trennung von Erzeugungs- und Verbrauchsregionen kennt auch Deutschland: Offshore-Windkraftanlagen in der Nordsee generieren erneuerbaren Strom, doch der wichtigste Abnehmer ist die Industrie in Süddeutschland. Die Transportkapazität von Nord nach Süd ist jedoch unzureichend, mit der Folge, dass erhebliche Strommengen ungenutzt verpuffen. Laut Bundesregierung fehlen in Deutschland 18 000 Kilometer Höchstspannungsnetz mit 380 Kilovolt Wechselstrom. Neue „Stromautobahnen“ wie der „SuedOstLink“ und der „SuedLink“ sollen da Abhilfe schaffen und dazu beitragen, die Versorgung von mehreren Millionen Privathaushalten und Unternehmen in Süddeutschland zu sichern. Der SuedOstLink sollte bereits seit 2022 mit einer Leistungskapazität von 2 000 Megawatt auf einer Spannung von 525 Kilovolt erneuerbare Energie durch das Land transportieren. Seine Fertigstellung ist auf das Jahr 2027 verschoben, die des SuedLinks auf 2028.

Wie in anderen Bereichen der grünen Wende verfolgte China auch bei Ultrahochspannungsleitungen eine Politik, die gleich mehrere Entwicklungsziele anstrebt: Die Elektrifizierung rückständiger Regionen schafft zugleich Chancen für Unternehmen in der lokalen Solar- und Windkraftindustrie und legt die Grundlage für die Versorgung der Industriezentren mit grünem Strom. Der Bau eines Ultrahochspannungsnetzes wurde unter anderem bewilligt, um Innovationen der heimischen elektrischen Anlagenindustrie und ihre Skalierung anzutreiben. Die enormen staatlichen Aufträge in den nächsten Jahren kann sie nun mit heimischem Know-how und Personal bewältigen.

Wie in anderen Bereichen der grünen Wende verfolgte China auch bei Ultrahochspannungsleitungen eine Politik, die gleich mehrere Entwicklungsziele erreicht.

So wurde Chinas Anlagen- und Ausrüstungsindustrie auch im Bereich Ultrahochspannung fit für den globalen Wettbewerb. Das zeigt der Blick nach Chile: Dort soll die Höchstspannungs-Übertragungstechnologie chinesischer Energieunternehmen dafür sorgen, dass in der Atacama-Wüste im Norden erzeugter Solarstrom die 4 000 Kilometer entfernten Ballungszentren des Südens erreicht. 2020 schloss die Empresa CGE, Chiles wichtigster Stromverteiler, mit der State Grid Corporation of China eine Vereinbarung im Umfang von über drei Milliarden US-Dollar ab.

Der Aufbau von Chinas Ultrahochspannungsnetz zeigt: Das Schwellenland China setzt auf einen grün-technologischen Umbau. Die Elektrifizierung wird auf allen Ebenen als Staatsaufgabe gesehen, die entsprechende Industriepolitik ist auf langfristige Entwicklungsziele ausgelegt. Gleichzeitig versucht das Land einen Spagat zwischen sozio-ökologischen Entwicklungszielen und kapitalistischen Methoden beziehungsweise Produktionsweisen. Das brachte für wirtschaftlich Benachteiligte „elektrischen Wohlstand“ und Jobchancen, mehr grünen Strom für Chinas Industrie und die Weltmarktfähigkeit ihrer Produkte als Nebeneffekt. Andererseits steht am Ende der staatlichen Förderung – wie auch bei Elektroautos – ein freier Markt mit brutaler Konkurrenz, den nur die technologisch fortschrittlichsten Unternehmen überleben. Mit negativen Folgen für die Beschäftigten. 

Die chinesische Regierung plant somit für einen grünen Markt, aus dem sie sich zurückzieht, sobald die Innovations- und Produktionskapazitäten aufgebaut sind und Preise für Grüne Technologien unter die für fossile Technologien fallen. Umfassend schafft sie zugleich die öffentlichen Infrastrukturen wie Ladepunkte für E-Autos oder Ultrahochspannungsleitungen, die Grüne Technologien erst effizient nutzbar machen. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, dass es unwahrscheinlich ist, dass Unternehmen in Konkurrenz zueinander über die umfassenden Informationen verfügen und das Profitinteresse haben, die landesweiten Infrastrukturen aufzubauen, die die Anwendung von erneuerbaren Energien erfordern.

Für Europa bedeutet das: Es braucht einen umfassenden, langfristigen Plan, mit welchen konkreten Maßnahmen grüne Innovationen angereizt, Produktionskapazitäten aufgebaut und Nachfrage stimuliert werden kann. Eine neoprotektionistische Politik, die auf Strafzölle setzt und keine Anreize für die Entwicklung eines lokalen grünen Markts schafft, läuft Gefahr, letztlich bestehende fossil-basierte Geschäftsmodelle zu protegieren.